Hintergrundtexte zum Thema Bildungsstreik und -reformWas heißt Praxisorientierung des Studiums?
Über den Bund demokratischer Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler (BdWi)
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Vorbemerkung zum Text
"Mehr Praxisnähe in die Hochschulen!", so oder ähnlich heißt es derzeit fast an jeder Hochschule. "Schlüsselqualifikationen" sollen erworben werden, um das vielgescholtene "Praxisdefizit" auszugleichen. Das mit der aktuellen Hochschulreform verfolgte Ziel der Verbesserung der "Employability" - also der "Beschäftigungsfähigkeit" - der AbsolventInnen hat verschiedene Folgen gehabt. So kommen nun verstärkt UnternehmensvertreterInnen in die Hochschulen und erklären, wie bei ihnen der Hase läuft. In neu gegründeten "Schlüsselkompetenzzentren" sollen - häufig abgekoppelt von sonstigen Studieninhalten - die mutmaßlich aktuell auf dem Arbeitsmarkt gefragten Kompetenzen an Studierende vermittelt werden.
Diesem anpassungsorientierten Verständnis von Praxisorientierung steht häufig die früher mit dem Bild des "Elfenbeinturms" kritisierte Haltung, Studium solle nichts mit dem Arbeitsmarkt zu tun haben, entgegen. Unter dem Label der Freiheit von Wissenschaft und Forschung wird im Extremfall so getan, als hätten die Hochschulen mit dem "praktischen" Leben nichts gemein. Die Auseinandersetzung um einen sinnvollen Begriff der Praxisorientierung von Studium - um einen Begriff der "professionellen Relevanz", wie Ulrich Teichler vorschlägt - ist bisher kaum geführt worden. Was aber kann aus der Perspektive eines emanzipatorischen Bildungsanspruchs der Anspruch an Praxisorientierung im Studium sein?
Ulf Banscherus, Lars Schewe und Sonja Staack diskutieren in ihrem Artikel unterschiedliche Umsetzungsformen dieser Neugewichtung von Studieninhalten. Sie fordern, dass die Fähigkeit die Praxis eines Berufs und seine gesellschaftlichen Rahmenbedingungen kritisch zu reflektieren und zu wissen, wie verändernd eingegriffen werden kann, wesentlicher Teil einer stärkeren Praxisorientierung des Studiums sein müssen.
Der Beitrag ist zuerst erschienen in: BdWi-Studienheft 4 (2007), "Bildung - Beruf - Praxis. Bildungsreform zwischen Elfenbeinturm und Verwertungslogik", Hrsg.: BdWi / fzs / GEW
Die Forderung nach einer Praxisorientierung des Studiums wird in den aktuellen Debatten wesentlich als Teil der Ökonomisierung der Hochschulen und der Ausrichtung von akademischer Bildung auf ihre unmittelbare ökonomische Verwertbarkeit verstanden. Dass eine Orientierung auf die berufliche und gesellschaftliche Praxis auch aus der Perspektive einer emanzipatorischen Bildungspolitik sinnvoll ist, zeigen Ulf Banscherus, Lars Schewe und Sonja Staack. Sie plädieren für eine kritische Praxisorientierung als Grundlage einer progressiven Studienreform.
Die "Praxisorientierung" von Studiengängen ist eines der schillerndsten Schlagworte der aktuellen Studienreformdebatte. Einst als Forderung der StudentInnenbewegung in die Diskussion gebracht, scheint der Begriff heute mit Unterstützung von Arbeitgeberverbänden und KultusministerInnen eine neue Karriere zu erleben. Die Kritik am mangelnden Praxisbezug des Studiums ist insbesondere vor dem Hintergrund einer veränderten gesellschaftlichen Praxis zu verstehen, wobei allerdings vor allem die Universitäten den Wandel des Studiums zu einer wissenschaftlichen Berufsausbildung für einen immer größer werdenden Anteil der Menschen eines Altersjahrgangs viel zu lange aktiv ignoriert haben. Die Studiengänge wurden stattdessen weiterhin am erklärten Leitbild der wissenschaftlichen Laufbahn ausgerichtet und blieben sehr stark den historisch gewachsenen disziplinären Ausprägungen verhaftet.
