Buch-RezensionDas „System Uni“ durchschauen lernen oder: Wie man sich im Studium nicht verliert
Eine Buchempfehlung von Jens Wernicke
Uni-Angst und Uni-Bluff heute. Wie studieren und sich nicht verlieren.
Hinweis: Die Rezension bezog sich auf die „Urfassung“ des Buches (die hieß „Uni-Angst und Uni-Bluff. Wie studieren und sich nicht verlieren.“). Zur Neuauflage „Uni-Angst und Uni-Bluff heute“ gibt es bei uns noch ein Interview mit dem Autoren Wolf Wagner. In dem zeigt sich, dass der Autor heute teilweise etwas andere Ansichten hat und somit das Buch nicht mehr unbedingt dem entspricht, was in der Rezension hier berichtet wird.
In seinem Buch „Uni-Angst und Uni-Bluff. Wie studieren und sich nicht verlieren“, welches bereits mehreren Generationen von Studierenden Hilfe und Unterstützung gewesen ist, gelangt Wolf Wagner nach pointierter Analyse zu dem Resultat, dass die deutschen Hochschulen zumeist genau das verhindern, was sie eigentlich befördern sollten:
„Eigentlich sollte die Universität die Möglichkeit bieten, zusammen mit anderen interessante Fragen zu untersuchen und in neugierigem Lernen die Welt und die eigene Stellung in ihr besser zu verstehen. Das Problem besteht darin, dass solches Versprechen an der Universität kaum einzulösen ist, dass die universitäre Art, mit Problemen umzugehen, das Interesse vielmehr abtötet, die Neugier eintrocknet und das inhaltliche Gespräch verhindert. Sie produziert Angst, Einsamkeit und Langeweile. Sie entfremdet die Studierenden und Lehrenden vom Stoff, von sich selbst und voneinander. Im Studienverlauf verschärft sich das Problem, statt sich – wie tendenziell in anderen Institutionen – abzumildern. Studentinnen und Studenten reagieren auf diese Situation jeweils unterschiedlich: manche mit Depressionen, andere mit Studienabbruch, wieder andere mit Rückzug in die Unauffälligkeit und manche [...] mit auftrumpfendem Bluff. Die Schwierigkeit, die sich mit solchen unterschiedlichen Reaktionsweisen zu bewältigen suchen, ist aber immer die gleiche: Angst vor der Abwertung als Nichtwissende.“
Die in diesem kurzen Statement angerissenen Gefühle – von Einsamkeit und Isolation bis hin zum Empfinden eigener Ausgrenzung und Minderwertigkeit, Leiden am Lernen, dem Stoff und Leistungsdruck, sich selbst – sind auch heute noch vielen, ja sehr vielen Studierenden bekannt. Nur dass sie meist sich selbst hierfür verantwortlich machen – für ein, wie Wagner meint, doch vielmehr strukturelles denn menschliches oder persönliches Problem.
Das Abtöten der Neugier mit System
Um der an den Hochschulen so forcierten Angst vor potentieller Abwertung und Ausgrenzung als Nichtwissende, „Dümmere“ zu entgehen, flüchten sich viele Studierende in Abwehrmechanismen, die sich zuerst dadurch auszeichnen, dass sie eine klare inhaltliche Auseinandersetzung verhindern. Dies hat eine massive Entfremdung von den Inhalten des Studiums zur Folge. Sie werden fortan nur noch als Mittel zum Zweck – nämlich als Mittel zum Erreichen individuell oder sozial erwünschter akademischer Grade – verstanden.
Das hieraus resultierende Schein-Studium (im doppelten Sinne des Wortes) hat zur Folge, dass die – für Wissenschaft, Forschung und Lernen eigentlich notwendige – intellektuelle Neugier verödet sowie die aktive, wissbegierige Auseinandersetzung mit Inhalten immer seltener wird. Das ist auch der Grund dafür, dass wir heutzutage im universitären Alltag – besonders in den Geistes- und Sozialwissenschaften – zunehmend Langeweile statt Neugier, Isolation statt Kommunikation, Stagnation statt Weiterentwicklung und Formalismus statt lebendigem Inhalt vorfinden.
