Hintergrundtexte zum Thema Bildungsstreik und -reformStreik – aber dann?
Vorbemerkung zum Text
Über den Bund demokratischer Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler (BdWi)
Seit seiner Gründung 1968 engagiert sich der BdWi für eine Wissenschaft in gesellschaftlicher Verantwortung. Er bezieht auf Kongressen, in wissenschaftlichen Publikationen und politischen Stellungnahmen öffentlich Position zu Fragen von Wissenschaft, Forschung und Hochschulentwicklung. Im BdWi haben sich über tausend Natur-, Geistes- und SozialwissenschaftlerInnen zusammengeschlossen. Sie alle verbindet ihr gemeinsames Interesse an einer emanzipatorischen Wissenschafts- und Bildungspolitik.
Der BdWi lebt dabei von seinen Mitgliedern: Sie finanzieren die Arbeit und engagieren sich ehrenamtlich. Ob ProfessorIn, WissenschaftlerIn oder Studierende – gemeinsam versuchen die Mitglieder des BdWi, die bildungs- und wissenschaftspolitische Debatte zu beeinflussen.
Weitere Informationen auch zur Mitgliedschaft finden sich unter www.bdwi.de.
Harald Pittel hat im Jahr 2004 ein erstes Resümee der Streiks gegen Bildungs- und Sozialabbau aus den Jahren 2002ff. gezogen. Er ordnet die Bedeutung der Streiks gesamtgesellschaftlich ein und grenzt die Proteste gegen den Lucky Streik von 1997 ab. Aus heutiger Sicht scheinen vor allem zwei Punkte bedenkenswert: Erstens fordert Pittel eine erheblich stärkere Vernetzung der Studierendenschaften auch mit anderen Akteuren wie den Gewerkschaften ein, um tatsächlich wirkungsvoll gegen Bildungs- und Sozialabbau vorgehen zu können. Bei allen verbleibenden Problemen war die Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft beim Bildungsstreik 2009 prominent bei Planung und Durchführung vertreten, so dass diese Aufforderung zumindest im Ansatz befolgt wurde. Zweitens macht Pittel eine gewisse inhaltliche Beliebigkeit der studentischen Forderungen aus, da den Streikenden eine Agenda fehle, um in der Folge Positionen auch durchsetzen zu können. Eine Situation, die der heutigen nicht ganz unähnlich ist. Die Streikenden haben sich ein Feld eröffnet – und es fehlt die Agenda, dieses Feld auch zu bespielen.
Der Text von Harald Pittel ist zuerst erschienen in: Bund demokratischer Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler (BdWi) / freier zusammenschluss von studentInnenschaften (fzs): Studiengebühren, Elitekonzeptionen & Agenda 2010, Marburg 2004. Weitere Informationen und Bestellmöglichkeiten unter
https://www.bdwi.de/verlag/gesamtkatalog/98695.html
"Streik – aber dann?"
Politische Perspektiven der studentischen Proteste
Die studentische Streikwelle im Wintersemester 2003/04 kam massiv und unerwartet. Wie auch bei ihren Vorgängerbewegungen gab es die üblichen historischen Vergleiche: Handelt es sich hier um ein »neues 68« – oder bloß um Privilegienverteidigung aus ständisch bornierten Motiven? Harald Pittel untersucht das Spezifische der aktuellen Protestwelle. Und sieht durchaus positive politische Entwicklungen.
"Streik - aber dann?": Diese Frage stellt sich oft ... auch bei "Streiks" von Studierenden und Lehrenden
Kaum jemand hätte die Intensität, Breite und Dauer der Proteste vorausgesagt, die im November 2003 begonnen hatte. Die größte Streik- und Protestwelle seit sechs Jahren überdauerte die Jahreswende und breitete sich an einzelnen Standorten im Januar sogar noch aus. Dass sich aus den vornehmlich auf landesspezifische Reformentwürfe reagierenden Protesten eine annähernd bundesweite Streikbewegung bilden konnte, lag an erfolgreichen Vernetzungsarbeit. Inhaltlich war dies insofern naheliegend, da Sparprogramme und Legitimationsmuster, mit denen Landesregierungen in Ost und West daran gehen, Hochschulbildung haushaltsverträglich umzustrukturieren, weitgehend kompatibel sind.
