Eignung und AnpassungStudienleistungen prognostizieren mit „Studierfähigkeits“-Tests?
Dieser Artikel erschien zuerst in Forum Wissenschaft (Heft 4/2007), herausgegeben vom Bund demokratischer Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler (BdWi). Wir danken dem BdWi und den Autorinnen für die Genehmigung, den Artikel auch bei Studis Online publizieren zu dürfen.
Studierfähigkeitstests für den Zugang zur Hochschule gerieten in der bundesdeutschen Vergangenheit immer dann in die Diskussion, wenn Studienplätze knapp wurden. Durchgeführt im großen Maßstab wurden sie nur für Medizin/Zahnmedizin und Veterinärmedizin. Der 1980 eingeführte Medizinertest wurde daher auch 1997 wegen sinkender BewerberInnenzahlen wieder abgeschafft. Seit die Hochschulen zwei Drittel der Studienplätze nach eigenen Kriterien vergeben, haben Studierfähigkeitstests Hochkonjunktur. Noch ist offen, ob sich ein allgemeiner Studierfähigkeitstest durchsetzt oder jede Hochschule ihre eigene Eignungsprüfung zusammenstellt. Zur Zeit werden verschiedenste Testvarianten ausprobiert, z.B. für Wirtschaftswissenschaften, Jura, Architektur. Auch Fachhochschulen haben schon für einzelne Studiengänge Tests eingeführt, weitere sind in der Entwicklung. Die Deutsche Gesellschaft für Psychologie (DGPs) hat beispielsweise einen Studierfähigkeitstest für das Psychologie-Studium erstellen lassen und erhebt den Anspruch, mit diesem nicht nur eine wissenschaftliche Diagnose über die Studierfähigkeit einer Person zu bieten, sondern eine zudem psychologisch abgesicherte. Immerhin ist Eignungsdiagnostik eine der ältesten Aufgaben der Psychologie. Sie bot die Grundlage für die Professionalisierung der Psychologie während der NS-Zeit: Der große Bedarf an Eignungsdiagnostik von Wehrmachtssoldaten ermöglichte die Institutionalisierung des Fachs an den Universitäten in breitem Maßstab.1
Mit den Studierfähigkeitstests soll das Problem, die geeignetsten Studierenden auszuwählen, effizient lösbar sein. Dass es hier primär um Selektion geht, zeigt sich schon daran, dass das erfolgreiche Abschneiden durch einen Vergleich mit dem Durchschnitt(s-Ergebnis) ermittelt wird. Dafür sind die Tests so konzipiert, dass die TeilnehmerInnen „im Durchschnitt“ alle Aufgaben gar nicht schaffen können. Vorstellbar wären ja auch einige wenige Aufgaben – und wer diese bewältigt, kann studieren. Damit würde aber das Ziel interindividueller Differenzierung nicht mehr erfüllt. Es geht eben nicht um die Erfassung einer „Eignung“. Vielmehr sollen mit aller Kraft Unterschiede hergestellt werden. Für den Test spreche dabei, so die DGPs, dass nicht mehr nur die „Abiturbesten die begehrtesten Studienplätze bekommen“, sondern „künftig auch Bewerberinnen und Bewerber eine Chance erhalten, die für ein bestimmtes Fach geeignet sind, ohne mit Bestnoten aufwarten zu können“. Tests seien zudem „objektiver“ und gerechter (und damit „gerichtsfest“, d.h. juristisch weniger anfechtbar) als z.B. Auswahlgespräche, die „leicht trainierbar“ seien und bei denen zudem „die sprachlich Gewandteren die besseren Chancen“ hätten.2 Der Studierfähigkeitstest tritt als „Anwalt der Schwachen“ auf, die im Abitur nicht gut genug waren (das bekanntlich soziale Unterschiede verstärkt abbildet) und die sich in Auswahlgesprächen nicht gut darstellen können. Doch noch innerhalb der Testlogik ist gegen dieses Bild vollkommener Chancengleichheit einzuwenden, dass die Studienleistungen von Frauen durch die Tests systematisch unterschätzt werden.3 Dies ist nur ein Hinweis dafür, dass die angeblich gerechtere Auswahl eine Farce ist. Das Argument, der sozialen Differenzierung des Abiturs entgegenzusteuern, wird dadurch fragwürdig, dass diejenigen mit guten Abiturnoten bei Studierfähigkeitstests durchschnittlich auch bessere Testergebnisse erreichen. Was also ist mit einem Test gewonnen?