Der Leidens- und Anpassungsdruck
Der folgende Erfahrungsbericht über den Anpassungs- und Sozialisationsdruck während des Hochschulstudiums dürfte vielen Studierenden nicht unzugänglich sein:
„In den meisten Seminaren schwieg ich und litt darunter. Sagte ich etwas – mit feuchten Händen, klopfendem Herzen und zitternder Stimme –, dann nur, wenn ich mir meiner Sache ganz sicher war. So stellte ich Fragen, die keine Antworten suchten, sondern zeigten, wieviel ich wusste. [...] ich fragte, ohne zu fragen. Mit einer echten Frage hätte ich gezeigt, dass ich tatsächlich etwas nicht wusste, was für meine Wahrnehmung das gleiche war, wie vor dem ganzen Orchester einen falschen Ton zu spielen. [...] Ich lernte Floskeln und Techniken (z.B. „Klar, habe ich das jetzt überspitzt, und man kann das auch anders sehen, aber...“), mit deren Hilfe ich mich kritischen Nachfragen entziehen konnte. Ich beobachtete die Gesichter der anderen Redenden und dasjenige des Dozenten. Jedes Augenbrauenzucken oder bedenkliche Kopfwiegen ließ mich das eben Gesagte wieder zurücknehmen, einschränken oder als auf wenige Fälle beschränkt qualifizieren. Es war ein schwieriger Anpassungsprozeß, denn von der Bedeutung vieler Wörter, die ich nun selbst benutzte, hatte ich nur eine vage Ahnung. Oft kam ich mir wie ein Pilot im Blindflug vor, der nichts von der Wirklichkeit draußen sieht und das Flugzeug nur nach der Anzeige seiner Instrumente steuert, sogar landet. Ganz ähnlich hatte auch ich keine Möglichkeit, selbst zu entscheiden, ob ich etwas Richtiges sagte. Stattdessen richtete ich mich nach den Gesichtern der Dozenten und Vielredner, las an ihnen ab, ob akzeptabel war, was ich sagte. So steuerte ich meinen Redebeitrag wie in einem Sicherheitskorridor zwischen den mimischen Warnsignalen hindurch auf einen Kurs sprachlicher Anpassung. So lernte ich mit der Zeit die universitäre Sprache.“
Kein wissenschaftliches Erkenntnisinteresse mehr
Dabei hat das hier beschriebene Anpassungs- und Abwehrverhalten fatale Auswirkungen nicht nur auf das Verhältnis der Studierenden untereinander und zu ihren DozentInnen, sondern auch auf das Verhältnis der DozentInnen untereinander. Wagners Bericht aus seiner eigenen Zeit als Hochschullehrer dürfte die angespannte Situation der Lehrenden recht treffend beschreiben:
„Die Dozentinnen und Dozenten um mich her[um] – mich eingeschlossen – hatten [...] den inhaltlichen Kontakt zueinander verloren: Weder redeten sie miteinander über das, was sie als Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler taten, noch lasen sie gegenseitig ihre Aufsätze und Bücher. Es gab nirgendwo das Bemühen, ein wirkliches und wichtiges inhaltliches Problem gemeinsam zu lösen. Statt dessen schotteten sie sich voneinander ab, lauerten auf die Schwächen der anderen, lästerten vom Hörensagen, [...] und stritten sich um Mittel und Stellen.“
Mit Wagner steht also zu vermuten: Eine zu wissenschaftlichem Erkenntnisfortschritt notwendige Kommunikation der Forschenden untereinander fand bereits bei Erscheinen des Buches (zuerst 1977) kaum mehr statt. Ja, selbst wissenschaftliche Veröffentlichungen dienen wohl primär dem Karrierefortschritt. Und wissenschaftliche Aufsätze werden in der Regel nicht geschrieben, um gelesen zu werden, sondern „damit sie geschrieben sind, nämlich für die Veröffentlichungsliste. Denn bei Bewerbungen sind die Titel und die Länge dieser Liste wichtiger als der Inhalt irgendeines der aufgeführten Aufsätze.“
