Weniger Demokratie wagen?Zur Zukunft der Selbstverwaltung der Hochschulen
Als der bayerische Wissenschaftsminister Thomas Goppel unlängst nach dem Erfolgsgeheimnis „seiner“ Universitäten gefragt wurde, die im bundesweiten „Exzellenzwettbewerb“ überdurchschnittlich gut abgeschnitten hatten, erwiderte er: „Wir haben unsere Zeit nicht mit Gruppen-Universitäten und Mitbestimmung verschwendet, sondern uns ganz auf Wissenschaft und Forschung konzentriert“ (in: Forschung & Lehre 4/2006, S.194).
Dieser Ausspruch bringt die Leitgedanken des aktuellen Hochschulumbaus, wie er in den meisten Bundesländern erfolgt, adäquat zum Ausdruck. Muster dieses Umbau ist die Konstruktion einer unternehmensähnlichen Entscheidungsstruktur: alle dirigistischen Kompetenzen konzentrieren sich in der Zentrale (Präsidium, Rektorat), die wiederum von einem externen aufsichtsratsähnlichen Gremium („Hochschulrat“) abhängig ist.
Im Gegenzug werden die Befugnisse der verbliebenen Gremien einer korporativen Selbstverwaltung der Hochschulen nahezu vollständig reduziert. Niemanden scheint dies sonderlich zu stören. Eine gesellschaftliche Diskussion darüber, was durch diesen Umbau gewonnen wird oder – genauso wichtig – an Handlungsmöglichkeiten verloren geht, findet nicht statt. Der folgende Beitrag versucht daher, diese Fragestellung zu politisieren.
Demokratische Hochschule und „Selbstverwaltung“
Dazu ist zunächst anzumerken, dass es keine eindeutige und gesellschaftlich konsensfähige Vorstellung darüber gibt, was normativ unter „Selbstverwaltung“ der Hochschulen zu verstehen ist. In dem Begriff „Selbstverwaltung“ überschneiden sich mindestens zwei Traditionsstränge.
Erstens die Vorstellung einer Selbstverwaltung der Wissenschaft, welche ausschließlich wissenschaftlichen Kriterien und ausdrücklich nicht wissenschaftsexternen politischen Bestimmungen eines – wie auch immer definierten – gesellschaftlichen Nutzens folgt.
Zweitens der genuin politische Gedanke der Mitbestimmung auf der Basis einer (durch Wahlen o. ä.) legitimierten Repräsentation von Interessen in Selbstverwaltungsgremien. Entsprechende Forderungen wurden im Kontext der Hochschulreform seit Mitte der 60er Jahre handlungsleitend.
Ihnen lag eine – insbesondere von Studierenden und akademischem Mittelbau forcierte – Kritik an den autoritären Strukturen der Ordinarienuniversität zugrunde. Diese Kritik transportierte auch eine Polemik gegen eine professorale Praxis, mit der Berufung auf eine „Freiheit der Wissenschaft“ (siehe hierzu auch den Studis Online-Artikel zu Kritischer Wissenschaft) lediglich einen Machtanspruch zu behaupten (der nicht per se „wissenschaftlicher“, sondern durchaus politischer Natur war) bzw. eine Strategie der Immunisierung gegen Kritik zu verfolgen.1
Diese Konflikte wurden in der Folgezeit durch Kompromisslösungen institutionalisiert. Das 1973-Urteil des Bundesverfassungsgerichtes gegen die Drittelparität in Hochschulgremien gestand einerseits die Repräsentation nicht-professoraler Gruppen in diesen Gremien ausdrücklich zu; es schrieb gleichzeitig jedoch eine zwingende Professorenmehrheit in sog. „grundlegenden“ Fragen von Forschung, Lehre und Berufung fest und begründete dies als Ausdruck der „Wissenschaftsfreiheit“ bzw. des grundgesetzlichen Wissenschaftsprivilegs (GG Art. 5,3)
Wissenschaft in Kritik und gesellschaftlicher Verantwortung
Als Zwischenfazit kann daher zunächst folgendes festgehalten werden: Mit dem Gedanken der „Selbstverwaltung“ sind immer Konfliktmodelle verbunden, für welche es keine endgültigen und harmonischen „Lösungen“ gibt. Dies resultiert schon daraus, dass „Politik“ und Interessenvertretung auf der einen und „Wissenschaft“ auf der anderen Seite in ihren spezifischen Steuerungsmechanismen niemals deckungsgleich sein werden.