Dünne Inhalte und Ergebnisse
Testentwicklung und -durchführung sind ein durchaus lohnendes Geschäft; die Kosten werden als Gebühren auf die zukünftigen Studierenden umgelegt. Die DGPs z.B. rechnet mit ca. 50 Euro ohne Fahrtkosten. Durchschnittlich müssten die TeilnehmerInnen mit 200 Euro für Anreise und Übernachtung rechnen, heißt es.4 Damit sind die Kosten für Entwicklung und Durchführung noch nicht gedeckt. Für den Psychologie-Test hat diese zu einem großen Teil die DGPs übernommen. Das besondere Engagement der PsychologInnen lässt sich als „Investition in die Zukunft“ interpretieren: Es geht um die Akquise von Aufträgen und die Sicherung von Zuständigkeiten, die man sich nicht aus der Hand nehmen lassen bzw. neu etablieren will. In den USA ist der Scholastic Assessment Test (SAT) seit den 1960er Jahren zur festen Voraussetzung für die Zulassung zu einer Hochschule geworden. Dort ist eine richtige Testindustrie entstanden.5 Das Unternehmen Educational Testing Service (ETS), das sowohl den SAT als auch den bekannten Englischsprachtest TOEFL entwickelt hat, macht einen Jahresumsatz von ca. 900 Mio. US-Dollar.
Dass es primär um die Schaffung eines neuen Marktes geht, zeigt auch ein Blick auf die diversen Vergleichsuntersuchungen, die regelmäßig belegen, dass die Abiturdurchschnittsnote eine bessere Vorhersage für Studienleistungen bietet als Studierfähigkeitstests. Ziel ist daher auch nur, die „inkrementelle Validität“ zu erhöhen, d.h. Abiturnote plus Studierfähigkeitstest sollen die Studienleistungen besser vorhersagen können als die Abiturnote allein. Ob sich der Aufwand lohnt, ist umstritten: Selbst AnhängerInnen der Tests geben das „ungünstige Aufwand-Nutzen-Verhältnis“ zu bedenken. Die Kosten für die Testkonstruktion seien auch langfristig so hoch, dass der „Mehrgewinn an Sicherheit über den Studienerfolg gegenüber den Abiturdurchschnittsnoten“ nicht gerechtfertigt ist.6 Die Prognostizität konnte selbst beim als relativ valide angesehenen Medizinertest TMS nur um 10,2% verbessert werden.7
Aber was kann mit den Tests eigentlich erfasst werden? Erfasst werden soll „Studierfähigkeit“ – doch was ist damit genau gemeint? Zunächst ist Studierfähigkeit die Fähigkeit, ein Studium erfolgreich abzuschließen. Erfolgreich meint dabei gute Prüfungsleistungen, aber auch – so ein Ziel der TestbefürworterInnen – die „Verkürzung der durchschnittlichen Studienzeit bis zum Vordiplom und eine signifikante Verringerung der Studienabbrecherquote“.8 Ob dies möglich ist, ist ebenfalls umstritten. Die Testkonstrukteure der DGPs weisen extra darauf hin, dass ihr Test weder die Länge des Studiums noch Abbruchraten vorhersagen könne; ein besseres Testergebnis lasse lediglich bessere Prüfungsnoten erwarten.9 Allein diese „Erfolgskriterien“ zeigen, dass hier das Ideal eines kurzen Schmalspurstudiums zu Grunde liegt, aus dessen Perspektive Studienabbrüche, zu denen auch Studienfachwechsel gezählt werden, überhaupt zum Problem werden.