Eine solche Ausrichtung geht aber an der Arbeits- und Lebensrealität der AbsolventInnen weit vorbei, die in ihrer Mehrzahl eine Beschäftigung außerhalb der Hochschule finden und dabei mit den Folgen eines tief greifenden Wandels der wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Qualifikationsanforderungen sowie der Qualifikationsstruktur der Bevölkerung konfrontiert werden. So berichten einige BerufseinsteigerInnen beim Übergang von der Hochschule in die Berufswelt von einem regelrechten "Praxisschock".
Qualifikationsziel Praxisbezug
Das gewandelte Verhältnis von akademischer und beruflicher Bildung muss sich daher viel stärker in der Neukonzeption und weit gehenden curricularen Reform von Studiengängen niederschlagen, wobei allerdings die Ausgestaltung des Qualifikationsziels Praxisbezug von entscheidender Bedeutung ist. Denn zwischen den Ansätzen einer kurzfristigen Verwertbarkeit von erworbenen Qualifikationen unter den Wettbewerbsbedingungen des Marktes auf der einen Seite und einer Orientierung am Leitbild einer dauerhaften Berufsbefähigung und gesellschaftlichen Handlungsfähigkeit der AbsolventInnen auf der anderen Seite liegen nicht nur auf der konzeptionellen Ebene Welten. Auch im politischen Raum ist die Ausgestaltung der Praxisorientierung stark umkämpft.
Die Kritik am mangelnden Praxisbezug des Studiums darf zwischen den unterschiedlichen hochschulpolitischen AkteurInnen – sieht man von Teilen des konservativen Lagers einmal ab – als weit gehender Konsens betrachtet werden. Haben wir es bei der derzeitigen Diskussion um mehr Praxisorientierung also mit einem späten Erfolg der StudentInnenbewegung zu tun, die einen Praxisbezug von Studium und Lehre vehement einforderte – oder was verbirgt sich wirklich hinter der vermeintlichen Neuauflage? Kernbegriff der derzeit hegemonialen Interpretation einer "neuen Praxisorientierung" ist die unmittelbare Beschäftigungsfähigkeit (Employability) der AbsolventInnen. Mit einer dauerhaften Berufsfähigkeit im Sinne einer Vorbereitung auf eine sich ständig im Wandel befindliche Praxis hat dieser Ansatz hingegen wenig zu tun, vielmehr orientieren sich die VordenkerInnen des Employability-Konzeptes an den unterstellten kurzfristigen Interessen des Marktes: Sie gehen davon aus, dass das im Studium erworbene Wissen immer schneller überholt sein werde und "Reparaturen" durch die Teilnahme an Weiterbildungsmaßnahmen ohnehin notwendig würden, weshalb auf eine langfristige Perspektive verzichtet werden könne. Unter diesen Prämissen wird das "lebenslange Lernen" zur "lebenslänglichen Pflicht" jedes einzelnen Menschen, deren Nichterfüllung mit dem Ausschluss aus dem Berufsleben bestraft wird.
(Un-)Soziale Kompetenzen
Für die Einzelne bzw. den Einzelnen übersetzt lautet die Botschaft: "Die Praxis ist so, wie sie ist; passe dich ihr an!" Somit ist es also an jeder und jedem Einzelnen, Wege zu finden, sich in eine als unverrückbar unterstellte betriebliche Praxis einzugliedern. Entsprechend wird an die Hochschule die Anforderung gestellt, zu dieser Anpassung ihrer AbsolventInnen beizutragen und ihre Studieninhalte entsprechend auszurichten. Allerdings ist es für die Hochschulen schwierig herauszufinden, wie nun die "wirkliche" Praxis aussieht, also welche Kompetenzen tatsächlich benötigt werden. Ist vor dem Hintergrund sich stetig verändernder gesellschaftlicher und ökonomischer Rahmenbedingungen die Vermittlung von Powerpoint-Kenntnissen wirklich wichtiger als das Ziel einer fachlich fundierten Transferkompetenz?
