Hintergrundtexte zum Thema Bildungsstreik und -reformBildungspolitik und »aktivierender Staat«
Vorbemerkung zum Text
Über den Bund demokratischer Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler (BdWi)
Seit seiner Gründung 1968 engagiert sich der BdWi für eine Wissenschaft in gesellschaftlicher Verantwortung. Er bezieht auf Kongressen, in wissenschaftlichen Publikationen und politischen Stellungnahmen öffentlich Position zu Fragen von Wissenschaft, Forschung und Hochschulentwicklung. Im BdWi haben sich über tausend Natur-, Geistes- und SozialwissenschaftlerInnen zusammengeschlossen. Sie alle verbindet ihr gemeinsames Interesse an einer emanzipatorischen Wissenschafts- und Bildungspolitik.
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Für den Bildungsbereich ist bei der Umgestaltung der Sozial- und Bildungspolitik der vergangenen Jahre die Frage zentral, was unter Chancengleichheit verstanden werden soll. Handelt es sich um eine formale Gleichheit der Regeln, oder soll Chancengleichheit auch materiell unterfüttert werden, d.h ungleiche Ausgangsbedingungen auch ungleich behandelt und durch Transferleistungen bzw. öffentlich finanzierte Infrastruktur abgefedert werden? Torsten Bultmann und Vera Klier haben 2002 eine Analyse zu eben dieser Frage geschrieben, deren Kern die Umdeutung des Chancengleichheitsbegriffs "von der sozialen Emanzipation hin zur individuellen Wettbewerbsfähigkeit" ist. Die Zielsetzungen des Bildungssystems wurden und werden in dieser Debatte verschoben, indem der Arbeitsmarkt als Maßstab, die Investition in das Humankapital als Mittel zum Bestehen auf dem Arbeitsmarkt und das "Fehlinvestieren" in Bildung als persönliches Pech genommen werden. Bildung verliert so einerseits einen Teil der emanzipatorischen Bedeutung. Zum anderen wird unterstellt, dass der Arbeitsmarkt individuell beeinflussbar ist. Gerade die aktuelle Krise zeigt jedoch, dass die Frage der Arbeitsmarktsituation wesentlich von Faktoren bestimmt wird, die nicht durch das Individuum bestimmt werden können. Letztlich hat der Bildungsstreik sich auch gegen diese tiefgreifenden Veränderungen im politischen Diskurs gewandt. Die Hintergründe der Auseinandersetzung sind im folgenden Text dokumentiert.
Der Text von Torsten Bultmann und Vera Klier ist zuerst erschienen in: Bund demokratischer Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler (BdWi) / freier zusammenschluss von studentInnenschaften (fzs): Bildungsfinanzierung, Marburg 2002.
Bildungspolitik und »aktivierender Staat«
Neue Ansätze wettbewerbskorporatistischer Bildungssteuerung
Bildungspolitik erscheint zurzeit als eine Komposition aus Sparpolitik und Modernisierungsrhetorik, aus der folglich keine neue Substanz entstehen kann. Dieser Eindruck trügt. Zwar gibt es noch keine weitreichende Veränderung des aus der traditionellen Industriegesellschaft übernommenen Bildungssystems; ungeachtet dessen formulierten im Verlaufe der 1990er Jahre neue bildungspolitische Akteurskonstellationen veränderte Begründungskontexte1. Diese haben das Stadium politischer Entscheidungen erreicht: etwa in Modellversuchen von »Schulautonomie oder durch Einführung von Studiengebühren und Bildungskonten.
Von Torsten Bultmann und Vera Klier
Es wäre ein Fehler, die Reichweite der auf die Weise angestrebten institutionellen Veränderungen zu unterschätzen. Was sich gegenwärtig an modernisierter Bildungspolitik abzeichnet, zielt nicht mehr auf eine Modifikation des Bestehenden, sondern auf eine historisch neuartige Verknüpfung von Bildungssystem und ökonomischem Wertschöpfungssystem. Die Vermittlungsinstanz zwischen beiden Systemen ist der Arbeitsmarkt, für den sich entsprechend neue Regulierungsmechanismen, auch zunehmend eingekleidet in bildungspolitische Formeln, herauskristallisieren. Das Jürgen Rüttgers zugeschriebene geflügelte Wort, dass "Bildung die soziale Frage des 21. Jahrhunderts" sei, trägt durchaus ambivalente Züge: Zum einen kann niemand bestreiten, dass Bildung immer »wichtiger« wird; zum anderen geht hier die »soziale Frage« komplett in Bildungspolitik auf. Das Thema der sozialen Gerechtigkeit wird vollständig vom Thema gesamtpolitischer Regulierung bzw. sozialstaatlicher (Um-)Verteilung des gesellschaftlichen Reichtums entkoppelt. Mit dieser neuartigen Thematisierung von Bildung beschäftigen wir uns im Folgenden.