Als entsprechende Pläne vielerorts gleichzeitig bekannt wurden, beschlossen Studierende in mehreren Bundesländern zunächst unabhängig voneinander den Protest. Sie nagelten wie in früheren Jahren den Sarg für ihre Bildung oder gingen gleich ins Wasser, produzierten Aktkalender, überraschten durch kreative Aktionen wie etwa in Berlin die Besetzung schwedischer Möbelhäuser, roter Rathäuser und Offener Fernsehsender. Dabei gelang es, die Sympathie beachtlicher Teile der Bevölkerung zu gewinnen.
Bildungspolitik wurde zum nationalen Mainstream-Thema: Diskussionen auf Bundesebene, wie der Ruf nach »Elitenförderung«, die Abschaffung der ZVS und die Einführung von generellen Studiengebühren sorgten neben den andauernden Protesten dafür, dass die Misere an deutschen Hochschulen in den überregionalen Medien debattiert wurde. So konnten am 13.12. mühelos Großdemonstrationen in Berlin, Frankfurt am Main und Leipzig durchgeführt werden, während ebenfalls im Dezember auch in anderen europäischen Ländern gegen Bildungs- und Sozialabbau demonstriert wurde. Der studentische Dachverband fzs bemühte sich verstärkt, Vernetzung zu fördern, die lokal erhobenen Forderungen zentral zu sammeln und gebündelt durch Pressearbeit auf überregionaler Ebene zu vertreten.
(Un-)Politische Studierende?
Die immer gleichen Schlagworte bestimmen zur Zeit die bildungspolitischen Diskussionen in jedem Bundesland: Haushaltskürzungen, nachfrageorientierte Hochschulfinanzierung, und damit verbunden die wachsende Abwälzung der Studienfinanzierung auf »eigenverantwortliche« Studierende, schließlich die Einführung »schlanker« Managementstrukturen und der Ruf nach mehr Wettbewerb und Effizienz, so lautet zusammengefasst die durchgängig propagierte Einheitsrezeptur bildungspolitischer (Pseudo-)Perspektiven.
Das Menschenbild hinter den »eigenverantwortlich« in ihr eigenes Humankapital investierenden Studierenden ist identisch mit dem, was sich hinter den Ich-AGen der Hartz-Reformen verbirgt – was zeigt, dass Studierende von der Ökonomisierung aller Lebensbereiche ebenso wenig ausgenommen werden wie Arbeitslose, SozialhilfeempfängerInnen, ArbeitnehmerInnen und RentnerInnen. »Konkurrenz statt Kooperation« lautet der leuchtende Pfad in die Zukunft. Politische Alternativen werden mit Hinweis auf den Sachzwang leerer Kassen ausgeblendet.
Der übliche Vorwurf, dem sich Streikaktive seit Ende der 1970er Jahre ausgesetzt sahen, hat mit der Beschränkung auf »studentische« Anliegen zu tun: Politische Forderungen bezogen sich oft lediglich auf die unmittelbare Hochschulsphäre und blendeten weitgehend den gesamtgesellschaftlichen Kontext aus. Kritische TeilnehmerInnen des bundesweiten Lucky Streik 1997 beklagten dann auch die »unpolitischen« Protestzüge mit »Eventcharakter«: In einer erlebnisorientierten Konsumgesellschaft gehörte es für die meisten TeilnehmerInnen offenbar lediglich dazu, mal bei einem Streik dabei gewesen zu sein. Brav vermieden sie »allgemeinpolitische« Äußerungen. Was gehen Studierende schon die Probleme der sozial Schwachen oder Angestellten an? Mit wenigen Ausnahmen wurden die Gewerkschaften dann auch links liegen gelassen.