Die Bezugsfolie der Hochschulen für Konzepte der Praxisorientierung scheint in vielen Fällen eher einer Karikatur der gesellschaftlichen und betrieblichen Praxis zu entsprechen als einem sinnvollen Bezug auf diese. Zumindest kann man diesen Eindruck gewinnen, wenn man die einschlägigen Angebote in den Studienordnungen und Vorlesungsverzeichnissen betrachtet, denn die Aufgabe vieler Schlüsselqualifikationstrainings scheint es in erster Linie zu sein, auf die jeweils modischen Anforderungen vorzubereiten, die selbst erst aus den Konzepten der AnbieterInnen solcher Trainings abgeleitet werden. Dabei sind die erworbenen Qualifikationen im Arbeitsalltag aber häufig wenig hilfreich, was wiederum vielfach den Besuch weiterer Trainings als geboten erscheinen lässt. Denn trotz des massenhaften Besuchs von Rhetorikkursen verläuft der Übergang von AbsolventInnen in die Berufspraxis keinesfalls so glatt, wie es die Werbebroschüren mancher Career-Centres glauben machen wollen. Dadurch, dass diese Trainings oft losgelöst vom Fachstudium durchgeführt werden, werden Inhalte zweitrangig und eine klischeehafte "Selfmarketing-Haltung" gefördert: "Wichtig ist nicht, was Sie erzählen; Hauptsache, die Präsentation sieht gut aus." Die "echte Welt" funktioniert jedoch – zum Glück – nicht ganz so, und zu einer umfassenden Handlungsfähigkeit gehört mehr als das Beherrschen einzelner, separater Techniken. Ein sinnvoller Praxisbezug muss vielmehr deutlich machen, dass "die Praxis" dynamisch ist und Veränderungen unterliegt, die durchaus auch gestaltet werden können.
Die in vielen Studiengängen auf die skizzierte Art praktizierte Trennung zwischen sozialen und methodischen Kompetenzen ("generischen" Kompetenzen) auf der einen und fachlichen Studieninhalten auf der anderen Seite führt aber nicht weiter, denn in der gesellschaftlichen und der betrieblichen Praxis sind diese Dimensionen untrennbar verwoben. Dennoch finden sich an einigen Orten fächerübergreifende "Zentren für Schlüsselqualifikationen", die völlig abgekoppelt von den Lehrveranstaltungen der einzelnen Fächer ihre Angebote machen. Sinnvoller wäre es, fachliche und soziale Kompetenzen viel stärker als bisher aufeinander zu beziehen und integriert zu vermitteln. Dafür sollten in allen Veranstaltungen die bestehenden Konzepte durch neue Lehr- und Lernformen erweitert werden. Statt eines Referats nach "Schema F" könnten in geeigneten Fällen auch Planspiele oder Simulationen ihren Platz in Hochschulseminaren finden. Denn warum sollten zum Beispiel die Wirkungen von Kommunikationsstilen nicht mit Hilfe einer fiktiven Talkshow zu einem aktuell in der Fachdiskussion kontroversen Thema erlebt und analysiert werden können? So könnten auf eine auch fachlich anspruchsvolle Art und Weise die unterschiedlichen Kompetenzen gefördert werden. Ein Beispiel für bestehende Konzepte der Verbindung von fachlichen, sozialen und methodischen Kompetenzen sind die an einigen juristischen Fakultäten praktizierten Moot Courts, bei denen Studierende schon früh im Studium zumindest einen Eindruck davon erhalten, wie eine Gerichtssituation ablaufen könnte. Als weiteres Beispiel könnten die an einzelnen