»Chancengleichheit« als Staatsziel
Unter dem Vorsitz der derzeitigen Bundesbildungsministerin, Edelgard Bulmahn (SPD), und des Bayerischen Wissenschaftsministers, Hans Zehetmair (CSU), führte das Forum Bildung VertreterInnen von Bund und Ländern, der Wissenschaft und gesellschaftlich relevanter Verbände in einer dreijährigen Arbeitstätigkeit zusammen, um zu klären, was in der Bildungspolitik derzeit konsensfähig ist. Die um die Jahreswende 2001/2002 veröffentlichten mehrbändigen Empfehlungen widerspiegeln die denkmöglichen politischen Ziele einer informellen Großen bildungspolitischen Koalition in der gesellschaftlichen Spannweite zwischen CSU und SPD, zwischen ArbeitgeberInnen und GewerkschaftsfunktionärInnen. In der Präambel der Empfehlungen werden von insgesamt fünf strategischen Herausforderungen als die ersten drei Folgende genannt:
"den Zugang zu Bildung und den Erwerb von Bildung unabhängig von Herkunft, Geschlecht, Nationalität sowie sozialer und wirtschaftlicher Situation sicherzustellen,
die Kompetenzen zu erwerben, die erforderlich sind, um sich in der immer größeren Fülle des Wissens zurecht finden, das relevante Wissen auswählen und anwenden zu können,
den Grundsatz des lebenslangen Lernens in allen Bildungsbereichen und für alle zu verwirklichen ..."2
Die Zielsetzung der »Chancengleichheit« soll sich vor allem in der "frühen Förderung"3, d.h. in der institutionellen Aufwertung frühkindlicher Bildung (KiTa, Grundschule, Ganztagsunterricht) verwirklichen. Da vergleichbare OECD-KonkurrentInnen in diesen Sektor der Elementarbildung mehr als das Doppelte investieren, besteht hier – abgesehen von der pädagogischen Zweckmäßigkeit – ein erheblicher Nachholbedarf.
Diese spezifische Kombination an Prioritäten – Chancengleichheit bereits am Anfang der individuellen Bildungsbiographie; lebenslange individuelle Orientierungsfähigkeit in der »Informationsgesellschaft« als Maßstab für Bildungschancen; entsprechend lebenslange Lernkompetenz als Kriterium für das gesamte Bildungssystem – stellt ein neues bildungspolitisches Muster dar, mit dem wir es künftig recht häufig zu tun haben werden.
Seit Jahren wird von führenden bildungspolitischen AkteurInnen das Thema »Chancengleichheit« aufgewertet; allerdings, in dem es zugleich in einen neuen sozialpolitischen Kontext gerückt wird. So umreisst die NRW-Bildungsministerin Gabriele Behler (SPD) die programmatische Karriere dieses Begriffes im Verhältnis zur Geschichte ihrer Partei: "Die Forderung nach Chancengleichheit im Bildungswesen war in den Anfängen der Arbeiterbewegung ein zentrales Instrument, über den die Befreiung der ganzen sozialen Gruppe angestrebt wurde. Heute hat sich die Blickrichtung von der sozialen Klasse hin zum Individuum verschoben. Es geht jetzt bei der Forderung nach Chancengleichheit mehr um die bestmögliche Ausstattung jedes Einzelnen." 4
Damit ist auch die Bedeutungsspannweite des Begriffes von der sozialen Emanzipation hin zur individuellen Wettbewerbsfähigkeit plastisch erfasst. Bei einer Tagung des SPD-Forums Grundwerte zeigte sich der nordrhein-westfälische Ministerpräsident Wolfgang Clement davon überzeugt, "dass das Bildungssystem für die Zuteilung von Arbeits- und Lebenschancen noch mehr an Bedeutung gewinnen wird als es heute schon der Fall ist." Die dazu erforderliche programmatische Revision setzt er mit "Godesberg" gleich.5 So müsse die explizite Aufwertung des Chancengleichheitspostulats umgekehrt proportional zum Grad der beabsichtigten Absenkung der Staatsquote (Rückführung des Staates auf "Kernaufgaben") und zur Relativierung einer traditionellen, strukturell ansetzenden Sozial- und Verteilungspolitik einhergehen. An deren Stelle tritt der Erwerb sog. "participatory skills"6, verstanden als individuelle Instandsetzung, sich am Marktgeschehen beteiligen zu können.