Doch heute stellt sich oft ein anderes Bild dar: Was sich bereits bei den Hochschulstreiks in Nordrhein-Westfalen 2002 abzeichnete, die sich gegen Verwaltungsgebühren und Gebühren für Langzeitstudierende richteten, prägt nun das Gesicht studentischer Proteste in entscheidendem Maße: Ein auffallender Gesellschaftsbezug der Forderungen ist zu verzeichnen. Der Anspruch "Gegen Bildungs- und Sozialabbau!" ist keinesfalls nur ein plakatives Lippenbekenntnis, sondern war auf vielen Vollversammlungen mehrheitsfähig. Auch die gemeinsam mit Gewerkschaften organisierten Großdemos hatten eine klare sozialpolitische Ausrichtung. Insgesamt scheint für den gesamtgesellschaftlichen Bezug studentischer Forderungen eine höhere Akzeptanz in der heutigen Streikgeneration zu bestehen. Woran liegt das?
Zum einen fällt es sicherlich in einer Zeit, in der tagtäglich in den Medien mit einer anhaltend großen Arbeitslosigkeit, Firmenschließungen und Abbau von Sozialleistungen berichtet wird, schwer, die gesamtgesellschaftliche Perspektive auszublenden. Wenn PolitikerInnen davon reden, alle müssten die Gürtel enger schnallen und auf diese Weise ebenso Reformen an den Hochschulen mit »leeren Kassen« begründen, wird klar, dass man sich ohne einen kritischen Bezug auf gesamtgesellschaftliche Entwicklungen schnell ins Abseits befördert.
Zum anderen wird – als konsequente Reaktion auf diese globalen Entwicklungen - überhaupt mehr demonstriert. Die weltweite Sozial- und Antikriegsbewegung bringt mehr Leute als je zuvor für einen Politikwechsel auf die Straßen. Beim Europäischen Sozialforum in Florenz gingen im November 2002 über 500.000 Menschen auf die Abschlussdemo, am 15. Februar 2003 dann mehrere Millionen in ganz Europa gegen den Irakkrieg, davon allein 1.000.000 in London – die größten Demonstrationen in der jüngeren Geschichte.
Sozialpolitik und Globalisierungskritik
Einige sehen einen Zusammenhang zwischen dem Anwachsen der globalisierungskritischen Bewegung und einer engagierteren Jugend und damit auch einer stärker politisierten Studierendenschaft. Diese Beobachtung erklärt nicht nur die Dynamik der aktuellen Proteste an den Hochschulen, sondern bietet auch einen Erklärungsansatz für die Schwachstellen der heutigen sozialen Bewegungen. Denn obwohl sich die Befürchtungen einiger Aktiver von 1997, es werde wohl der letzte große Streik gewesen sein, ebenso wie das Gerede einer zunehmend politikfernen und aufs eigene Weiterkommen fixierten Jugend als falsch erwiesen haben, sind die tatsächlichen Schwachstellen heute inhaltlicher Art.
Anstatt sich nur für ihr eigenes Studium zu interessieren, ist die gesamtgesellschaftliche Sichtweise in Zeiten von Hartz-Reformen »common sense« geworden. An Stelle des politischen Desinteresses und der Pfründesicherung tritt so oft die relative politische Beliebigkeit, die mal gegen Bildungs- und Sozialabbau, mal gegen Krieg auf die Straße zieht, ohne allerdings in der globalen Ausrichtung der Proteste Konkretes und Ausgearbeitetes in Bezug auf Einzelaspekte z.B. der Hochschulbildung zu sagen.
Nie gingen mehr Menschen gegen die Ökonomisierung aller Lebensbereiche auf die Straßen. Dadurch werden politische Analyse und Forderungen leider nicht präziser. So wurde der Bundesregierung im berechtigten Zorn auf die Agenda 2010 gerne auch gleich der Sündenbock für die verfehlte Hochschulpolitik zugeschoben, obwohl Bildungspolitik vor allem Sache der Länder ist.
Wie lassen sich Ungenauigkeiten in der Argumentation vermeiden? Inhaltliche Arbeit findet bei Hochschulstreiks meist in Arbeitsgruppen zu verschiedenen Themen statt. Institutionalisierte Vernetzung in Form von Landesvertretungen und des studentischen Dachverbands entstanden nicht zuletzt aus dem Bedürfnis, dauerhafte Arbeitsstrukturen zu schaffen, damit nicht jedes Mal ganz von vorne angefangen werden muss. Streikaktive sind gut beraten, sich der vorhandenen Strukturen zu bedienen, um sich auszutauschen und auf diesem Wege Erfahrungen zu teilen. Deshalb führte der fzs im Januar eine inhaltliche Tagung für Streikaktive durch, um Protestperspektiven für das kommende Sommersemester zu diskutieren und politische Forderungen zu formulieren – sicher nicht die letzte.