Die Tests sind eine Mischung aus Persönlichkeits-, Wissens- und Leistungstest. Um festzustellen, welche Persönlichkeitsdimensionen Studierfähigkeit ausmachen, wurden etwa dem Psychologie-Test Ergebnisse aus einer Befragung von Psychologie-ProfessorInnen und -Studierenden zu Grunde gelegt. Die ProfessorInnen gaben z.B. an: „Kreativität“, „Leistungsmotivation“, „Teamfähigkeit“, „Zielstrebigkeit, Beharrlichkeit“, „Eigeninitiative, Selbstorganisation“, „kompetenter Umgang mit Unsicherheit“ und „Fähigkeit zur Selbstreflexion“.10 Die Homepage „studientest.de“, die eine erfolgreiche Vorbereitung für Studierfähigkeitstests bewirbt, gibt an, der Test für das Fach Jura messe auch „Flexibilität“, „Stress-Stabilität“, „Hartnäckigkeit“ und „Erfolgsorientiertheit“.11
Die Erfassung von Persönlichkeitsdimensionen im Rahmen von Eignungsdiagnostik wird innerhalb der psychologischen Testdiagnostik als nicht möglich abgelehnt.12 In jeder Form von Bewerbungssituationen ist nämlich davon auszugehen, dass die Tendenz, sozial erwünschte Antworten zu geben, besonders hoch ist. Die BewerberInnen werden die Fragen so beantworten, wie sie meinen, dass es von ihnen erwartet wird. Ein Beispiel zu „Soft/Management Skills“ im Testsample des Elektronischen Studierfähigkeitstests (EST, München 2005) macht dies leicht nachvollziehbar. Auf die Frage: „Wenn ich zu einer Arbeitsgruppe gehöre, stelle ich meine eigenen Ziele zugunsten derer meines Arbeitsteams zurück und setze mich mit vollem Engagement für die Gruppe ein. – Inwiefern trifft diese Äußerung auf Ihre eigene Erfahrung im beruflichen Alltag zu?“ gibt es folgende Antwortmöglichkeiten: fast gar nicht/überwiegend nicht/eher nicht/eher/überwiegend/fast vollständig. – Die Frage ist so gestellt, dass wohl niemand „fast gar nicht“ ankreuzen würde. Verlangt ist dabei weniger, sich wirklich an entsprechende Situationen zu erinnern – dann wäre sie nur mit „kommt darauf an“ zu beantworten – als vielmehr zu erraten, was das Unternehmen bzw. in diesem Fall die Hochschule für richtig hält.
Konstruierte „Studierfähige“
Was als personale Voraussetzungen für Studierfähigkeit benannt wird, zeigt bei genauerem Hinschauen, welches Menschenbild da Pate steht: Stress-Stabilität, Erfolgsorientiertheit, Hartnäckigkeit, Flexibilität … All das hört sich sehr nach dem neuen Lohnarbeitermodell an, nach dem die Jobzukunft der Einzelnen als „Unternehmer ihrer selbst“ ungewiss ist, diese dennoch auf Erfolgskurs getrimmt sind, nicht locker lassen, Stress aushalten, sich selbst aktivieren und also perfekt in die neoliberale Variante des „Jeder gegen jeden“ passen. Dabei erfassen die Tests übrigens nicht, ob die Studierenden wirklich so sind oder werden, sondern nur, ob sie wissen, worauf es ankommt, und die Anforderungen an ihr Verhalten richtig identifiziert haben. Angaben zu Verhalten in Befragungen und das reale Verhalten der befragten Personen divergieren sehr stark, wie diverse sozialpsychologische Untersuchungen zeigen.13 Menschliches Handeln ist nämlich keine feste, durch angeborene oder in der Kindheit erworbene und daher messbare Eigenschaften bedingte Größe. Menschen reagieren nicht reflexartig auf ihre Umweltbedingungen, sondern menschliches Handeln ist in Prämissen begründet. Diese sind wiederum Ergebnis der jeweils subjektiven Bewertung der gesellschaftlichen Bedingungs-Bedeutungs-Konstellation. Stress-Stabilität z.B. ist nicht das Ergebnis „dicker Nerven“ oder „richtiger“ Erziehung. Vielmehr liegt es an meinen konkreten Lebensbedingungen, ob es mir möglich ist, stressige Situationen im Studium zu bewältigen: Wird für mich gekocht, wenn ich nach Hause komme? Muss ich mich um ein Kind kümmern? Muss ich neben dem Studium arbeiten, um meinen Lebensunterhalt zu verdienen? Dies sind nur ein paar grobe Dimensionen potenzieller Lebensbedingungen, die Einfluss auf so etwas wie „Stress-Stabilität“ haben können.