Inszeniert wird diese Art »Chancengleichheits«-Politik als Kontinuität sozialdemokratischer Traditionswahrung. In Wirklichkeit handelt es sich um einen politischen Bruch: Bestand etwa der ursprüngliche sozialreformistische Minimalkonsens einer auf Chancengleichheit ausgerichteten Bildungspolitik ganz offenbar in der Annahme, dass Märkte aus sich selbst heraus keine soziale Gerechtigkeit bewirken können, und dass es deswegen eines politischen Ausgleichs sowohl durch strukturelle Bildungsförderung und Demokratisierung gesellschaftlicher Verhältnisse ("Demokratie wagen!") als auch durch Maßnahmen wohlfahrtsstaatlicher Verteilungsgerechtigkeit bedürfe, wird dieses Verhältnis in den aktuellen neo-sozialdemokratischen Interpretationen des Themas Chancengleichheit exakt umgedreht. Chancengleichheit ist kein Kriterium des gesellschaftlichen Lebens, der gesellschaftlichen Beteiligung bzw. der selbstbestimmten Verfügung über die eigenen Lebensumstände mehr, sondern reduziert sich auf gleiche juristische Eintrittsbedingungen in sich selbst regulierende Märkte.
In diesem Ansatz wird gesellschaftliche Partizipation konsequenterweise auf Bildungsteilhabe reduziert. Dies ist durchaus vereinbar mit einer interventionistischen staatlichen Politik, die die Individuen mit einem vergleichbaren "Startkapital" ausstattet (Gabriele Behler)7. Der "aktivierende Staat" beansprucht folglich, eine gewisse formelle Gleichheit der Eintrittsbedingungen in die Konkurrenzgesellschaft herzustellen, nicht zuletzt, indem er auch bildungsdiskriminierende Effekte, die aus konservativer Besitzstandssicherung und bestehenden kulturellen Dominanzmustern resultieren mögen, beseitigt. Dies ist insofern plausibel, als es auch ökonomisch unsinnig ist, wenn potenzielle Talente, die die Standortqualität mehren könnten, aufgrund anachronistischer außer-ökonomischer Selektionsmechanismen unerkannt blieben. Im Kern geht es um eine effizientere Förderung individueller Durchlässigkeit des statischen deutschen Bildungssystems; nicht zuletzt als Konsequenz aus PISA! Das ist die Quintessenz des »neuen« Chancengleichheitsbegriffes. Kehrseite ist die Absage an kollektive Emanzipationsprozesse ganzer sozialer Klassen und Gruppen, da Bildungspolitik allein genau dafür nicht ausreicht.