Hochschulen eingerichteten problemorientierten Reformstudiengänge im Fach Medizin dienen. Dabei vollzieht sich die Verbindung von fachlichen Kompetenzen und Schlüsselqualifikationen aber nicht nur in Modellversuchen, denn irgend eine Form von Soft Skills wird in den Lehrveranstaltungen immer gelernt: Wer projektorientiert studiert, lernt dabei selbstständiges und forschendes Lernen sowie die solidarische Zusammenarbeit mit den KommilitonInnen. Wer dagegen in erster Linie Frontalunterricht über sich ergehen lassen muss, lernt zuzuhören, mitzuschreiben und äußere Anforderungen zu erfüllen. An einer solchen passiven Haltung könnten auch zwei Semesterwochenstunden Schlüsselqualifikationen kaum etwas ändern. Und wer schließlich stets in Konkurrenz zu seinen KommilitonInnen steht, lernt, sich zu verkaufen und gegen andere durchzusetzen. Die Definitionsmacht darüber, ob "Teamfähigkeit" vor allem auf Durchsetzungsfähigkeit oder auf solidarischem Kooperieren aufbaut, ob "Kommunikationsfähigkeit" dazu dienen soll, die Anliegen anderer zu erkennen und zu berücksichtigen, oder ihnen die eigene Sichtweise zu verkaufen, bleibt umkämpft. Eines aber ist sicher: Nicht überall, wo "soziale Kompetenzen" draufsteht, sind auch wirklich "soziale" Kompetenzen gemeint. Wenn wir Berufsorientierung nicht als unmittelbare (und ebenso schnell wieder verfallende) Verwertbarkeit, sondern als dauerhafte Berufsfähigkeit verstehen wollen, können wir beständige Anpassungsfähigkeit und -bereitschaft, kurz die Unterordnung unter einen externen Zwang, kaum als Schlüsselqualifikationen gelten lassen. Vielmehr muss ein Studium die Fähigkeit vermitteln, die eigenen Arbeits- und Lebensbedingungen immer wieder kritisch zu hinterfragen, anhand eigener Wertmaßstäbe aktiv in ihre Gestaltung einzugreifen oder diese zumindest zur Debatte zu stellen und sich auch neue Tätigkeitsfelder zu erschließen.
Nachhaltige Berufsqualifizierung
Ein Studienabschluss kann nur den Anspruch erheben, berufsqualifizierend zu sein, wenn er die Grundlage für eine dauerhafte Berufstätigkeit legt und in seiner Zielsetzung über die kurzfristigen Verwertungsinteressen der ProtagonistInnen des Employability-Konzeptes in Politik, Wirtschaft und Hochschulen hinausweist. Das Leitbild muss vielmehr das einer nachhaltigen Berufsqualifizierung sein, die auch einen möglichen Wandel des Berufsbildes und die Notwendigkeiten und Möglichkeiten des lebenslangen Lernens einbezieht. Dabei muss Praxisorientierung über eine bessere Verwertbarkeit der erworbenen Kompetenzen im Produktionsprozess deutlich hinausgehen und auch den sozialen, kulturellen und ökologischen Kontext der Berufspraxis einbeziehen. Zu dieser "reflexiven Praxis" gehören auch das Wissen um innerbetriebliche Interessengegensätze und Mitbestimmungsmöglichkeiten sowie ein grundlegendes Wissen um die politische und soziale Verfasstheit der Gesellschaft. Der überwiegende Teil der neuen Bachelor- und Masterstudiengänge wird diesen Anforderungen nicht gerecht, da Praxisanteile entweder nicht systematisch genug in das Studienkonzept einbezogen oder die konkreten Qualifikationsbedürfnisse einzelner Unternehmen zu stark gewichtet werden.
