Turbo-Studium für Meister & Co.?Anrechnung von Aus- und Fortbildung fürs Studium
Von Janna Degener
Du bist ausgebildete Physiotherapeutin und strebst einen Bachelor-Abschluss im gleichen Fach an? Du bist examinierter Krankenpfleger und interessierst dich für ein Studium im Bereich Pflegemanagement? Du interessierst dich nach Abschluss der Technikerschule für ein Maschinenbau-Studium? Oder hast du vor deinem BWL-Studium eine kaufmännische Ausbildung oder eine Fortbildung an einer Verwaltungs- und Wirtschaftsakademie absolviert? …
Dann bist du bald vielleicht einer von den etwa zwanzig Prozent der Studienanfänger in Deutschland, die laut dem Deutschen Zentrum für Hochschul- und Wissenschaftsforschung (DZHW) vor Beginn des Studiums bereits eine staatlich anerkannte Berufsausbildung in der Tasche haben.
An den Fachhochschulen starten sogar 40 Prozent mit Ausbildungsabschluss in das Studium. Einige wenige davon (insgesamt ein Prozent, an den Fachhochschulen drei Prozent) haben zudem eine berufliche Fort- oder Weiterbildung absolviert, sind also Meister*in, Fachwirt*in, staatlich geprüfte*r Techniker*in, Betriebswirt*in oder Erzieher*in.
Falls es übrigens zur Hochschulzugangsberechtigung an sich noch Fragen gibt, so finden sich Antworten wahrscheinlich im Artikel Hochschulzugang für beruflich Qualifizierte.
Warum alles nochmal lernen? – Schneller studieren durch Anrechnung
Viele dieser Studienanfänger*innen wünschen sich, dass sie sich bestimmte Erfahrungen aus ihrer Aus- oder Fortbildung auf ihr Studium anrechnen lassen könnten, um sich Pflichtpraktika oder den Besuch von bestimmten Lehrveranstaltungen zu sparen. Denn natürlich kann es langweilig sein, wenn man sich als qualifizierter Techniker eine Einführungsveranstaltung zur Konstruktionslehre anhören, als erfahrende Rechtsanwalts-Angestellte drei Monate als Praktikant in einer Kanzlei absitzen oder als ausgebildeter Fachinformatiker Grundlagenkurse im Programmieren besuchen muss. Und natürlich können Studierende Zeit und Geld sparen, wenn sich das umgehen lässt. Manche entscheiden sich schließlich vielleicht überhaupt nur für ein Studium, weil sie den Abschluss durch die Anrechnung ihrer Kenntnisse und Kompetenzen in relativ kurzer Zeit schaffen können.
In jedem Fall ist es sinnvoll, sich frühzeitig über Anrechnungsmöglichkeiten zu informieren. Denn wenn ihr zwischen Aus- bzw. Fortbildung und Studium eine gewisse Zeit verstreichen lasst, können eure Qualifikationen unter Umständen „verfallen“. Genauere Informationen dazu bekommt ihr jeweils bei den Hochschulen bzw. bei den Studiengangs- oder Anrechnungsverantwortlichen.
Der Wunsch nach mehr Durchlässigkeit – ein bildungspolitischer Trend
Hochschulen tun sich traditionell zwar schwer mit der Anrechnung von Kenntnissen und Fähigkeiten, die ihre Studienanfänger anderswo erworben haben. Dennoch hat sich auch beim Thema Anrechnung der beruflichen Aus- und Weiterbildung einiges getan:
Die Diskussionen um das Lebenslange Lernen und der viel diskutierte Fachkräftemangel haben dazu geführt, dass der Zugang beruflich Qualifizierter zu den Hochschulen bildungspolitisch angestrebt wird. Deshalb setzen sich die politischen Entscheidungsträger nicht nur für das Studium ohne Abitur und die Gewährleistung von der Personengruppe angemessenen Studienbedingungen (z.B. Teilzeitstudiengängen) ein, sondern eben auch für die Anrechnung beruflich erworbener Kenntnisse und Kompetenzen auf ein Studium. Dahinter steckt auch die Idee, dass es eigentlich egal ist, an welchem Lernort Kenntnisse und Kompetenzen erworben wurden, sofern diese eben vorhanden sind.
Beschleunigt wurde die Anerkennungs-Diskussion sicherlich auch dadurch, dass faktisch eine Annäherung zwischen beruflicher und hochschulischer Bildung stattgefunden hat: In der beruflichen Bildung ist eine Akademisierung zu beobachten, während die Hochschulen, vor allem die Universitäten, sich im Rahmen des Bologna-Prozesses um mehr Praxisnähe und Anwendungsorientierung bemühen.