Insofern liegt es in der Immanenz dieses theoretischen Ansatzes, eine Politik vermeintlich »gleicherer« Bildungschancen mit der expliziten Legitimation sozialer Ungleichheit in den gesellschaftlichen Verhältnissen zu verbinden. Es gelte, "die Chancen auf Gleichheit [zu] erhöhen, ohne jedoch Gleichheit im Ergebnis ... zu versprechen." Schließlich ist, so Clement, "begrenzte Ungleichheit ... auch ein Katalysator für individuelle als auch für gesellschaftliche Entfaltungsmöglichkeiten."8 Wenn man den Markt als alleinige Zuweisungsinstanz gesellschaftlicher Positionen betrachtet, ist diese Haltung konsequent: Ungleichheit ist Voraussetzung und ständiges Ergebnis der Konkurrenz. Das Ziel der »Ergebnisgleichheit« wird in diesem Arrangement einer vermeintlich leistungsfeindlichen, im Regelfall mit den »70er Jahren« identifizierten Egalitarismuspolitik aufgebürdet – die es in der behaupteten Form nie gegeben hat9 – getreu dem Motto: Soziale Hierarchien sind dann gerecht, wenn sie auf Leistungsunterschieden beruhen! Zu ergänzen wäre: Auf Leistungsunterschieden, die das Bildungssystem bei gleichen Eintrittsbedingungen hervorgebracht hat. Jede weitere Gesellschaftspolitik als Beschäftigung mit der »sozialen Frage« erübrigt sich dann.10
Bildungspolitik als Sozialpolitik
Natürlich ist die programmatische Revision von Grundbegriffen der Bildungsreform nicht ursächlich auf exemplarische PolitikerInnenreden auf Tagungen zurückzuführen. Derartigen, an eine breitere Öffentlichkeit gerichteten Events liegt eine länger währende Inkubationszeit konzeptioneller Vor- und Parallelarbeit in Think-Tanks und Sachverständigenräten zugrunde, die die entsprechende diskurspolitische Wende vorbereiten helfen. Oliver Schöller hat diese Prozesse eingehend untersucht.11 Neben der Bertelsmann Stiftung wären hier beispielhaft zu nennen der Sachverständigenrat Bildung der Hans-Böckler-Stiftung mit seinem Gutachten "Für ein verändertes System der Bildungsfinanzierung" (1998) oder die Bildungskommission der Heinrich-Böll-Stiftung mit ihren Empfehlungen "Bildungsfinanzierung in der Wissensgesellschaft" (2001).
Ein aktuelles – und besonders originelles – Produkt aus dieser Denktradition ist das Manifest "Bildung für die Arbeits- und Wissensgesellschaft" (2002) des Netzwerkes Europäische Lernprozesse (NELP). NELP wird von der Grundsatzabteilung des DGB-Bundesvorstandes, von der Hans-Böckler-Stiftung und dem Institut für Soziologie der Uni Freiburg getragen. In seiner Selbstcharakterisierung ordnet das NELP seine Diskussionen explizit politischen Leitbegriffen wie "aktivierender Staat", "Bürgergesellschaft" und "Dritter Weg" zu.12 Das Bildungsmanifest orientiert sich etwa an der, aus Sicht der Autoren irreversiblen, Auflösung des Normalarbeitsverhältnisses. Der daraus resultierende politische Regulierungsbedarf wird signifikanterweise ausschließlich auf eine Flexibilität stützende und ermöglichende, individuell ansetzende Bildungsförderpolitik projiziert:
"Erzwungene Wechsel müssen sich nach dem Vorbild von ‚Wertschöpfungsketten‘ in einer sinnvollen Abfolge von Bildungsereignissen – ‚Bildungsketten‘ – verarbeiten lassen. Lebenslanges Lernen muss die einzelnen Glieder dieser Kette, sprich: Bildungs- und Berufserfahrung, miteinander verknüpfen ..." Nur so würde "eine Alternative zu herkömmlich verteilten [!; TB/VK] Bildungs- und Beschäftigungschancen geschaffen." (S.9). Dieser Argumentation folgt eine Vision: "... wenn man die Erfahrungen und Perspektive von Arbeitsverhältnissen, die nicht mehr dem Normalarbeitsverhältnis entsprechen, für strukturbildend hält, macht es Sinn, in die Individuen zu investieren. Der Yale-Professor Bruce Ackermann hat vorgeschlagen, in jeden jungen Menschen nach der Pflichtschulzeit 80 000 Dollar zu investieren. Darin steckt die Hoffnung, dass viele dieses Kapital als Investition in ihre Zukunft ansehen und überlegt mit ihrem Leben umgehen werden." (ebd.)
