Rahel Sophia Süß - Denken hilft
Leseprobe aus "Uni brennt - Grundsätzliches, Kritisches, Atmosphärisches"; Erschienen im Verlag Turia + Kant; 2010;
Mit freundlicher Genehmigung des Verlags Turia + Kant
Ich bin jetzt 22 Jahre alt und niemand hat mich jemals gefragt, was ich darüber denke. Möchtest du wissen, was ich darüber denke? Ich denke... ich weiß es nicht. Ich kann dir aber sagen, was ich fühle. Möchtest du wissen, was ich empfinde bei dem hier? - Nichts, Leere, Gleichgültigkeit. Angst. Suche dir was aus.
Bist du schon mal Menschen begegnet und wusstest nicht, worüber du mit ihnen reden solltest? So geht es mir ständig. Zum Beispiel sitze ich in der Mensa der Universität Wien und starre auf meinen Teller, um den langweiligen Gesprächen über den Unialltag auszuweichen. Du kannst mir fehlende Neugierde oder auch Arroganz vorwerfen, aber mal ehrlich, worüber soll ich noch reden? Vielleicht über meine belegten Kurse, die mich einerseits überhaupt nicht interessieren, jedoch in der Voraussetzungskette festgeschrieben sind? Oder über den Rhetorikkurs und das Bewerbungstraining für Studierende im ersten Semester? Darüber, dass ich dir gerne einen Platz neben mir auf den Stufen frei halte? Vielleicht sollte ich über meine hervorragenden Berufsaussichten reden? Darüber, dass ich mich gegen 700 BewerberInnen durchgesetzt habe und als Praktikantin in der Lobby der Chemieindustrie zu mehr Bewusstsein in der Bevölkerung aufrufen darf. Bei diesen Aussichten flüchte ich mich doch lieber in einen inneren Monolog und mache mir Gedanken über den Jungen in der U-Bahn und sein T-Shirt mit der Aufschrift "Denken hilft!".
Ich würde diese Aufschrift auf dem T-Shirt durch eine Gefahrenwarnung ergänzen oder besser noch, in einer Fußzeile auf die Nebenwirkungen hinweisen: "Vorsicht, wer denkt, nachdenkt, quer denkt, anders denkt, der oder die lebt gefährlich. Bitte denke nicht nach! Es könnte sehr gefährlich für dich werden. Lehne dich zurück und bade dich in der Gewissheit! Stelle keine Fragen und erhebe nicht den Anspruch die Welt zu durchdringen! Warum nicht? Aus dem einfachen Grund, weil es hier geschrieben steht! Außerdem möchte niemand die Verantwortung dafür übernehmen, dass du in einen Abgrund von Schwermut und Tränen der Verzweiflung stürzt, auch über das eigene verpfuschte Dasein."
Beim Schreiben dieser Zeilen denke ich an die großen Mediengesellschaften, wie sie in ihrer Großzügigkeit nach unserem Leben greifen und mit Hingabe Desinformation betreiben. Aufgebläht von so viel Ungeist, laufen wir mit aufgeplustertem Gefieder verwirrt durch die Straßen, aneinander vorbei, mit gesenkten Blicken und zugenähten Mündern. Wer den kritischen Geist nicht in der täglichen Medienberichterstattung findet, wird ihn schließlich auf den Universitäten suchen. Doch die Einsicht ist erschreckend. Heute ziehen uns unsere ignoranten Denkgebäude an einer Leine hinter sich her und in die Hörsäle hinein. Wo aber versteckt sich das intellektuelle Selbstbewusstsein ganzer Generationen? Wenn du ganz leise bist, kannst du hören, wie Experten und vereinzelt auch Expertinnen versuchen, uns etwas ins Ohr zu flüstern. Nicht zu vergessen die ProfessorInnen. Wir schauen sie mit unseren großen Augen an. In Erwartung darauf, dass sie uns einen kritischen Geist einhauchen, erklären sie uns die Vorteile des Freihandels. Ich blicke mich suchend nach der ergänzenden zweiten Folie um und frage mich, welche Interessen hier vertreten werden? Während die Köpfe im Hörsaal zustimmend nicken, warte ich ungeduldig auf das verbale Echo unseres nonverbalen Ausdrucks um Erkenntnis zu betteln. Ein lautes Schweigen tritt an die Stelle eines kritischen Diskurses über die Vor- und Nachteile des globalen Freihandels. Ich bin erschrocken über so viel Widerspruch. Sprechen wir doch so gerne in einem Atemzug von westlicher Moderne und Wissensgesellschaft, von Aufklärung, Gleichheit, Freiheit und Demokratie. Und verschweigen in eben diesem Atemzug das Selbstbild der Wissensreproduktion, Vereinheitlichung, Bildungseliten und dass Wissen als Material dazu verpflichtet ist, einen Ertrag einzubringen.