Das Ziel einer qualitativen Studienreform kann aber weder durch einen Rückzug in den akademischen Elfenbeinturm, noch durch unbetreute Praktika oder eine zu starke Spezialisierung für eine möglicherweise nur kurzfristig Erfolg versprechende Nische des Arbeitsmarktes erreicht werden. Bei der Konzeption der neuen Studiengänge ist es deshalb notwendig, einen Mittelweg zwischen einer kurzfristigen und einer langfristigen Nutzbarkeit der erworbenen Qualifikationen sowie zwischen dem aktuellen Stand der Wissenschaft und den Anforderungen der betrieblichen Praxis zu finden. Das gestufte Studium muss die Grundlage für eine dauerhafte Beschäftigung und das lebensbegleitende Lernen legen. Dies gilt auch für die von vielen Hochschulen angebotenen dualen Studiengänge, die neben dem Studium eine berufspraktische Tätigkeit vorsehen. Auch diese dürfen sich nicht am kurzfristigen Qualifizierungsbedarf einer bestimmten Nische des Arbeitsmarktes orientieren, sondern müssen schon in der Konzeptionsphase langfristige Entwicklungsmöglichkeiten der AbsolventInnen einbeziehen.
Studienreform als Gesellschaftspolitik
Maßstab der Studienreformdebatte aus gesellschaftlicher Perspektive kann vor diesem Hintergrund sinnvollerweise eben nicht der kurzfristige Qualifikationsbedarf des Arbeitsmarktes, sondern nur der langfristige Qualifikationsbedarf der Gesamtgesellschaft sein. Hier liegt der sprichwörtliche Hase im Pfeffer: Der zukünftige Qualifikationsbedarf der Gesamtgesellschaft ist ohne Vision der gesamtgesellschaftlichen Entwicklung und ohne Kenntnis der gesellschaftlichen Interessenkonflikte nicht diskutierbar.
Wer in einer Hochschule also einen Ort sieht, an dem insbesondere Lösungen für gesellschaftliche Probleme erarbeitet und Grundlagen für gesellschaftlichen Fortschritt entwickelt werden, der muss andere Anforderungen an eine umfassende Studienreform formulieren als sie derzeit in der hochschulpolitischen Debatte dominant sind. Wenn StudentInnen Kenntnisse und Fähigkeiten erwerben sollen, um auch an ihrem späteren Arbeitsplatz soziale und ökologische Reformen durchzusetzen, gewinnt auch die Berufsorientierung des Studiums eine neue Dimension. Und ist in Zeiten rasant steigender Arbeitslosigkeit anstelle einer stromlinienförmigen Arbeitsmarktorientierung nicht vielmehr das Hinterfragen der Ursachen struktureller Arbeitslosigkeit die beste Praxisorientierung?
Zentrales Anliegen einer kritischen Praxisorientierung ist deshalb, dass die Orientierung auf die berufliche Praxis in einen reflexiv bestimmten und (selbst-)kritischen Bildungsprozess eingebunden ist und berufliche Praxis immer auch die Dimension einer aktiven Mitgestaltung der Arbeitswelt enthält. Einen wichtigen Beitrag zur Praxisorientierung können beispielsweise Elemente des Projektstudiums leisten, in dessen Rahmen Studierende in Gruppen problemorientiert zusammenarbeiten. Denn Beschäftigte stehen im beruflichen Alltag immer wieder der Herausforderung gegenüber, konkrete Probleme zu lösen, wozu sie ihr theoretisches Wissen nicht nur wiedergeben, sondern auch anwenden und kommunizieren können müssen. Dieses ›Denken in Zusammenhängen‹ sollte auch schon während des Studiums gefördert werden. Zur Praxisorientierung des Hochschulstudiums müssen jedoch immer auch eine kritische Auseinandersetzung mit den Folgen des beruflichen Handelns auf Mensch und Umwelt sowie eine Analyse der Eingebundenheit der eigenen Situation in den politischen, sozialen und ökonomischen Kontext gehören. Dies umfasst zum Beispiel Fragen der betrieblichen Mitbestimmungsmöglichkeiten, Diskussionen um Technikfolgenabschätzung oder auch eine Auseinandersetzung mit den Rekrutierungsmustern der akademischen Elite.