Diese auszublenden bzw. auf scheinbar stabile Persönlichkeitseigenschaften zu reduzieren ist das, was die Kritische Psychologie „Personalisierung“ nennt: Die Umdeutung gesellschaftlicher Beschränkungen in individuelle Beschränktheiten. Zu diesen gesellschaftlichen Beschränkungen gehört auch, dass der Zugang zum Bildungssystem vom Einkommen abhängt und Reproduktionsarbeit immer noch mehrheitlich von Frauen geleistet wird – beides keine unerheblichen Größen für „Studierfähigkeit“. Die Ausblendung der gesellschaftlichen Bedingungen ist übrigens durchaus Programm. Es geht nämlich darum, Studierende zu finden, die sich an die miserablen Studienbedingungen widerspruchslos anpassen. Die Einführung der neuen Auswahlverfahren wird auch als Wandel vom Nachweis der allgemeinen Studierfähigkeit durch das Abitur – die so genannte Hochschulreife – zur „Passfähigkeit“14 oder eben „Passung“ für einen spezifischen Studiengang oder die jeweilige Hochschule beschrieben. Da ist es nur konsequent, wenn die DGPs ihren Test mit dem Argument bewirbt, es sei viel billiger, bessere Studienabschlüsse durch Selektion mit Hilfe des Tests zu erreichen, als teures Geld in bessere Studienbedingungen zu investieren.15
Die „Wissensaufgaben“ zeigen zudem, dass durch die Tests auch ein bestimmtes Wissenschaftsverständnis mittransportiert wird. Für das Fach Psychologie etwa macht der Schwerpunkt auf Mathematik und Biologie deutlich, dass der Streit, inwieweit Psychologie Geistes- oder Naturwissenschaft sei, im Studierfähigkeitstest von der einen Fraktion (der naturwissenschaftlichen) gleich mit beantwortet wird. Ohne das entsprechende mathematische Vorwissen sei das Fach nicht studierbar – eine besondere Absurdität beim Blick auf das Berufsbild „der Psychologin“ bzw. „des Psychologen“ z.B. in der Betreuung von Drogenabhängigen oder der Beratung vergewaltigter Frauen. Übrigens hatte das Kriterium „soziale Kompetenz“ in der Befragung der Psychologie-ProfessorInnen zu wichtigen Voraussetzungen für ein Psychologiestudium einen deutlich höheren Rangwert erhalten als „mathematische Fähigkeiten“. Die standen an letzter Stelle16, im Test wurde ihnen aber ein ganzer Abschnitt gewidmet. Es geht also nicht nur um neue Selektionstechniken, sondern auch um die Durchsetzung eines spezifischen Wissenschaftsverständnisses – so zumindest im Fach Psychologie, in dem genau dieses strittig ist.
Konstruktion von „Lernen“
Die meisten Aufgaben in den Tests dienen der Leistungsmessung. Sie erfassen eine spezifische Leistung zu einem bestimmten Zeitpunkt: dem des Tests. Problematisch ist hier die Interpretation dieser Testleistungen. So besagen etwa die Hinweise zu einem Test für das wirtschaftswissenschaftliche Studium, die gemessene Studierfähigkeit sei das Resultat langfristiger Lern- und Entwicklungsprozesse.17 Dabei geht es um mehr als die Annahme, bestimmte Fertigkeiten (etwa Lesen und Schreiben) sollten vor der Aufnahme eines Studiums schon erlernt worden sein. Unter der Hand verwandelt sich die spezifische Leistung in eine Art angeborener oder zumindest langfristig entwickelter Persönlichkeitseigenschaft. Auf der Ebene der Test-Items spiegelt sich das in einem kuriosen Paradoxon wider: Zum einen wird gesagt, für den Test ließe sich nicht lernen, da er eine allgemeine Fähigkeit erfasse. Zum anderen aber bleiben die Aufgaben geheim, und den Test dürfe jede Person nur einmal machen, sonst verzerre der Lerneffekt das Ergebnis. Bei Studierfähigkeitstests findet sich die gleiche Missinterpretation der Testergebnisse wie bei Intelligenztests. Auch bei ihnen wird der Kurz-Schluss von einer spezifischen Testleistung auf eine grundlegende Persönlichkeitseigenschaft – hier Studierfähigkeit – vollzogen, die als „angeboren“ unterstellt wird. Grundlage für die Testkonstruktion ist nämlich die Gaußsche Normalverteilungskurve und damit die Annahme, dass Studierfähigkeit in der Bevölkerung oder unter den Abiturienten wie eine natürliche/angeborene Eigenschaft verteilt sei. Denn die Gaußsche Glockenkurve gilt als Modell für diese Art der Verteilung.