Europäische Vernetzung
Zeitgleich mit dem studentischen Aufstand an bundesdeutschen Hochschulen gab es Proteste auch in anderen europäischen Ländern, darunter Frankreich, Großbritannien, Irland, Belgien, Dänemark, Italien und Tschechien. Dass sich an so vielen Orten gleichzeitig Unmut regt, kann als Reaktion auf Globalisierungsprozesse im Bildungsbereich bzw. deren Implementierung in nationale Bildungssysteme gewertet werden. Da viele dieser Strukturreformen mit einer Ökonomisierung der Hochschulbildung einher gehen oder solche Entwicklungen befördern, wollen Demos, Aktionstage und Kampagnen europaweit geplant und koordiniert werden. Zudem wird Mitsprache auf internationalen Entscheidungsebenen eingefordert – Studierende drängen auf ihr Recht, ihre Stimme bei der Gestaltung des europäischen Hochschulraumes einzubringen. Die Schaffung eines europäischen Hochschulraumes stellt somit studentische Interessenvertretung vor neue Aufgaben.
Es stellt sich also die Frage, wie eine wirksame internationale studentische Politik aussehen kann. Momentan gibt es unterschiedliche, zum Teil auch gegenläufige Ansätze. Studierendenvertretungen bzw. deren nationale Dachorganisationen – wie in Deutschland der fzs – sind im europäischen Dachverband ESIB zusammengeschlossen. Hier nutzen gewählte VertreterInnen Gestaltungsspielräume bei europäischen Prozessen, einigen sich auf gemeinsame Kampagnen und Aktionstage und leisten gegenseitige Unterstützung. Basisnäher und zahlreich besucht ist das demnächst in London stattfindende Europäische Sozialforum, der kontinentale Ableger des Weltsozialforums. Dort gibt es auch Panels und Plena zu bildungspolitischen Themen. Zahlreiche studentische Organisationen und Gruppen mobilisieren dorthin.
Eine Teilnahme an der Sozialforen-Bewegung könnte studentischen Protesten eine gute Ausgangslage zum Bilden von europäischen Bündnissen mit anderen Strömungen, Netzwerken und Organisationen ermöglichen. Auch ESIB-Mitglieder waren auf den letzten Sozialforen zugegen. Allerdings sind die möglichen Perspektiven der globalisierungskritischen Versammlungen sehr unklar. Zwar wurde bereits auf dem ESF 2002 in Florenz eine Bildungscharta verabschiedet, doch ist diese inhaltlich sehr vage und kaum repräsentativ. Auch war von "Forderungen der Studierenden" auf dem ESF 2003 in Paris zu hören – beim näheren Hinsehen ging es dabei ausschließlich um studentische Attac-Mitglieder. Immerhin einigte man sich dort auf europaweite Aktionstage – eine nicht zu unterschätzende Vernetzungsleistung. Es erscheint hingegen unwahrscheinlich, dass sich stringent arbeitende inhaltliche Arbeitskreise auf einem ESF zusammenfinden, die in der Lage wären, elaborierte Positionen zu internationalen bildungspolitischen Prozessen zu entwickeln. Hierfür bietet sich nach wie vor ESIB aufgrund seines ungleich höheren Organisationsgrades an. In inhaltlichen Komitees ist dort verbindliche und qualitativ hochwertige Arbeit möglich.