Beschlüsse und Vorgaben – die rechtlichen Grundlagen der Anerkennung
Die Möglichkeit, aus der beruflichen Aus- und Weiterbildung sowie der beruflichen Praxis erworbene Kenntnisse und Fähigkeiten auf ein Studium anzurechnen, gibt es im Hochschulbereich deshalb bereits seit vielen Jahren.
Schon mit Beschluss vom 28.06.2002 hat die Kultusministerkonferenz diese Möglichkeit ausdrücklich vorgesehen. Über die Anrechnung beruflicher Kenntnisse und Fähigkeiten können demnach bis zu 50 % eines Studiums ersetzt werden. Voraussetzung dafür sind: 1. dass eine Hochschulzugangsberechtigung vorliegt, die ggf. auch über die berufliche Qualifikation erworben werden kann, 2. dass die Kenntnisse und Fähigkeiten nach Inhalt und Niveau dem Teil des Studiums gleichwertig sind, der ersetzt werden soll und 3. dass die Kriterien dafür im Rahmen der Akkreditierung überprüft werden.
In einem weiteren Beschluss vom 18.09.2008 wurde dies noch einmal bekräftigt. Dadurch und durch die ländergemeinsamen Strukturvorgaben der Kultusministerkonferenz für die Akkreditierung von Bachelor und Masterstudiengängen sind die Hochschulen verpflichtet, von den Möglichkeiten der Anrechnung Gebrauch zu machen. Darüber hinaus sind sie gehalten Verfahren und Kriterien für die Anrechnung außerhalb des Hochschulwesens erworbener Kenntnisse und Fähigkeiten in den jeweiligen Prüfungsordnungen zu entwickeln.
Wer entscheidet, was äquivalent ist? – Anrechnungsverfahren an den Hochschulen
Die Anrechnung, die einen entsprechenden Antrag voraussetzt, kann in unterschiedlicher Weise erfolgen. Zum einen kann die Prüfung individuell im Einzelfall auf der Grundlage der von dem jeweiligen Bewerber vorzulegenden Unterlagen vorgenommen werden. Die Einzelfallprüfung basiert auf dokumentierten Kompetenznachweisen, zum Beispiel beruflichen Bildungsabschlüssen oder auch auf informellem Wege erworbenen Kenntnissen und Kompetenzen.
Bei homogenen Bewerbergruppen – z. B. im Rahmen von konkreten Kooperationsabkommen zwischen Hochschulen und beruflichen Ausbildungseinrichtungen mit abgestimmten Lehrplan – kann die Anrechnung auch pauschal erfolgen. Dafür werden Lehrplan oder Lernergebnisbeschreibungen von beruflichen Bildungsabschlüssen mit denen von Studiengängen verglichen. Die Studienbewerber*innen können sich dann ggf. Teile des Studiums anrechnen lassen, ohne dass eine individuelle Prüfung notwendig ist. Auch durch Prüfungsordnungen geregelte Einstufungsprüfungen zum Nachweis des individuellen Kenntnisstandes sind möglich.
Erst seit 2014 haben wirklich alle Bundesländer die Anrechnungsmöglichkeiten in ihre Hochschulgesetze aufgenommen. Eine Übersicht, in welchem Bundesland welche generellen Anrechnungsmöglichkeiten bestehen findet sich am Ende des Artikels. Doch die Möglichkeiten einer Anrechnung unterscheiden sich nicht nur von Land zu Land, sondern auch von Hochschule zu Hochschule und sogar von Studiengang zu Studiengang. Denn die Hochschulen regeln in ihren Prüfungsordnungen autonom, ob eine Anrechnung möglich ist und wenn ja, welches Verfahren Anwendung findet.
Nachgefragt...
Unterschiedliche Anerkennungspraxis der Hochschulen bzw. Fakultäten (Stand 2016):
Die Universität Köln lehnt die Anerkennung von Leistungen, die außerhalb von Hochschulen erbracht wurden, ab. Aufgrund ihrer Größe sei ihr dies zu kompliziert.
An der Universität München gibt es hingegen kein einheitliches Vorgehen: Die Wirtschaftswissenschaftler wollen nichts anerkennen, Juristen vielleicht ein Praktikum anrechnen, die Informatikfakultät erkennt Softskills an (allerdings nur bei Vorlage eines Zertifikats) und die Biologiefakultät nimmt Einzelfallprüfungen vor, weist allerdings darauf hin, dass in der Regel sehr wenig anerkannt werden könne.
Private Hochschulen stehen dem Thema Anerkennung deutlich aufgeschlossener gegenüber als staatliche.
