Plínio Prado - Die Universität, das Selbst und der gegenwärtige Markt
Leseprobe aus "Unbedingte Universitäten: Was passiert? Stellungnahmen zur Lage der Universität"; Erschienen im Verlag Diaphanes; 2010;
Mit freundlicher Genehmigung des Verlags Diaphanes
In memoriam Daniel Bensaïd
Im Jahr 1984 - dem Jahr, das George Orwells Roman seinen Namen gab - veröffentlicht Michel Foucault Die Sorge um sich. Der Orwell’sche Roman stellt den Widerstand dar, den das Selbst (in der Form von Tagebucheinträgen, des Schreibens und der Liebe) dem totalitären Unternehmen seiner Vernichtung entgegensetzt. Der Essay von Foucault ruft hierzu in Erinnerung, dass die Beziehung des Selbst zu sich selbst das Herzstück der Praxis der antiken Schulen der Lebenskunst ausmacht und dass diese Beziehung das letzte Mittel des Widerstands bleibt, um sich den derzeitigen Bestrebungen einer Unterjochung des Geistes zu widersetzen.
Indem er diese Lehre im Herzen der Universität verankert, ruft er ihren zentralen und grundlegenden historischen Kern wieder in Erinnerung und erweckt ihn gleichzeitig wieder zum Leben. Dieser Kern der Universität ist das unmittelbare Erbe der Forderung (der Kultur) nach einer Ausbildung des Selbst und dessen, was man sein soll. Als eine Stätte, an der sich Wissen und Kultur bilden und sich selbst denken, als ein Ort, an dem die Zukunft Gestalt annimmt, muss sich die Universität mit den Leitfragen auseinandersetzen, die schon immer die Erfahrung und Praxis des Selbst an den Schulen der Lebenskunst beschäftigt haben - jene Fragen also, welche die Bedeutung des Menschen, seine Bestimmung sowie die Mittel, sie zu erfüllen, betreffen. Dies zeugt von der grundlegenden Berufung der Universität zur Ausbildung - und dies im starken Sinne einer Ausbildung des Geistes, ja sogar der Persönlichkeit (von Erasmus bis Newman, von Schopenhauer bis Foucault und darüber hinaus). Wenn man "nicht als Mensch geboren wird, sondern erst zu einem Menschen wird" ("homo fit, non nascitur"), so muss es die primäre Aufgabe der Universität - ihre wesentliche Verantwortung - sein, auf dieses Werden der Individuen zu achten, indem sie jedem Einzelnen die Quellen, Mittel und Chancen bietet, das werden zu können, was dieser Einzelne sein soll. Dies macht die Universität per definitionem unnachgiebig gegenüber jedwedem System, das lediglich über rein operationelle Kompetenzen verfügt.
Indem die Führungskräfte und allgemeiner auch ganz Europa heute mit Nachdruck versuchen, die universitäre Forschung und Lehre an die Interessen des Unternehmertums und des Marktwettbewerbs anzupassen (wobei sie hierbei den Leitlinien des weltweiten Liberalismus folgen), drohen sie dieses existenzielle, historische Zentrum der Universität aufzulösen. Sei es nun menschlich oder unmenschlich, sei es Sorge um sich oder rein genetische Sorge, gut oder schlecht, Kultur oder Barbarei - all das kümmert sie dabei wenig. Das einzige, was für sie zählt, ist das Gesetz der Kapitalrendite, will heißen, die Ausweitung der Leistungs- und Mehrwertsteigerung auf alles, also auf Sprache, Wissen, Leben, Menschlichkeit, Körper und Seele. Es geht also nicht mehr darum, das zu werden, was man sein soll, man muss lediglich austauschbar sein (das heißt veränderbar, ersetzbar, marktfähig), was das kapitalistische und damit prostituierende Schicksal einer jeden Sache ausmacht. Geboren, um zu sterben: ein vergebliches Leben, ein schon totes Leben.
Der Staat muss also Sokrates nicht länger zum Tode verurteilen (aus Gründen der 'Uneigennützigkeit' [désintéressement], wie man herablassend am European Round Table of Industrialists sagt, das heißt, weil er die jungen Leute dazu anregte, ihr Interesse vom System abzuwenden, um sich mehr um sich selbst, um ihr Leben und ihre Bestimmung zu kümmern), es genügt den sokratischen Appell unvernehmbar zu machen. Dazu bedarf es lediglich eines Alkibiades, der die Regel des ökonomischen Tausches (das Gesetz des Marktes) 'einführt', indem er sich vom Student zum Kunden macht, der nur noch einen Bezug zu vorgefertigtem Wissen hat, das außerhalb seiner selbst liegt, ein 'Produkt', das man kaufen muss, um später auf dem Markt der 'Qualifikationen' etwas wert zu sein.