Darüber hinaus ist es sinnvoll, auch die Impulse von Gewerkschaften und anderen gesellschaftlichen Gruppen in die hochschulpolitische Diskussion um Anforderungen der gesellschaftlichen und betrieblichen Praxis einzubeziehen, denn die Gestaltung der Inhalte und der Organisation von Studiengängen wirkt sich nicht nur auf die individuellen Kenntnisse und Fähigkeiten der einzelnen StudentInnen bzw. AbsolventInnen aus, sondern hat auch konkrete Auswirkungen auf betriebliche Arbeitsbedingungen und -abläufe. Wenn beispielsweise eine Ingenieurin oder ein Chemiker nur sehr begrenzte Vorstellungen von der Zusammenarbeit im Team oder keinen Bezug zu in der betrieblichen Praxis zentralen Themen wie Arbeitsschutz und Arbeitszeitbestimmungen haben, wirkt sich dies schnell negativ auf die Produktivität sowie auf die Arbeitsqualität im gesamten Betrieb aus.
Eine zentrale Voraussetzung für die Konzeption eines berufsbefähigenden und praxisorientierten Studiums ist demnach eine kontinuierliche und kritische Auseinandersetzung mit der gesellschaftlichen und betrieblichen Praxis. Ohne die Berücksichtigung der vielfältigen Wechselwirkungen zwischen Hochschule, Wirtschaft und Gesellschaft muss das Studium zwangsläufig praxisfern und selbstreferenziell bleiben. Denn eine Orientierung an der Fiktion der Employability ist ebenso wenig praxistauglich wie es die vorherige Orientierung an historisch gewachsenen disziplinären Verzweigungen war. Somit ist der verkürzte Praxisbegriff des Employability-Ansatzes keine taugliche Alternative, sondern im Gegenteil eine geschickt inszenierte und folgenreiche Illusion zur Verschleierung von Interessen: Er verweigert unter Hinweis auf vermeintliche Sachzwänge und unter Ausblendung von Interessengegensätzen systematisch eine kritische Reflexion der gesellschaftlichen und betrieblichen Realitäten und führt so zur Dominanz der kurzfristigen Interessen marktorientierter AkteurInnen.
In die Offensive kommen!
Eine fortschrittliche Alternative zum Trend eines verkürzten und selbstreferenziellen Praxisbegriffs ist in der bildungspolitischen Debatte derzeit nur sehr zaghaft zu vernehmen. Unter dem immensen Druck aus Politik und Wirtschaft für eine unmittelbare Verwertbarkeit der Studieninhalte haben sich einige StudentInnenvertretungen auf eine reine Abwehrposition gegenüber der Berufsorientierung zurückgezogen. Sie geraten damit partiell in erstaunliche politische Nähe zur konservativen Position, das Bildungssystem als "Elfenbeinturm" ohne jeglichen Bezug zur Außenwelt zu begreifen. Die Gewerkschaften hingegen halten eher an der tradierten Forderung nach einer Praxisorientierung der Hochschulbildung fest, ohne eine genauere Bestimmung dieser Formel anzubieten und finden sich damit häufig unverhofft mit den ArbeitgeberInnen in einem Boot. Faktisch sind es aber derzeit weder StudentInnen noch GewerkschafterInnen, die dieses Boot steuern.
Der Begriff einer kritischen Praxisorientierung lässt sich nur aus der Betrachtung von Hochschulbildung in ihrer Kontextgebundenheit an die gesellschaftliche und die betriebliche Praxis mit Leben füllen. Hierfür ist eine Wiederbelebung der gemeinsamen bildungspolitischen Diskussion von StudentInnenschaften und Gewerkschaften eine wichtige Basis. Bisher wird die Berufsorientierung von Studiengängen vor allem als ein Element der Ausrichtung von Studiengängen auf die Interessen der Wirtschaft im Sinne des Employability-Konzepts verstanden.
Wir schlagen dagegen vor, eine kritische Praxisorientierung als Leitlinie für eine progressive Studienreform zu begreifen und letztere daran auszurichten. Eine Praxisorientierung in diesem Sinne wird dabei nur gegen den Widerstand derjenigen durchzusetzen sein, die bei den gegenwärtigen Hochschul›reformen‹ am Ruder sind. Aber es lohnt sich: Denn wissenschaftliche Qualifikation ist eines der wichtigsten Instrumente zur Veränderung des Beschäftigungssystems – und der Gesamtgesellschaft.