Ja, „in der Regel wird [sogar] größte Sorgfalt darauf verwandt, Aufsätze und Bücher gegen jedwede Kritik abzusichern, selbst um den Preis der Langeweile und Aussagelosigkeit. Eigene Aussagen werden nur über Unwiderlegbares gewagt, über eindeutig kontrollierbare Details eines Spezialgebietes. Der Blick auf das Ganze eines Faches, um von dort her den Stellenwert des Themas und seiner Details zu bestimmen, wird systematisch unterlassen, obwohl erst eine solche Zugangsweise den Details Bedeutung geben würde. Da eine Kritik oder Widerlegung nicht als Lerneffekt und erfreulicher Fortschritt, sondern als grauenhafte Niederlage, als öffentliche Hinrichtung empfunden wird, hat sich dies Verfahren eingespielt und durchgesetzt. Und insofern wird die Behauptung der Wissenschaftstheoretiker, in den Veröffentlichungen stelle sich die neue Erkenntnis der öffentlichen Kritik, durch die institutionelle Praxis tagtäglich zum schönen Mythos herabgesetzt.“
Der Kern des Problems:
Subtiler Dogmatismus zur Abschottung vor Kritik
Spätestens ab dieser Tiefenschicht sticht die Brisanz von Wagners Argumentation deutlich hervor, artikuliert er doch letztlich Folgendes: Die aus Angst vor Kritik entstehende wissenschaftliche Pseudokommunikation an deutschen Hochschulen ist einer der wesentlichsten Gründe für das Ausbleiben wissenschaftlichen Fortschritts und gesellschaftlicher Innovation – wie auch für das Auftreten studentischer sowie dozentischer Depression.
Wird (wirkliche) Kritik jedoch zunehmend unmöglich gemacht, steht es nicht nur um Fortschritt, Erkenntnis und persönliche Befindlichkeiten schlecht. Nein, das Gebäude wissenschaftlicher Rationalität wackelt, um seine wichtigste Prämisse beraubt, an sich, verliert sich doch das vermeintlich Wichtigste mehr und mehr: die wissenschaftliche Objektivität.
Eine wirkliche Hilfe für Studierende
Wagners Buch soll daher nicht nur jenen eine Hilfe sein, die den Uni-Bluff zu durchschauen suchen, um sich der Uni-Angst zu stellen; es soll auch dazu anleiten, die Wissenschaft wieder kritikfähig zu machen und somit ihrer sozialen Verantwortung gemäß mit gesellschaftlicher Erdung zu versehen.
Es zeigt den Leserinnen und Lesern, „daß sie nicht allein sind mit ihren Schwierigkeiten, daß es nicht an ihrem individuellen Versagen liegt“, diese zu haben. Ja, das „Verstimmbarkeit und Erschöpfbarkeit bei Konzentrationsaufgaben; [...] Kopfschmerzen, Schwindel und Schweißausbruch bei der Lektüre von Lehrbüchern, [...] Unrast, Merkfähigkeitseinbuße, Lustlosigkeit, allgemeine Mattigkeit und Schlafbeeinträchtigung“, depressive Verstimmungen oder Angstzustände typische und womöglich sogar gewollte („erzieherische“) Symptome unserer Hochschullandschaft sind, man sich diesen gegenüber jedoch verhalten und tatsächlich – im Rahmen gegebener Freiheiten wie Unfreiheiten – ein wenig eigener Freude am Studium „zurückerobern“ kann, indem man den „Uni-Bluff“ durchschaut und sich der eigenen „Uni-Angst“ stellt.