Aber indem er sich die Normen und Reflexe des Marktakteurs einverleibt, wird Alkibiades hilflos und fügt sich in existenzieller Weise in sein Schicksal (er verkauft seine Seele). Auslieferung, Vergessen (des eigenen Selbst) und Willensschwäche. Diesen Zustand nennt man heute den 'Überdruss am Selbst', auch bekannt unter dem Namen Depression oder Burnout. Das Verbot, das sich der Entwicklung, also der Ausbildung dessen, was man sein soll, entgegenstellt, charakterisiert heute (im Jahr 2010) unser '1984'.
Wie steht es also um den Bezug des Selbst zu sich selbst als letztes Mittel des Widerstandes (im zugleich Orwell’schen wie Foucault’schen Sinne) gegen den managerhaften Neusprech und gegen die Warenbarbarei, die diese Sprache fördert?
Der weltweite liberale Kapitalismus in seinem 'kognitiven' Stadium, der sich auf die 'Ökonomie des Wissens' gründet, kann noch so sehr versuchen, die Universität in ein Unternehmen und die autonome Lehrendenbeziehung (universitas) in eine Handelsbeziehung zwischen Dienstleistern und Kunden umzuformen, er wird trotzdem von den Aktivitäten des Geistes nur profitieren (sie mobilisieren, erforschen und kontrollieren …), wenn er einem nicht kontrollierten, nicht zielgerichteten, zweckfreien und funktionslosen Raum das Existenzrecht zugesteht, der konstitutiv für das Wesen der Universität selbst ist, und der immer in Frage gestellt werden muss, auch von sich und durch sich selbst. Denn gerade indem der liberale Kapitalismus die Aktivitäten des Geistes für sich in Anspruch nehmen, sie 'anpassen' und um jeden Preis managen will (und dabei natürlich immer schon ihr kritisches Potenzial neutralisiert), lähmt, sterilisiert und vertrocknet er diese letzten Endes. Wenn die Aktivitäten des Geistes zu sehr erstickt werden, entfalten sie sich schließlich, wie es Steinbrecher tun, an anderer Stelle und unter anderen Formen. Die derzeitigen 'Reformer' täten besser daran, hierüber einmal nachzudenken.
Denn sie scheinen heute den Sieg davonzutragen (zwar sicherlich nicht auf dem Felde der geführten Diskussion, sondern ausschließlich im reinen Kräftemessen); indessen, indem sie sich auf ihre Verachtung gegenüber der Arbeit (des Geistes) - die sich an der Universität ausbreitet - versteifen, werden sie nur Erfolg haben, indem sie das zerstören, was sie zu fördern vorgeben, indem sie also Forschung und Lehre mit sich in ihren Untergang fortreißen. Und das wird die Stunde der Auflösung des Verstandes sein.
Nicht etwa ein 68er-Abkömmling, sondern die Präsidentin von Harvard (also jener Universität, die im Ranking, für das die 'Reformer' eine so große Vorliebe haben, Platz 1 belegt) hat so deutlich wie nur möglich gewarnt: Es gibt und wird keine Universität geben, die ihres Namens würdig ist, wenn sie sich nicht von Natur aus "einer Agitationskultur, ja einer Kultur des schöpferischen Ungehorsams" verschreibt.
Aber was ist diese kritische und schöpferische Agitationskultur, wenn nicht das Wesen der Universität, die jenen Ort absteckt, an dem grundlegendes Forschen und Lehren untrennbar, nicht funktionalisierbar und zu keinem Nutzen verplichtet ist? Dies ist die zentrale Zielscheibe der derzeitigen neoliberalen Angriffe, die eine unmittelbare Verletzung all jener Bereiche nach sich ziehen, die in direkter Weise mit der Frage nach dem Menschen, seinem Sinn und seinen Zwecken zu tun haben, also mit den modernen Humanities, der Kunst, Literatur, Philosophie und den kritischen Humanwissenschaften.
Infolgedessen versteht man, dass diese Humanities, die sich viel mehr auf der Höhe heutiger Herausforderungen befinden als die kleine Manager-Ideologie der neuen Führungskräfte, eine grundlegende Rolle für die zeitgenössische und künftige Universität spielen müssen. Jene Universität, in der die Zeit der freien und öffentlichen Ausübung des Denkens, der Forschung und der Lehre als absolut unverletzlich, geschützt und begünstigt anerkannt werden muss.
Das ist die Bedingung, unter der die Universität ihrem Prinzip entsprechend der Ort sein kann, an dem Männern und Frauen heutzutage noch eine Chance gegeben wird, sich zu dem zu entwickeln, was sie sein sollen.
Aus dem Französischen von Regina Karl
Leseprobe aus: "Unbedingte Universitäten: Was passiert? Stellungnahmen zur Lage der Universität", 2010, Diaphanes, 416 Seiten, 17 EUR
Mit freundlicher Genehmigung des Verlags Diaphanes
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