Wissenschaft reguliert sich über die Kriterien von Erkenntnis und Wahrheit, Politik reguliert sich über Interessen und Mehrheiten. Bekanntlich können Mehrheiten auch unrecht haben, was historisch häufig genug der Fall war. Umgekehrt gilt dies aber ähnlich: Die bloße Deklaration einer Aussage als „wissenschaftlich“ ist kein Schutz vor Kritik oder gesellschaftliche Legitimation; häufig gehen in wissenschaftliche Schlussfolgerungen auch politische Vorurteile und ideologische Annahmen mit ein. Der Zwang zur Begründung wissenschaftlicher Urteile in öffentlichen bzw. politischen Kontexten kann daher auch erkenntnisförderlich sein und Vorurteile bzw. Irrtümer beseitigen helfen.
Anders gesagt: „Wissenschaftlichkeit“ und politische Mitbestimmung stehen nicht zwangsläufig in einem Verhältnis der Unvereinbarkeit, wie dies konservative Professoren nach wie vor behaupten, beide Kriterien können einander auch produktiv ergänzen. Zugespitzt ausgedrückt: Politische Strukturen können auch eine Reflexionsform von Wissenschaft sein.
In den Konflikten und Auseinandersetzungen um adäquate Hochschulstrukturen geht es letztlich immer darum, ohne den Anspruch auf endgültige Lösungen solche Aushandlungsformen zu entwickeln, die reform- und selbsterneuerungsfähig sind, die ein Maximum an öffentlicher Transparenz, gesellschaftlicher Legitimation und demokratischer Mitbestimmung mit einer optimalen Förderung wissenschaftlicher Erkenntnisse verbinden.
Ziele und Wirkungen der aktuellen Reformen:
Weniger Demokratie, mehr Markt
Ausgehend von dieser methodischen Vorbemerkung lassen sich die Konflikte um die aktuelle „Hochschulreform“ besser bestimmen. Die Leitfrage dabei ist, welche Zukunft der Selbstverwaltung in deren politisch dominanten Konzepten und Rezepten vorgesehen ist?
Ich verfechte die These, dass sich ungeachtet von Differenzen in Einzelfragen – etwa die Haltung zu Studiengebühren – die herrschende Hochschulpolitik parteiübergreifend bzw. auf der Ebene von Bund und Ländern in ihren wesentlichen operativen Zielsetzungen weitgehend angeglichen hat (siehe hierzu auch den Studis Online-Artikel zu Kindergärten vs. Bezahlstudium). Dabei identifiziere ich folgende Haupttendenzen2:
Erstens: Die Umstellung der traditionellen auslastungsorientierten Finanzmittelverteilung auf eine Finanzierung nach quantitativ gewichteten Kennziffern der formalen Leistungsmessung. Damit verbunden ist die Inszenierung einer Wettbewerbssituation. Die traditionelle staatliche Mittelzuweisung für die Hochschulen orientiert sich im wesentlichen an der Nachfrage nach Studienplätzen, aus welcher dann Personalstellen und zumutbare Überlast errechnet werden. Dies ist das sog. „Input“-Modell, dem Kritiker aus dem vorwiegend wirtschaftsliberalen Spektrum seit langem vorwerfen, es würde vor allem die Fortschreibung von Besitzständen und eine leistungsindifferente „Verteilung nach Köpfen“ begünstigen – und damit Wettbewerb verhindern!
Schrittweise vollzieht sich aktuell der Übergang zu einem vom New-Public-Management inspirierten „Output“-Modell, dessen Kern darin besteht, die gesamte Palette von „Leistungen“, die an Hochschulen erbracht werden – Studienabschlüsse, Publikationen, eingeworbene Forschungsgelder usf. – formalisiert zu erfassen, zu zählen und in Zeiteinheiten zu messen. Dieses Ergebnis-Ranking ermöglicht dann eine „differenzierte“ Mittelzuteilung unter wettbewerblichen Bedingungen. Das Problem ist dabei nicht so sehr die Dokumentation von Ergebnissen, sondern die wissenschaftsinadäquate Verselbständigung des Motivs der „Zeitersparnis“ als entscheidendem Wettbewerbsvorteil.