"Willkommen im Unternehmen Leben!", wie es einladend in einem Werbespot einer Versicherungsgesellschaft heißt, und wer möchte dieser Philosophie, oder sollte ich besser sagen Ideologie, noch widersprechen? Vielleicht die Universitäten?
Während der große Aktionismus ausbleibt, belebt sich in einigen Zimmern der Stadt der Protest um der Unschuld des Landes ein Fenster zu öffnen. Noch etwas zerbrechlich und verkopft, aber schon ein erster Anfang. Zugegeben, der persönliche Druck wächst. Die Tyrannei der Selbstdisziplin klebt an unserer jungen Generation. Und sollten Einsicht und Erkenntnis meine Anstrengungen belohnen, wer würde sich für das, was ich zu sagen hätte, interessieren? Wer würde mir zuhören und nachfragen, warum ich der Meinung bin, dass das Verhältnis von Lehrenden und Studierenden nicht akzeptabel ist? Niemand! Schließlich kann ich immer noch meine Bachelorarbeit über dieses Thema schreiben. Gibt es noch einen anderen Grund, warum ich nachdenken sollte? Dann soll sich Kant doch hämisch in seiner Überzeugung der selbstverschuldeten Unmündigkeit bestätigt wissen, ich aber lege mich auf das Sofa, schalte den Fernseher ein und glotze. Ich bin zufrieden, es ist warm, und solange der Fernseher läuft, brauche ich nicht über mein Leben nachdenken. Sollen doch die anderen sich mit ihrem Leben herumschlagen. Ich beobachte und schweige zu meinem Leben. Doch das Schweigen dauert zu lange an. Die Stille wird zu laut. Ich laufe von einer Seite meines Zimmers zur anderen und wieder zurück, atme tief ein und wieder aus, um dann den gesamten Vorgang fortzusetzen.
Vor dem Fenster bleibe ich stehen. Ich drücke meine Nase in den kleinen Spalt zwischen draußen und Scheibe und versuchte aus dem Fenster gelehnt, etwas von der kühlen Frische einzufangen. Der eisige Wind, der hineinbläst, tanzt mit den dunklen Haarsträhnen und greift etwas unsanft in die langen Gräser auf dem Fensterbrett, schüttelt sie, bringt kleinere Äste zum Knacken und flüstert zum Abschied ein baldiges Wiedersehen. Bei diesem Gruß räuspern sich kurz ein paar Seiten der Skripten, Mitschriften und Nachschlagewerke, die sich zu hohen Türmen gestapelt, an der Wand anlehnen dürfen. Das dunkle Holz der Dielen trägt den Duft von Rastlosem.
Ich möchte hinübergehen und mein Essay Korrektur lesen. Ich möchte den prüfungsrelevanten Text noch einmal durchgehen und meine Notizen ergänzen, die Lehrveranstaltung für morgen vorbereiten und die Spanisch-Vokabeln lernen. Ich mache nichts davon.
Stattdessen starre ich aus dem Fenster, hinunter auf die große Kreuzung, wo sich die Autos vorbei schieben und jemand mit einem Hammer, ein großes rotes Schild in den Boden schlägt. Ein Mann im weißen Jogginganzug zieht seinen Hund von der Straßenlaterne weg. Eine Frau schreit etwas in ihr Handy hinein. Ich beobachte eine Weile ihre kurzen und beleibten Beine, die in ungeduldigen Absätzen stecken. Ihre weiße, fettige Gesichtsfarbe schimmert im Licht und trägt den Rest grauer Fäden, dessen Enden sich in das Dunkel eines Haarnetzes flüchten. Ich sehe dem jungen Paar auf der anderen Straßenseite zu, welches in der Umarmung verschlungen eine Parfümflasche auf ihren Köpfen balanciert. Während die nackte Haut unter dem Schein der Neonröhren tanzt, starren die Menschen gelangweilt in die Richtung, aus der sich der Bus nähert. Kinderlachen schallt aus dem ersten Stockwerk hoch. Dann ist es wieder still. Wann habe ich mir das letzte Mal so viel Zeit genommen, nichts zu tun außer zu beobachten? Ich erinnere mich nicht.