Sozialforen und ähnliche Großveranstaltungen sind allerdings für alle offen und wirken ob ihres festivalähnlichen Charakters für EinsteigerInnen attraktiv. Außerdem agieren hier Studierende nicht für sich alleine, sondern können die Nähe zu anderen gesellschaftlichen Gruppen für Bündnisarbeit und koordinierte Aktionen sowie – in Ansätzen – gemeinsamer inhaltlicher Arbeit nutzen. In ihrer harmonischen Offenheit liegen allerdings auch die spezifischen Probleme der Sozialforen-Bewegung. Zum Zweck einer geeinten Bewegung gibt man sich häufig mit einer Einigung auf den kleinsten Nenner zufrieden. Auf den Foren selbst spielt eine vertiefende inhaltliche Befassung mit politischen Themen zwecks Präzisierung von Analyse und Forderungen daher praktisch keine Rolle.
Qualitative Studienreform
Der Ruf nach engerer Kooperation mit Gewerkschaften und sozialen Bewegungen ist bei den momentanen Streikaktiven deutlich vernehmbar. Leider fällt im Rückblick auf vorangegangene Hochschulproteste auf, dass mit solchen Vorhaben nach jeder Streikwelle wortwörtlich bei Null angefangen werden musste – bis heute hat sich daran nichts grundlegend geändert. Trotz wachsender Medienpräsenz ist etwa der studentische Dachverband einigen GewerkschafterInnen immer noch gänzlich unbekannt.
Inhaltliche Zusammenarbeit findet – von gemeinsamen Demoaufrufen und sonstiger gelegentlich gepflegter Bündnisarbeit abgesehen – nur punktuell und zu Einzelthemen statt. Dabei sollten sowohl der Bildungsbereich als auch gesamtgesellschaftliche Entwicklungen im Visier gemeinsamer Anstrengungen stehen – Konzepte zum Abbau von Sozialleistungen wie die Agenda 2010 oder das "Innovationsoffensive"-Papier der SPD machen eine lautstärkere, anhaltende und koordiniertere Reaktion aus dem gewerkschaftlichen und zivilgesellschaftlichen Lager notwendig. Nur so lässt sich tatsächlich politischer Druck erzeugen. Es stellt sich also die Frage, wie eine bessere, inhaltliche und dauerhafte Zusammenarbeit zu bildungspolitischen und gesamtgesellschaftlichen Themen aussehen kann.
In Bezug auf das Hochschulstudium hat es solche Kooperationsinitiativen schon gegeben. Bereits 1998 legte der fzs gemeinsam mit dem BdWi und Gewerkschaften die Eckpunkte einer qualitativen Studienreform vor. DGB, fzs, BdWi, IG Metall und GEW und andere wollten mit diesem Positionspapier Anstöße für die Erneuerung einer Studienreformdiskussion in Hochschule, Öffentlichkeit und Politik geben. Sie gingen in ihrer gemeinsamen Initiative davon aus, dass Ausgangspunkt einer wirklich Perspektiven schaffenden Studienreform nur eine kritische Bestimmung des Verhältnisses von Wissenschaft und Gesellschaft sein kann. Das Studium sollte kritisch-praxisbezogen verstanden werden mit Bezug auf emanzipatorische Gesellschaftspolitik. Die Studienphase dient demnach nicht allein der Berufsausbildung, sondern darüber hinaus dem Erwerb von Fähigkeiten und Kenntnissen zur selbstverantwortlichen Lebensgestaltung sowie gesellschaftlicher und politischer Mitwirkung.
So ergaben sich grundlegende Forderungen. Notwendig ist die gleichberechtigte Beteiligung von Studierenden mit ihren individuellen Voraussetzungen, Interessen und Fähigkeiten an der Gestaltung von Studiengängen. Zentrale Forderungen waren ebenso die Öffnung der Hochschulen durch die Gleichstellung beruflicher und wissenschaftlicher Bildung sowie die Stärkung solcher Hochschulfunktionen wie berufsbegleitender Studienangebote und berufsunabhängiger wissenschaftlicher Weiterbildung. Eine erfolgreiche Studienreform ist unmittelbar verknüpft mit der Gleichstellung von Frauen und Männern in Lehre, Forschung und Studium, mit der Verbesserung der sozialen Lage der Studierenden, einer Reform der Personalstruktur und -ausstattung sowie der Stärkung demokratischer Selbstverwaltung der Hochschulen im Rahmen öffentlicher Verantwortung für ihre Finanzierung.