Zweitens: Die zunehmende Entmachtung akademisch-korporativer bzw. interessenpolitisch zugeschnittener Selbstverwaltungsgremien zugunsten einer zentralistischen Management-Aufsichtsrats-Entscheidungsstruktur. Die gegenwärtige Hochschulverfassung ist, wie bereits angedeutet, eine Melange verschiedener historischer Schichten, eine Art Kombination aus akademischer Selbstverwaltung (dem Wissenschaftsprivileg des Grundgesetzes Art 5,3 zugeordnet) und politischer Mitbestimmung durch Gremien, die über einen Interessenproporz und Wahlen legitimiert sind. So gesehen sind Hochschulen keine „Unternehmen“, sondern selbstverwaltete Körperschaften.
Dem entgegen besteht der dominierende hochschulrechtliche Trend darin, diese traditionelle „Gruppenuniversität“ in Richtung einer betriebsähnlichen Verfassung umzubauen. Dies wird als zwingende institutionelle Konsequenz von „Profilbildung“ und „Wettbewerbsfähigkeit“ dargestellt. Eckpunkte dieses Umbaus sind a) Reduktion der traditionellen Gremien (Senat, Fachbereichsrat) auf reine Beratungsfunktionen, b) Konzentration von Entscheidungs- und Steuerungskompetenz an der Spitze („starke Leitung“) der jeweiligen Einrichtungen (Rektorat, Präsidium, Dekanat) und c) Einrichtung einer aufsichtsratsähnlichen Ebene externer Mitentscheider („Hochschulräte“), die zunehmend auch Sanktions- und Steuerungsmacht mit Blick auf hochschulintene Angelegenheiten erhält.
Drittens: Schließlich die sukzessive (Teil-)Privatisierung der institutionellen Kosten. Hier ist die Debatte um Studiengebühren und Studienkonten einzuordnen. In letzter Konsequenz geht es dabei nicht – wie häufig unterstellt wird – um die weitere lineare Reduktion öffentlicher Finanzierung, sondern eher um einen Zuwachs im Sinne eines Private Public Partnership-Modells (PPP). Die Annahme lautet dabei, dass je mehr die staatlichen Finanzmittel leistungstransparent und wettbewerblich verteilt werden, die Hochschulen um so mehr Mittel aus zusätzlichen, d.h. überwiegend privaten, Quellen erhalten.
Studiengebühren dienen in herrschenden Konzepten allerdings nicht so sehr als Geldquelle neben anderen, sondern sollen primär der Transformation des individuellen Bildungsverhaltens im Sinne der Humankapitaltheorie dienen: Studiengebühren werden in deren Kontext begriffen als individuelle „Investition“ in das eigene Humankapital, deren Return of investment ein späteres Markteinkommen ist. Also wird ihnen gleichzeitig eine prägende Funktion auf Leistungserwartungen und (verwertungsorientiertes) Lernverhalten – und damit die Eigenschaft eines zentralen Bindemittels im Wettbewerb – zugesprochen.
Zusammengefasst: Eine quasi-betriebswirtschaftliche Binnenorganisation wird mit einer zunehmend wettbewerbsorientierten Prozesssteuerung inhaltlicher Abläufe verbunden. Im Kern läuft dies nicht auf eine Reform der überlieferten Selbstverwaltungsstrukturen hinaus, sondern – im Gegenteil – auf deren Ersetzung durch Mechanismen von Markt, Wettbewerb und Konkurrenz.
Historische Optionen
Begründet wird diese Art Hochschulreform von ihren konzeptionellen Vordenkern wie dem Bertelsmann-Centrum für Hochschulentwicklung (CHE) ausdrücklich anti-politisch: Es wird argumentiert, dass die Hochschulreform der letzten 30-40 Jahre von einer Art „Überpolitisierung“ geprägt war, die zwangsläufig zu bürokratischer Erstarrung, abnehmender Leistung und Verlust (internationaler) Wettbewerbsfähigkeit geführt hätte.3 Diese Diagnose hält einer historischen Überprüfung allerdings kaum stand.
In Anlehnung an Andreas Keller4 gab es in der jüngeren deutschen Geschichte im wesentlichen zwei relevante Hochschulmodelle, die ungeachtet aller Unterschiede zwischen einzelnen Einrichtungen eine länger währende institutionelle Stabilität garantierten: am längsten davon bekanntermaßen das aus der Preußische Universitätsreform (1810) hervorgegangene Humboldtsche Modell, welches sich als kulturstaatlich verfaßte Ordinarienuniversität etablierte.