Wer folglich auf dem Arbeitsmarkt Pech hat, hat »fehlinvestiert« bzw. »unüberlegt« gehandelt. Mit solchen und ähnlichen Weisheiten tragen gewerkschaftliche Milieus gegenwärtig zu ihrer eigenen perspektivischen Selbstliquidierung bei. Konsequenz ist schließlich die völlige Preisgabe des Anspruchs, die gesellschaftlichen Arbeitsbeziehungen, zu denen auch die Bildungsstrukturen gehören, politisch zu gestalten – als »Mandat« bliebe lediglich die Verhandlung über die Höhe öffentlicher Subventionen der individuellen »Bildungskonten«, deren Vorform wir übrigens aktuell in den für Nordrhein-Westfalen und Rheinland-Pfalz geplanten (sozialdemokratischen) »Studienkonten« – von DGB und ver.di unterstützt – erleben dürfen. Das auf diese Weise propagierte bildungspolitische Leitbild ist in alle Richtungen der aktuellen Arbeitsmarkt- und Sozialpolitik »anschlussfähig«: es ist das der »Ich-AGs« bzw. der – in aktuellen Worten von Rudolf Hickel – "im wahrsten Sinne des Wortes flexiblen und mobilen Arbeitsnomaden, ausgestattet mit einem öffentlich finanzierten Rucksack ..." (Freitag 16.9.02)
Last but not least liegt dem NELP-Manifest – unisono mit den Gutachten aller anderen Sachverständigenräte – eine betriebswirtschaftlich verkürzte Vorstellung von »Lebenslangem Lernen«, die ausschliesslich auf die Flexibilisierung von Arbeitsmärkten fixiert ist, zugrunde. Ausgangspunkt ist die überall gehandelte, aber dennoch falsche These von der »wachsenden Halbwertzeit des Wissens«, die besagen soll, dass im Kontext der »Informationsgesellschaft« einmal erworbenes Wissen in immer kürzeren Abständen verfällt. Falsch ist die These deswegen, weil es dabei nicht um die objektive gesellschaftliche Relevanz und den realen Erkenntnis- und Gebrauchswert von Wissensbeständen geht, sondern ausschließlich um deren Verwertbarkeit auf Märkten im Zyklus ökonomisch-technologischer Konjunkturen.13 Wenn aber diese – herrschende – Sichtweise übernommen wird, folgt daraus logisch zwingend die Konzeption einer biographischen »Umverteilung« von Wissensportionen aus dem öffentlichen Erstausbildungs- in den (überwiegend privaten) Weiterbildungssektor. Es ginge – so der Sachverständigenrat der Böckler-Stiftung – um "eine andere Verteilung der Lernzeiten auf das Leben der Individuen (also insbesondere eine Verlagerung von der Erstausbildung in die Weiterbildung)".14
Die Annahme lautet: Je spezialisierter und berufsnäher das erworbene Wissen ist, um so schneller seine Verfallszeit, um so geringer die Notwendigkeit, diese Kenntnisse als normiertes Wissen in den weiterführenden Bildungswegen des staatlichen Sektors im Rahmen der Erstausbildung zu erwerben. Dieses wiederum ist der bildungsökonomisch-pädagogische Hintergrund für die – institutionelle, finanzielle und familienpolitisch-propagandistische – Aufwertung der Elementarbildung in KiTas und Grundschulen im Sinne des Konzeptes »Chancengleichheit beim Start«. Kehrseite davon ist die Reduktion öffentlicher Verantwortung für spätere Bildungsphasen im staatlichen System (etwa Sekundarstufe II oder Studium), die künftig administrativ verknappt und über eine Stärkung von Steuerungselementen der »Eigenverantwortung« und sukzessiv zunehmenden finanziellen Selbstbeteiligung geprägt sein sollen. Dafür plädieren im Kern alle erwähnten Expertenräte; Nuancen zwischen ihnen sind lediglich technokratischer Natur.
In den Worten der Heinrich-Böll-Stiftung: "Er [Der Sozialstaat; TB/VK] muss vor allem den Schwerpunkte [sic!] seiner Förderungen auf die Einrichtungen der frühen Kindheit und die Grundschulen verlagern. Mit zunehmendem Alter der Geförderten sollen die staatlichen Mittel schrittweise an die zu Fördernden adressiert, also ‚elternunabhängiger‘ werden. Eigenaktivität und Verantwortung sind zu stimulieren."15 Noch anders ausgedrückt: innerhalb dieses Legitimationsmusters lässt sich die kinderfreundliche Stärkung der Elementarbildung als kostenneutrale »Umverteilung« staatlicher Bildungsausgaben begründen.