Die als inhaltliche Ausarbeitung und Erweiterung der Forderungen der Streiks von 1997 geplante Initiative blieb nur eine punktuelle Anstrengung. Es ist bis heute nicht gelungen, die UnterzeichnerInnen erneut an einen Tisch zu bringen, geschweige denn, kontinuierlich inhaltlich arbeitende Strukturen ins Leben zu rufen. Dabei ist es notwendig, die Forderungen auf den neuesten Stand zu bringen und sich auch zum Abbau des Sozialstaates gemeinsam zu äußern. Auf dem bereits erwähnten fzs-Streikaktiven-Kongress wurde in Arbeitskreisen nicht nur über Hochschulzugang und -finanzierung sowie die aktuelle »Elitendebatte« diskutiert, sondern auch über die Reformen der Agenda 2010. Als ReferentInnen waren auch GewerkschafterInnen und in zivilgesellschaftlichen Strömungen (wie z.B. Attac) Aktive eingebunden.
Gewerkschaftliche Positionen ergänzen und erweitern studentische Forderungen – und umgekehrt. In der Verantwortung studentischer Beteiligung muss hier der Kampf um freien Zugang zu Bildung für alle Menschen liegen, wobei Bildung einem emanzipatorischen und gesellschaftskritischen Ideal verpflichtet ist. Auch Weiterbildung und berufliche Bildung fallen darunter. Andererseits verbringen Studierende ihre Zeit nicht nur mit ihrem Studium, sondern üben auch noch andere gesellschaftliche Rollen, etwa als ArbeitnehmerInnen aus, was gewerkschaftliche Organisation erstrebenswert macht. Im Hinblick auf eine Fortsetzung sozialer Proteste sind fzs und Gewerkschaften miteinander und mit anderen Verbänden und Bündnissen im Gespräch, um die Vernetzung gegen marktradikale Reformen im Bildungs- und Sozialbereich zu fördern. Einen Ausgangspunkt für engere Zusammenarbeit kann der im Mai stattfindende Perspektivenkongress bieten, der von Gewerkschaften, fzs, BdWi und weiteren sozialpolitischen Verbänden und Bündnissen organisiert wird.
Wenn Streiks und Proteste gegen Bildungs- und Sozialabbau auf inhaltliche Vorarbeit und existente Kooperationsstrukturen zugreifen können, ist man dem Ziel einer geeinten und schlagkräftigen sozialen Bewegung in der BRD schon ein gutes Stück näher gekommen. Eine öffentliche Debatte über die marktradikale Ideologie, die sich hinter den Kürzungen im Sozialbereich ebenso wie hinter der Verschlankung der Hochschulbildung verbirgt, kann nur von denen eingefordert werden, die in der Lage sind, gemeinsam gesellschaftliche Alternativkonzepte entwickeln. Ein wichtiger Schritt dorthin ist die Einrichtung geeigneter inhaltlicher Arbeitsstrukturen.
Harald Pittel war Vorstandsmitglied des freien zusammenschluß der studentInnenschaften / fzs
Kommentierte Literaturliste
Zum Bildungsstreik 2009
In einem Beitrag von Klemens Himpele in den Blättern für deutsche und internationale Politik wird vor allem der Frage nach gegangen, was der Streik mit seinen Vorgängern, dem UniMUT und dem Lucky Streik, gemeinsam hat und wo die Unterschiede liegen. Insbesondere die langfristige Planung und die zeitliche Begrenzung der Aktionen sind hier zu nennen. Ein besonderer Fokus liegt auch auf der starken Beteiligung der SchülerInnen.
Klemens Himpele: Vom Bildungsstreik zur Bildungsbewegung?, in: Blätter für deutsche und internationale Politik 8/2009
Online unter http://www.blaetter.de/artikel.php?pr=3143
Nadia Sergan geht in einem Beitrag in der Zeitschrift Sozial Extra der Frage der Politisierung von SchülerInnen und Studierenden nach. Sie beleuchtet dabei auch die Entstehungsgeschichte des Streiks. Sergan greift damit ein zentrales Thema fast aller Streikdebatten auf: Wie politisch sind denn die Streikenden?