Dieses Modell beruhte im wesentlichen auf einer wenig formell geregelten patriarchalischen Kooperation und Elitenkooptation der Institutsleiter. Es entsprach einer Wissenschaft auf geringem Vergesellschaftungsniveau, welche vor allem ihrer eigenen Reproduktion und der Ausbildung höherer Staatsbeamter sowie weniger freier Berufe (Ärzte, Anwälte) diente. Daher ist es erklärlich, daß dieser Typus im wesentlichen durch den politischen Druck aus zweierlei Richtungen abgelöst wurde, welche nur partiell etwas gemeinsam hatten: dem Demokratisierungsdruck der 68er-Studentenbewegung und des damaligen akademischen Mittelbaus sowie dem wissenschaftlich-technologischen Modernisierungsbedarf der wirtschaftlichen und staatlichen Eliten.
Aus diesen Konflikten und Kämpfen der Hochschulreformperiode ging schließlich ein durch die 1976er-Fassung des Hochschulrahmengesetzes (HRG) abgesegnetes neues (zweites) Modell hervor, welches sich präzise bezeichnen läßt als staatlich regulierte und professorendominierte Gruppenhochschule.
Durch die Bezeichnung soll darauf hingewiesen werden, dass es sich bei diesem Modell nicht um einen authentischen Ausdruck demokratischer Bildungsreformen handelte, sondern um einen bürokratischen Kompromiß „nach hinten“, welcher folglich gegen wesentlich weitergehende Vorstellungen demokratischer Selbstverwaltung und gesellschaftlicher Verantwortung durchgedrückt wurde, die während der ca. 10 Jahre davor in der hochschulpolitischen Öffentlichkeit verhandelt wurden.
Anders gesagt: in dem Maße wie hochschulinterne Demokratie abgebaut wurde – wofür das Karlsruher „Mitbestimmungsurteil“ von 1973 einen Meilenstein setzte (s.o.) – wurde statt dessen stärker über staatliche Ver- und Gebote bzw. bürokratische Auflagen gesteuert. Diese sind daher keineswegs die Ultima Ratio eines politischen Verständnisses von Selbstverwaltung. Folglich ist auch eine Martktverfassung nicht im geringsten die einzige „sachzwanglogische“ Alternative zur Ablösung der gegenwärtigen etatistisch-bürokratischen Gruppenhochschule.
Dieses 30jährige „zweite“ Modell wird aktuell durch etwas drittes und völlig neuartiges abgelöst, von dessen, politisch keineswegs entschiedener, endgültiger Ausprägung wir noch keine Vorstellung haben. Stark vereinfacht lassen sich zwei Optionen politisch beschreiben:
1. ein reines Wettbewerbsmodell ohne genuin politische Selbstverwaltungs- und öffentliche Legitimationsstrukturen, ein sehr deutlich entstaatlichtes – und damit entbürokratisiertes – Bildungssystem; 2. ein demokratisch selbstverwaltetes wissenschaftliches Bildungssystem von hoher sozialer Durchlässigkeit und gesellschaftlicher Relevanz.
Was können (und müssen) wir tun?
Es bedarf keiner besonderen Begründung, dass die erste Option unter den gegenwärtigen politischen Kräfteverhältnissen dominierend ist. Damit ist aber noch längst nichts entschieden. Wenn wir das Blatt wenden wollen, müssen wir eine Strategie und überzeugende bildungspolitische Programmatik im Sinne der zweiten Alternative entwickeln. Die Alternative lautet also nicht „Status Quo versus Modernisierung der Hochschulen!“, sie lautet vielmehr „Demokratische Modernisierung und soziale Öffnung versus ökonomische Deregulierung!“
Diese Auseinandersetzung wird auf dem Feld des gesellschaftlichen Nutzens bzw. der Relevanz von Bildung und Wissenschaft entschieden. Eine Schlüsselfrage könnte etwa lauten: Was wird mit ökonomischer Deregulierung und der Durchsetzung einer Marktverfassung anstelle akademisch-politischer Selbstverwaltung an gesellschaftlichen Optionen und Handlungsspielräumen gewonnen und was geht eventuell dabei verloren?