Damit implizieren die Tests ein bestimmtes Verständnis menschlichen Lernens. Folgt man dem Testaufbau, der den meisten Studierfähigkeitstests zu Grunde liegt, ist Lernen operationalisiert als „schlussfolgerndes“ oder „analytisches Denken“ sowie als „Transformationsfähigkeit“. Und es ist als eine quantifizierbar Größe gefasst, die in Zeiteinheiten oder der Anzahl richtiger Antworten messbar sei. Lernen wird hier gleichgesetzt mit unspezifischen Teildimensionen kognitiver Leistungen. Diese sollen durch Denksportaufgaben, wie die, nach der man bestimmen soll, welches Symbol in einer Reihe logisch als nächstes folgen müsste, erfasst werden. Differenzen im Testergebnis werden auf biologische Unterschiede in den kognitiven Fähigkeiten zurückgeführt, die mit „Begabungsunterschieden“ erklärt werden. Der Zusammenhang entbehrt jedoch jeder seriösen wissenschaftlichen Grundlage.18 Zu beobachtende Leistungsunterschiede sind vielmehr auf gesellschaftlich-soziale Lern- und Entwicklungsbehinderungen zurückzuführen statt auf biologische Differenzen. Obwohl zentral für den Erfolg von Lernprozessen, werden diese gesellschaftlichen Behinderungen jedoch systematisch ausgeblendet.
Darüber hinaus ist die menschliche Lernfähigkeit mit diesen unspezifischen kognitiven Leistungen nicht adäquat erfasst. Die Kritische Psychologie geht davon aus, dass Menschen lernen, weil sie antizipieren, dass sie auf diese Weise eine subjektiv-individuelle Handlungsproblematik überwinden können. Diese kann sehr kleinteilig sein – z.B. zu lernen, sich die Schuhe selbst zuzubinden. Sie kann auch komplexere Lernprozesse umfassen, etwa den Widerspruch zwischen Relativitätstheorie und Quantentheorie nachzuvollziehen. Lernprozesse sind dabei oft durch eine Ahnung geleitet, dass es da etwas zu verstehen gibt oder sich der Knoten im Kopf schon lösen wird, die zum Weiterlernen motiviert. Viele unserer eigenen Lernprozesse haben wenig mit solchen Ahnungen zu tun, sondern viel mehr mit dem Druck durch Prüfungen, die nächste Klassenarbeit und die Noten. Um die Differenz zwischen unterschiedlichen Lernmotivationen auch theoretisch zu fassen, hat Klaus Holzkamp19 das „expansive“ vom „defensiven“ Lernen unterschieden. Ersteres ist gerichtet auf die Erweiterung der Verfügung über meine Lebensbedingungen durch die Überwindung einer subjektiv-individuellen Handlungsproblematik durch Lernen, letzteres meint Lernen, bei dem ich Lernanforderungen übernehme, die aus meiner Sicht nicht meinen (Erkenntnis-)Interessen entsprechen. Was gesellschaftlich üblicherweise unter Lernen verstanden wird – die Wissensaneignung in Bildungseinrichtungen, besonders der Schule –, ist aufgrund der extrem repressiv organisierten und inhaltlich fremdbestimmten Lernprozesse daher in erster Linie „defensives Lernen“. Insbesondere die Selektionsfunktion der Bildungseinrichtungen produziert regelrechte Lernbehinderungen.20 Statt aber die Studienbedingungen so zu gestalten, dass sie Lernprozesse unterstützen, wird das Studium immer stärker verschult, und auf diese Weise werden massive Lernbehinderungen produziert.
Erfordernis: Realität ändern
Aus der Sicht der Studierenden stellt sich immer mehr das Problem, wie unter restriktiven Studienbedingungen eigene – „expansive“ – Lernprozesse zu organisieren sind. Von ihnen wird erwartet, fremdgesetzte Lernanforderungen fraglos zu übernehmen. Diese Bereitschaft testet der Studierfähigkeitstest. Es geht darum, Studierende zu finden, die sich an die miserablen Studienbedingungen widerspruchslos anpassen. Das, was eigentlich grundlegend für ein erfolgreiches Studium ist, wird dabei einfach ignoriert: die eigenen Erkenntnisinteressen sowie die konkreten Lernbedingungen an den Hochschulen, insbesondere Möglichkeiten der Selbstbestimmung von Lernprozessen und -inhalten. Statt die durch das Abitur bereits bestehende soziale Selektion zu mildern, verschärfen die Tests diese weiter. Sie tragen dazu bei, dass die soziale Spaltung und ihre Ursachen in der Debatte um den Hochschulzugang weiter in den Hintergrund gedrängt werden. Und sie bieten praktischerweise gleich ein Instrument, die vielfältigen sozialen Schranken den Einzelnen, vermittelt über die Testergebnisse, als eigene „Studierunfähigkeit“ unterzuschieben.