Nadja Sergan: Bundesweiter Bildungsstreik 2009. Schüler und Studierende üben demokratische Praxis, in: Sozial Extra, Volume 33, Numbers 7-8 / Juli 2009, Wiesbaden.
Ältere Studierendenproteste
Eine ausführliche Abhandlung über die Studierendenproteste seit 1968 mit einem Schwerpunkt auf 1968, 1988 (UniMUT) und 1997 (Lucky Streik) liefert Ralf Hoffrogge in einem Beitrag aus dem Jahr 2003. Hoffrogge dokumentiert dabei kenntnisreich die unterschiedliche inhaltliche Ausrichtung der Streiks, ihre Wirkung und die Frage der Akzeptanz der Proteste in Bevölkerung und Medien. Er beleuchtet dabei auch das Wechselspiel zwischen radikaler Ablehnung bestehender Strukturen einerseits und der Reaktion der etablierten Parteien und Medien andererseits: Das vergleichsweise friedliche Vertreten allgemein anerkannter Forderungen (wie mehr Geld für Bildung) und die mediale Wahrnehmung dieser Proteste.
Hoffrogge, Ralf: ´68, ´88, ´97 – Von der Weltrevolution zur BAföG-Reform – studentische Aufbrüche im Vergleich, in: AStA FU Berlin (Hg.): Universitäten im Umbruch. Der globale Bildungsmarkt und die Transformation der Hochschulen, Berlin 2003.
Pascal Beucker hat bereits 1990 eine Analyse des UniMUT und insbesondere von dessen Wirkung auf die Struktur der Hochschullinken untersucht und in den Blättern für deutsche und internationale Politik veröffentlicht. Er untersucht dabei, inwieweit es zu einer neuen Hochschulbewegung gekommen sei und wie diese ggf. mit der etablierten Hochschullinken zusammenwirken könne. Dabei vertritt Beucker auch die These, dass durch die neue Bewegung die Hochschulen wieder zu einem gesellschaftlichen Thema geworden sind.
Beucker, Pascal: Die Karten werden neu gemischt. Die "neue Studentenbewegung" und die organisierte Hochschullinke, in: Blätter für deutsche und internationale Politik 1/1990
Online unter http://www.beucker.de/bis1996/blaetter1-90.htm
Einen kritischen Blick auf den Lucky Streik wirft Ralph C. Wildner. Er setzt sich mit den gängigen Aussagen auseinander, dass es sich bei den Protesten um eine "Revolution der Kuscheltiere" und um "Kohls Kinder" (taz) gehandelt habe, die dort protestierten. Wildner stellt die Frage, gegen wen sich der Protest eigentlich richtete und konstatiert eine gewisse Folgenlosigkeit des Streiks. Trotz der geballten Kritik an den Studierenden gerade auch von linker Seite sieht Wildner durchaus Erfolge und zieht als Fazit: "Die ‚Kuscheltiere‘ haben erste Zähne gezeigt."
Wildner, Ralph C.: Eine Straßenparty im Winter `97 oder: Haben Kuscheltiere Zähne?, in: Neumann-Schönwetter, Marek u.a.: Anpassen und untergehen. Beiträge zur Hochschulpolitik, Marburg 1999, S. 195ff.
Weitere Informationen: http://www.bdwi.de/verlag/gesamtkatalog/98715.html
Verwandte Streiks
Magnus Treiber hat gestreikt – oder so ähnlich. Eigentlich, so schreibt er, hat er nur seinen Lehrauftrag nicht angenommen. Mit einem Streik wollten die Lehrbeauftragten auf ihre schlechte Absicherung und Bezahlung hinweisen und machten gleichzeitig ihre immense Bedeutung für den Lehrbetrieb deutlich. Dabei beschreibt Treiber einen hohen Anteil an SympathisantInnen, aber auch von Spannungen, die sich beispielsweise aus der politischen Heterogenität der Lehrbeauftragten selbst ergibt.
Treiber, Magnus: Ein Lehrbeauftragter resümiert Erfahrungen. »Streik«, veröffentlich bei Studis Online: https://www.studis-online.de/HoPo/Hintergrund/streik-lehrbeauftragte.php