Ich möchte dies an einem kurzen Beispiel der Studienreformdebatte illustrieren.5 Ich beobachte etwa seit mehr als 10 Jahren eine Kontroverse um die Reform der Ingenieurausbildung, die sich im Kern in den letzten 100 Jahren kaum verändert hat (natürlich in den fachlichen Inhalten, aber nicht so sehr im Aufbau des Studiums). Wie man sich denken kann, gibt es in dieser Kontroverse verschiedene Standpunkte und Konzepte. Die IG Metall, die sich hier engagiert, vertritt andere Positionen als die Arbeitgeber der Metallindustrie. Man könnte weitere gesellschaftliche Positionen hinzu nehmen, weil etwa auch die Ökologiebewegung – Stichwort: „Technikfolgenabschätzung“ – Anforderungen an Technologieentwicklung und -ausbildung formuliert hat. Ich lasse es jetzt aber mal bewusst bei den beiden erstgenannten Standpunkten.
Bei näherem Hinsehen ist die Ursache für diese unterschiedlichen Anforderungen an Studienreform keine akademische Differenz, sie liegt vielmehr in unterschiedlichen gesellschaftlichen Interessen: Die Unternehmer etwa bewerten Technologie vor allem vom Standpunkt ihrer „Wettbewerbsfähigkeit“ bzw. der Einsparung lebendiger Arbeit (und stellen so Ansprüche an die Qualifikation von Ingenieuren). Die Gewerkschaften hingegen beurteilen Technologie stärker vom Anspruch der Arbeitsqualität und der Beschäftigungssicherheit bzw. – wenn sie strategisch denken – auch unter dem Aspekt der Arbeitszeitverkürzung und entsprechenden gesellschaftlichen Umverteilung von Arbeit.
Was hat diese Kontroverse nun für Konsequenzen für die Studienreform? Diese Konsequenzen können m.E. nicht darin bestehen, sich voluntaristisch oder durch bloße Macht für eines dieser Konzepte zu entscheiden. Es sollte vielmehr darum gehen, diese unterschiedlichen gesellschaftlichen Interessen an Ausbildung, Wissenschaft und Technik – d.h. ihre kritische Bewertung und Reflexion – selbst zum Thema im Studium zu machen.
Dies erfordert zwangsläufig Studierende, die Beteiligte sind – und folglich keine Kunden –, Beteiligte in der Gestaltung ihres Studiums ebenso wie bei der Studienreform, weil sie in diesen Vorgängen und Widersprüchen gleichzeitig ihre aktuellen Bildungsinteressen und künftigen Berufsinteressen ergebnisoffen reflektieren und abwägen können.
An diesem Beispiel lässt sich verdeutlichen, wie hochschulinterne Anforderungen demokratischer Partizipation in einem engen Zusammenhang stehen mit der kritischen „Hineinnahme“ gesellschaftlicher Interessen in die Hochschulausbildung. Gleichzeitig eröffnet dies auch die Perspektive einer Kooperation mit vielfältigen gesellschaftlichen Gruppierungen. Die ursprüngliche Idee der Kuratorialverfassung zielte auf diesen Gedanken.
Das Fazit lautet an dieser Stelle: Ein solches Verständnis von Selbstverwaltung und gesellschaftlicher Kooperation ist nur innerhalb eines politisch verfassten Hochschulsystems realisierbar.
Bei Nichthandeln würde gesellschaftliche Mitbestimmung unmöglich gemacht
Man könnte den geschilderten Konflikt natürlich auch auf andere Weise lösen. Die verschiedenen Thinks Tanks, welche die Konzepte für die gegenwärtige Hauptrichtung von Hochschulreform liefern, argumentieren etwa wie folgt: Sie räumen unumwunden ein, dass es konkurrierende gesellschaftliche Interessen gibt, delegieren dann allerdings die Entscheidung zwischen diesen an eine andere Instanz. „Markt“ und „Wettbewerb“ sollen über die „besten“ Studienangebote entscheiden!
Über die Qualität eines Angebots der Ingenieurausbildung befindet dann der Arbeitsmarkt. Das ist scheinbar neutral und fair. Aber eben nur scheinbar. In Wirklichkeit „entscheidet“ nämlich gar nicht der Markt, sondern es setzen sich diejenigen durch, die auf diesem Markt die stärkste Position haben, weil sie etwa die akademischen Arbeitskräfte einstellen – oder eben auch nicht! Es handelt sich um die gewerbliche Wirtschaft, welche auf diese Weise auch darüber Einfluss ausübt, was an der Hochschule passiert.