Anmerkungen (Fußnoten)
1 Vgl. Geuter, Ulfried, Die Professionalisierung der deutschen Psychologie im Nationalsozialismus, Frankfurt/M 1988
2 Vgl. Pressemitteilung der Deutschen Gesellschaft für Psychologie (DGPs) e.V., „Deutsche Gesellschaft für Psychologie plant Test für Studieneignung“, 22. Februar 2006
3 Vgl. Dlugosch, Simone, Prognose von Studienerfolg: dargestellt am Beispiel des Auswahlverfahrens der Bucerius Law School, Aachen 2005
4 Rindermann, Heiner, „Selbst- und Fremdauswahl von Studierenden – der aktuelle Stand“ (Vortrags-Folien), Magdeburg 2006
5 Giordano, Gerard, How Testing Came to Dominate American Schools. The History of Educational Assessment, New York 2005
6 Lewin, Dirk u. Lischka, Irene, Passfähigkeit beim Hochschulzugang als Voraussetzung für Qualität und Effizienz von Hochschulbildung, Arbeitsberichte 6’04, hrsg. von HoF Wittenberg, Wittenberg 2004, S. 47
7 Jungkunz, Diethelm, „Abitur und/oder Test? Das Problem der Selektion und Prognose beim Hochschulzugang“, S. 33; in: Die Deutsche Schule 78, 1/1986, S. 28-41
8 Lewin/Lischka, S. 62
9 Schmidt-Atzert, Lothar u. Wilhelm, Oliver, „Testverfahren zur Bewerberauswahl im Studiengang Psychologie. Antworten auf häufig gestellte Fragen“, www.dgps.de/_download/2006/, Zugriff: 19.10.2006, S. 2f.
10 Konegen-Grenier, C., „Studierfähigkeit und Hochschulzugang“, Forschung & Lehre, 9/2002, S. 481-483
11 www.studientest.de/studienplatz/fachbereiche/Jura.htm, Zugriff: 24.11.2006
12 Vgl. Jäger, Reinhold, S. u. Petermann, Franz, Psychologische Diagnostik. Ein Lehrbuch, 4. Aufl., Weinheim 1999, S. 370
13 Vgl. für einen Überblick Markard, Morus, Einstellung – Kritik eines sozialpsychologischen Grundkonzepts, Frankfurt/M 1984, S. 104 ff.
14 Lewin/Lischka, a.a.O.
15 „Ein gutes Auswahlverfahren hat im Prinzip einen ähnlichen Effekt wie eine (teure) Verbesserung der Studienbedingungen (kleinere Seminare, bessere Betreuungsrelationen etc.): der Output wird besser.“ Vgl. Schmidt-Atzert/Wilhelm, a.a.O., S. 4.
16 Köller, Olaf u. Wilhelm, Oliver, „Feststellung der Eignung für das Psychologiestudium mit Testmodulen“ (Vortrags-Folien), Berlin 2006
17 ITB Consulting GmbH, Informationsbroschüre zum Studierfähigkeitstest für wirtschaftswissenschaftliche Studiengänge an Fachhochschulen, Bonn 2007
18 Vgl. Holzkamp, Klaus, „'Hochbegabung': Wissenschaftlich verantwortbares Konstrukt oder Alltagsvorstellung“, Forum Kritische Psychologie 29, 1992, S. 5-22; Markard, Morus, „Begabung, Motivation, Leistung“, Forum Wissenschaft 15, 1/1998, S. 36-40.
19 Holzkamp, Klaus, Lernen. Subjektwissenschaftliche Grundlegung, Frankfurt/M 1993, S. 190ff.
20 Holzkamp 1993, a.a.O., S. 446f.
Zur Autorin
Vanessa Lux ist Diplom-Psychologin. Sie promoviert an der Freien Universität Berlin zur Bedeutung der modernen Genetik für die psychologische Praxis und ist Stipendiatin der Hans-Böckler-Stiftung.