Ich stelle den braunen Kasten mit den Gräsern auf den Boden, zähle elf tote Fliegen und lege sie zu den anderen in die graue Pappschachtel. Ich setze mich auf das Fensterbrett. Während mein Blick ins Dunkel eintaucht, versuche ich meine Gedanken aus dem Dunkel zu retten. Denn wieder habe ich nicht nachgedacht. Wieder einen Tag nicht nachgefragt. Wen auch? Die Verführung zur Erkenntnis blieb aus. Und die Sehnsucht zu erkennen verbeugt sich vor dem Zwang zur Gefälligkeit oder schlicht falsch verstandener Solidarität. Hurra! Die Gesellschaft hat munter eine Vielzahl OpportunistInnen ihrer Freiheit beraubt. Und wen interessiert das? Niemanden! Und weil niemand unangenehm auffallen will, ertränken wir uns im Kollektiv der Denkfaulheit und Reproduktion der Zwänge unserer materiellen Bedürfnisbefriedigung. Wer möchte heute diesen Konsens noch anzweifeln? Oder vielleicht einen neuen anbieten? Ehrlich gesagt, es bedarf schon großen Mutes, gesellschaftliche Konzeptionen und sein Selbstkonzept zu hinterfragen. Ich rufe hiermit zur Verschwendung auf: "Haben wir Mut zur Einsicht, Erkenntnis und Selbsterkenntnis".
Ich sehe ein, dass das Gewicht der Zeit, oder sollte ich sagen der Bologna-Reform, die kleinen Keimlinge der Erkenntnis unter ihrer Last zerdrückt hat. Mit der Zeit ist vieles in den Gärten zahlreicher Universitäten verblüht, unsere Fantasie verdorrt, unsere Sehnsucht nach Geist, Reflexion und Kreativität vertrocknet und unsere Bereitschaft etwas zu riskieren, ist den Krähen zum Opfer gefallen. Zu wenig Regen, zu wenig Sonne und ein fruchtloser Boden. Was heute als mickriger Stumpf in meinem Garten vor sich hinvegetiert, ist eine witzlose Kontrollfreakin mit Referenzen zur Klugscheißerin und Arschloch. Ich frage mich, ob ich dieser Mensch wirklich bin? Wann habe ich mich für diese regelmäßigen Impfungen gegen selbstständiges Denken und selbstverantwortliches Handeln entschieden?
Eigentlich hatte ich mir vorgenommen, mich neben dem Studium in einer sozialen Einrichtung der Stadt zu engagieren. Ich wollte etwas mit und für Menschen machen und nach meinen Möglichkeiten die Gesellschaft aktiv mit gestalten. Wie der Träger des Sozialprojekts heißt, bei dem ich jetzt mithelfe? Das bin ich und zu meinen Aktivitäten ist zu sagen, dass ich mich täglich ins Zimmer einschließe und meine Leistungspunkte zähle. Ich frage mich, ob ich genug leiste, und suche außerdem eine Antwort auf die Frage, ob ich mich für das richtige Studium entschieden habe? Mich diesen Zweifeln hinzugeben ist mit Blick auf mein Zeitmanagement als grob fahrlässig zu bewerten. Dennoch gönne ich mir manchmal diesen Luxus, über mein Selbstkonzept und über die Leichtigkeit des Seins als Boykott von verschwendeter Aufmerksamkeit auf das Werden nachzudenken? Dafür lege ich jeden Monat etwas von meinem verdienten Geld zur Seite um die Studiengebühren bezahlen zu können, nachdem ich die Studienregelzeit überschritten habe.
Eigentlich habe ich mir vorgenommen, neben dem Studieren Cellounterricht zu nehmen und ich würde gerne meine Russischsprachkenntnisse vertiefen. Und sowieso möchte ich mich mal wieder richtig verlieben. Andererseits möchte ich meinen guten Notenschnitt nicht riskieren und meinen Masterstudienplatz nicht verspielen. Deshalb entscheide ich mich dafür, das Leben aus einer zärtlichen Distanz zu betrachten und nur im absoluten Notfall einzugreifen. Ist das "Füttern verboten!"-Schild, welches jemand auf der Kreuzung vor der großen Bankfiliale aufgestellt hat, ein solcher Notfall? Oder, dass wir, die junge Generation, unsere Ideale in ausgewaschene Joghurtbecher pflanzen und uns von Medien und Universitätsstrukturen bevormunden lassen? Ja, ich denke, das ist ein solcher Notfall!
Leseprobe aus: "Uni brennt! Grundsätzliches, Kritisches, Atmosphärisches", 2010, Turia + Kant, 318 Seiten, 24 EUR
Mit freundlicher Genehmigung des Verlags Turia + Kant
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