Wenn dieses Modell von „Arbeitsmarktorientierung“ verwirklicht würde – welches nicht gleichbedeutend ist mit Praxisorientierung! –, bedeutete das nicht, dass die eingangs erwähnten Interessen im Prozess selbst „verschwänden“ und an ihre Stelle etwa eine neutrale Sachzwanglogik treten würde. Diese Interessen würden vielmehr unsichtbar gemacht und wären folglich politisch nicht mehr verhandelbar bzw. demokratisch beeinflussbar.
Politisch ungebändigte Marktprozesse fördern unter dem bloßen Anschein eines „Sachzwangs“ immer das „Recht der Stärksten“ gegen die Interessen der vielen. Damit wird aber auch zugleich die thematische Breite wissenschaftlicher Fragestellungen, die etwa im Studium relevant sind, eingeschränkt; ebenso eingeschränkt wird folglich der potentielle gesellschaftliche Gebrauchswert, der mögliche Nutzen wissenschaftlicher Qualifikationen gemessen an der gesamte Spannbreite gesellschaftlicher Interessen. An einem solchen Hochschulsystem kann wiederum kein öffentliches Interesse bestehen.
Notwendig ist eine öffentliche Debatte über Ziel und Sinn von Wissenschaft
Wenn es gelingt, diese Kritik stärker in die Öffentlichkeit zu tragen und mit einer glaubwürdigen Perspektive demokratischer Selbstverwaltung und sozialer Öffnung der Hochschulen zu verbinden, ist das letzte Wort über die Richtung der Reformen noch nicht gesprochen.
Fußnoten
1 Als grundsätzliche historisch-kritische Analyse der traditionellen Universität in Verbindung mit einer daraus abgeleiteten demokratischen Reformperspektive überzeugt noch heute die sog. „Hochschuldenkschrift“ des Sozialistischen Deutschen Studentenbundes (SDS): Nitsch, Wolfgang; Gerhardt, Uta; Offe, Claus; Preuß, Ulrich K.: Hochschule in der Demokratie – Kritische Beiträge zur Erbschaft und Reform der deutschen Universität. Berlin/Neuwied 1965
2 Vgl. für das folgende auch mein Referat auf der BdWi-Herbstakademie 2003. Erschienen: Bultmann, Torsten: Zur aktuellen Transformation der Wissenssysteme. In: Kaindl, Christina (Hrsg.): Kritische Wissenschaft im Neoliberalismus. Marburg 2005. S. 11 - 16
3 vgl. etwa exemplarisch: Müller-Böling, Detlef: Die entfesselte Hochschule. Gütersloh 2000
4 Keller, Andreas: Hochschulreform und Hochschulrevolte – Selbstverwaltung und Mitbestimmung in der Ordinarienuniversität, der Gruppenhochschule und der Hochschule des 21. Jahrhunderts. Marburg 2000; für das folgende vgl. insbesondere: S. 30ff; 155; 166ff
5 Das Thema „Studienreform“ ist heute weitgehend auf die technokratisch inszenierte Sachzwanglogik eines vorgeblichen „Bologna-Prozesses“ reduziert worden. Zu den grundsätzlichen gesellschaftlichen und bildungspolitischen Kontroversen, die in der Fragestellung liegen, vgl. demgegenüber: Bultmann, Torsten; Weitkamp, Rolf: Hochschule in der Ökonomie – Zwischen Humboldt und Standort Deutschland (2. überarb. und erw. Auflg.). Marburg 1999; S. 89 - 101
Hinweis:
Der vorliegende Text beruht auf einem Vortrag auf dem Seminar der StipendiatInnen der Friedrich-Ebert-Stiftung am 7.10.2004 in Bonn. Er wurde für die aktuelle Fassung vom Autoren leicht überarbeitet.
Der Autor
Torsten Bultmann, Jg. 1954, Bonn, studierte Geschichte, Germanistik und Pädagogik, arbeitete lange in der Studierendenbewegung und interessiert sich auch heute noch zäh für Hochschulpolitik. Er ist Bundesgeschäftsführer des Bund demokratischer Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler (BdWi).