Ansprechpartner für Anerkennungen sind oftmals die Prüfungsämter, häufig gibt es auf den Hochschulseiten einen Bereich „Studieren ohne Abitur“, in dem auch Berufserfahrene Hilfe finden und an einigen wenigen Hochschulen gibt es sogar eine spezielle Seite für Studieninteressierte mit Berufserfahrung.
Enttäuschend – die Anrechnungspraxis der Hochschulen
Die ersten veröffentlichten Anrechnungsergebnisse aus dem Jahr 2008 zeigten, dass bei Fortbildungsabschlüssen durchschnittlich 30 bis allerhöchstens 45 Credit Points auf Studiengänge von 180 Credit Points angerechnet wurden, also deutlich weniger als die rechtlich möglichen fünfzig Prozent. Aus Sicht der beruflichen Bildung war dies ein enttäuschendes Ergebnis.
Eine Studie der Uni Oldenburg aus dem Jahr 2014 hat gezeigt, dass die Anrechnung außerhochschulischer Kenntnisse und Kompetenzen in klassischen grundständigen Bachelor- und konsekutiven Masterstudiengängen bislang auf wenige Einzelfälle begrenzt ist: Das liegt einerseits daran, dass es vielerorts keine passenden Instrumente oder Verfahren gibt, und andererseits daran, dass die Studierenden überhaupt nicht über die Möglichkeit der Einzelfallanrechnung informiert werden und sie entsprechend auch nicht nutzen.
Eine pauschale Anrechnung findet sich laut der Studie vor allem in berufsbegleitenden Bachelorstudiengängen sowie in Vollzeit-Bachelorstudiengängen, die sich gezielt an beruflich Qualifizierte wenden, wobei es große Unterschiede hinsichtlich des Grades der Qualitätssicherung gibt.
Die Einführung qualitätsgesicherter Anrechnungsverfahren stehe häufig in engem Zusammenhang mit öffentlich geförderten Modellvorhaben. (Im Rahmen der BMBF-Initiative ANKOM – Übergänge von der beruflichen in die hochschulische Bildung zum Beispiel wurden von 2011-2014 zwanzig Projekte an Universitäten, Fachhochschulen und einem Bildungswerk gefördert, teilweise ging es darin darum, konkrete Anrechnungsverfahren zu entwickeln sowie an Hochschulen zu erproben und zu implementieren). Außerdem fällt auf, dass sich öffentliche Hochschulen in Sachen Anrechnung deutlich zurückhaltender zeigen als private Hochschulen.
Die Frage der Gleichwertigkeit: Ausbildung versus Fortbildung
Weil die Anrechnung eine Gleichwertigkeit von Inhalten und Niveau voraussetzt, geht es in den Diskussionen und auch in Initiativen wie ANKOM häufig zunächst um die Anerkennung von bundesrechtlich geregelten Fortbildungen, die auf Berufsausbildungen aufbauen, unter Umständen Berufserfahrung erfordern und zum Beispiel mit dem Meister abschließen. Kenntnisse und Fähigkeiten aus Berufsausbildungen anzuerkennen, ist dagegen in der Regel deutlich schwerer.
Wie geht’s weiter? – Perspektiven der Anrechnungspraxis
Aus der Sicht von Studierenden und Studieninteressenten wäre es natürlich wünschenswert, dass die Anerkennung von berufsbildenden und –praktischen Kenntnisse und Kompetenzen auf lange Sicht flächendeckend standardisiert und professionalisiert ist. Dadurch könnte man sich frühzeitig einen Überblick über die Möglichkeiten verschaffen und auch ohne Weiteres nachvollziehen, nach welchen Kriterien die Beurteilung erfolgt. Das ist bisher noch nicht der Fall und trotz aller Bemühungen auch nicht abzusehen.
Die Gründe dafür sind vielfältig: Zum einen ist es in vielen Fällen tatsächlich schwierig, zu entscheiden, welche Inhalte gleichwertig sind und wo man Abgrenzungen vornehmen kann. Zum anderen haben viele Hochschulen aus Überlastungsgründen kaum Kapazitäten, sich dem Thema umfassend zu widmen. Und last but not least gibt es sicherlich auch Hochschuldozenten, die sich beim Thema Anrechnung aus strategischen oder standespolitischen Überlegungen querstellen. Bleibt also zu hoffen, dass die Bemühungen anhalten und dass sich die Situation über kurz oder lang doch noch deutlich verbessern wird.
Hinweise für Studieninteressierte und Student*innen: Was solltet ihr mit Blick auf das Thema Anrechnung bedenken?