Ulf Banscherus studierte Politikwissenschaft in Münster und Berlin und promoviert in Dresden im Fach Erziehungswissenschaft. Lars Schewe promoviert im Fach Mathematik in Darmstadt. Sonja Staack studierte Chemie und Journalistik in Hamburg. Sie arbeitet als wiss. Mitarbeiterin im Bundestag. Nach ihrem Engagement im fzs zu Fragen der Studienreform sind sie derzeit im AK Bildungspolitik des BdWi aktiv.
Kommentierte Literaturliste
Hier findet sich eine Reihe von Materialien und Artikeln, die im Zusammenhang mit der Auseinandersetzung um die Ziele und Umsetzung der Studienreform und die Diskussion der Praxisorientierung des Bachelor-Studiums von weiterführendem Interesse sind.
Das Thema dieses Artikels wird ausführlicher (und mit Blick auf das ganze Bildungssystem) im BdWi-Studienheft "Bildung - Beruf - Praxis" behandelt:
"Bildung - Beruf - Praxis. Bildungsreform zwischen Elfenbeinturm und Verwertungslogik" - BdWi Studienheft 4
Online auf http://www.bdwi.de/verlag/gesamtkatalog/475849.html
Die aktuelle Diskussion um Praxisorientierung des Studiums ist immer auch mit der Diskussion um den Bologna-Prozess verknüpft. Diese Aspekte werden von Ulf Banscherus, Annerose Gulbins, Klemens Himpele und Sonja Staack in ihrer Studie "Der Bologna-Prozess zwischen Anspruch und Wirklichkeit" in einem eigenen Kapitel beleuchtet:
Ulf Banscherus, Annerose Gulbins, Klemens Himpele und Sonja Staack: "Der Bologna-Prozess zwischen Anspruch und Wirklichkeit - Die europäischen Ziele und ihre Umsetzung in Deutschland", Studie im Auftrag der Max-Träger-Stiftung, Frankfurt 2009 Online auf http://www.gew.de/Binaries/Binary52190/090903_Bologna-Endfassung_final-WEB.pdf
Eine Vorstellung wie Praxisorientierung aussehen kann und die politischen Forderungen, die sich daraus ableiten, hat die Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft in ihrem wissenschaftspolitischen Programm formuliert:
Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW, 2009b):
"Wir können auch anders! Wissenschaft demokratisieren, Hochschulen öffnen, Qualitat von Forschung und Lehre entwickeln, Arbeits- und Studienbedingungen verbessern. Das wissenschaftspolitische Programm der GEW", Frankfurt/Main. Online auf http://www.gew.de/Binaries/Binary39662/Wipop.pdf.
Die Forderung nach einem kritischen Praxisbezug findet sich schon in der StudentInnenbewegung der 1960er. Eine Ausarbeitung der damaligen Positionen findet sich in der sog. SDS-Denkschrift "Hochschule in der Demokratie", die später weiter vertieft wurde. Eine Übersicht über die damalige Diskussion wird im BdWi-Studienheft "Hochschule und Demokratie" gegeben:
"Hochschule und Demokratie. Debattenbeiträge zu 40 Jahren StudentInnenbewegung, Hochschulreform und außerparlamentarischer Opposition" - BdWi-Studienheft 5
http://www.bdwi.de/verlag/gesamtkatalog/1565127.html
Die ursprüngliche Denkschrift ist auch immer noch lesenswert:
SDS-Denkschrift, Hochschule in der Demokratie, Verlag Neue Kritik, Frankfurt, 1972
Später wurde die Denkschrift von verschiedenen AutorInnen weiter ausgearbeitet. Dabei wurde vor allem auch der Teil zur Praxisorientierung stärker theoretisch unterlegt und mit der Frage der Hochschulautonomie verknüpft:
Nitsch u.a., Hochschule in der Demokratie, Luchterhand, Berlin, Neuwied, 1965