Wenn ihr eine Aus- oder Fortbildung plant und mit dem Gedanken spielt, später noch ein Studium in einem verwandten Fach draufzusetzen, könnt ihr euch frühzeitig über Kooperationen zwischen den beruflichen Aus- und Fortbildungseinrichtungen und Hochschulen informieren.
Über duale, berufs- und ausbildungsintegrierende Studiengänge, die berufliche und hochschulische Ausbildung im Rahmen konkreter Kooperationen verbinden und damit Anrechnungsverfahren überflüssig machen, informiert der Hochschulkompass der Hochschulrektorenkonferenz. Allerdings ist diese Auflistung nicht unbedingt vollständig und korrekt. Deshalb solltet ihr die berufsbildenden Schulen, die für euch in Frage kommen, im Zweifelsfall dennoch abklappern und euch dort nach den Kooperationsvereinbarungen erkundigen.Gleiches gilt, wenn ihr einen Studiengang in einem Bereich anstrebt, in dem ihr schon eine Ausbildung oder Fortbildung absolviert habt bzw. in dem ihr berufliche Erfahrungen gesammelt habt. Erkundigt euch auf dem Hochschulkompass, bei eurer berufsbildenden Schule sowie bei den Hochschulen, die für euch in Frage kommen, ob es entsprechende Kooperationen gibt.
Darüber hinaus bekommt ihr an den Hochschulen auch Informationen über das individuelle Anrechnungsverfahren.An einigen Hochschulen gibt es Informations-, Beratungs- und Begleitungsangebote zum Thema Anerkennung, beispielsweise entsprechende Leitfäden für Studienbewerber. Ansonsten sind die Prüfungsordnungen eine hilfreiche Informationsquelle. Wenn ihr an den Hochschulen keinen passenden Ansprechpartner findet, solltet ihr bei der Studienberatung, beim Prüfungsamt oder bei den Studiengangsverantwortlichen nachfragen. Es kann hilfreich sein, dort euer Abschlusszeugnis und einen Lehrplan mit den Inhalten eurer Ausbildung vorzulegen. Ihr könnt euch bei den Hochschulen bewerben und dann die Einzelfallprüfung machen lassen.
Wenn ihr mit den Informations- und Anerkennungsmöglichkeiten an eurer Hochschule unzufrieden sein, solltet ihr euch an die Studierendenvertretungen wenden. Das kann den Druck an den Hochschulen erhöhen und dazu führen, dass das Anrechnungsthema mehr Aufmerksamkeit erhält.
Wenn ihr fachspezifische Informationen zum Thema Anerkennung sucht, solltet ihr euch auf der Website der Ankom-Initiative umschauen. Ihr findet dort zahlreiche Fachartikel zum Thema. Hilfreiche und verlässliche Service-Texte für Studierende gibt es leider noch nicht.
Die Autorin dieses Artikels
Janna Degener studierte Germanistik und Ethnologie an der Freien Universität Berlin und verbrachte Auslandsaufenthalte in Costa Rica, Syrien, Frankreich und Tansania. Als freie Journalistin beschäftigt sie sich heute besonders mit Bildungs- und Verbraucherthemen. Mehr Infos zu ihr und ihrer Arbeit gibt’s unter jannadegener.wordpress.com
Linkliste / Quellen
- Deutsches Zentrum für Hochschul- und Wissenschaftsforschung, Studie über Studienanfänger*innen
- Lebenslanges Lernen
- Beschluss der Kultusministerkonferenz vom 28.06.2002
- Beschluss der Kultusministerkonferenz vom 18.09.2008
- Ländergemeinsame Strukturvorgaben der Kultusministerkonferenz für die Akkreditierung von Bachelor- und Masterstudiengängen
- Generelle Anrechnungsmöglichkeiten in den Bundesländern
- Studie der Uni Oldenburg aus dem Jahr 2014
- Ankom-Initiative
Exemplarisch einige Links zur Anrechnungspraxis:
- Koordinierungsstelle für Studieninformation und -beratung in Niedersachsen
- Information über den Hochschulzugang aufgrund beruflicher Qualifikation in Baden-Württemberg
- Studieren ohne Abitur in Hamburg
- Informationen zur Anrechnungspraxis an der privaten EUFH
- Informationen zur Anrechnungspraxis an der privaten FOM
- Informationen zur Anrechnungspraxis an der staatlichen Hochschule Emden-Leer
Folgendes Buch war bei der Recherche zu diesem Artikel hilfreich, es ist allerdings schon etwas älter und nur noch schwer erhältlich:
Regina Buhr, Walburga Freitag, Ernst A. Hartmann, et al. (Hg.) (2008):
Durchlässigkeit gestalten! Wege zwischen beruflicher und hochschulischer Bildung.
Münster: Waxmann