Eine populistische Steigerungsform dieses Arrangements konnte man in den letzten Monaten mehrfach in der Presse nachlesen, wenn in Berichten und Kommentaren eine unmittelbare politische Verteilungskonkurrenz zwischen einzelnen Gruppen von BildungsteilnehmerInnen behauptet wurde; so stellten etwa einige AutorInnen eine moralische Relation her zwischen der Tatsache einer Gebührenfreiheit des Hochschulstudiums und der Unterfinanzierung von Kindergärten, obwohl das eine mit dem anderen nichts zu tun hat. Unter der Überschrift "Vorrang für Kindergärten und Grundschulen" werden dann etwa an einem Runden Tisch "Aus PISA lernen" [sic!], den der Börsenverein des Deutschen Buchhandels zusammen mit der Stiftung Lesen am 15. Juli d. J. in Berlin veranstaltete, solche Aussagen in die Welt gesetzt: "Unsere im internationalen Vergleich zu hohen Ausgaben für weiterführende Schulen müssen zu Gunsten der Grundschulen und Kindergärten umgeschichtet werden."16
Den Vogel schoss dabei der unvermeidliche Peter Glotz ab: "Wir müssen in der Tat mehr Geld in die Integration von Ausländern, in Kindergärten und Ganztagsschulen stecken. Das heißt natürlich auch, dass der Staat Hochschulen finanziell nicht stärker fördern kann. Universitäten brauchen daher langfristig neue Geldquellen; und das sind vor allem Studiengebühren" (VDI-Nachrichten 18.7.02). Ideologische Kampagnen gegen sog. LangzeitstudentInnen und sonstige »Privilegierte« sind daher die Begleitmusik gesellschaftlicher Akzeptanzbeschaffung für das genannte bildungspolitische Muster.
Qualifizierungspflicht für den Arbeitsmarkt
Das gesellschaftliche Bildungskonzept des »aktivierenden Staates« lässt sich im Prinzip auf eine Formel bringen: Am Beginn der Bildungsbiographie, d.h. in der frühen Kindheit, wird in einem gewissen Umfang soziale Selektion abgebaut, um durch (Teil-) Privatisierung späterer Bildungsphasen Selektion um so effizienter stattfinden zu lassen.17 Es handelt sich, kurz gesagt, um eine Modernisierung von Auslesemechanismen.
Ihr Kern ist eine Verinnerlichung ökonomischer Anpassungszwänge in der entsprechend stärker zweckorientierten Gestaltung der jeweiligen (»verbetriebswirtschaftlichten«) individuellen Lebensweise und Bildungsbiographie. Der Zugriff auf potenzielle Arbeitskraft wird so bis weit in die Bereiche des öffentlichen Bildungssystems ausgedehnt. Dem liegen Konzepte des lebenslangen »Selbstunternehmertums« bzw. des »Arbeitskraftunternehmers« zugrunde. Damit ist dieser bildungspolitische Ansatz zugleich integraler Bestandteil der Durchsetzung eines neuen gesellschaftlichen Arbeitsregimes, welches zugleich ein Disziplinarregime ist: die ideologische Aufladung der Arbeit als »Pflicht« in der neu-sozialdemokratischen Programmdebatte – eingeschlossen die »Mitwirkungspflicht« bei der Arbeitssuche – wird konsequenterweise durch eine informelle »Qualifizierungspflicht« ergänzt. Diese wirkt sich im internalisierten Druck aus, auf Bildungsmärkten die eigene Qualifikation gegen deren immer schnellere Verfallszyklen verwertbar zu erhalten und dafür ggf. das limitierte individuelle, staatlich subventionierte »Bildungskapital« (Bildungsguthaben, -gutscheine, -konten etc.) »verantwortlich« einzusetzen.
Dieser bildungspolitische Ansatz ist nicht einfach neoliberal, sondern »wettbewerbskorporatistisch«. Gewerkschaftliche (Teil-)Milieus wirken an der Konzeptualisierung dieser Politik mit18, die entsprechend vom ideologischen Anspruch einer Integration der »sozialen Frage« geprägt ist. Dies drückt sich u.a. in einer überbordenden Gerechtigkeitsrhetorik aus, die um so aufdringlicher erscheint, je mehr sich die Konzepte vom Ziel wirklicher sozialer Gleichheit entfernen.19
Die (potenzielle) Akzeptanz dieser Politik basiert auf einer populären Annahme, die immer mehr auf ein Paradoxon hinausläuft. Es handelt sich um die Vorstellung, es gäbe einen über eigenes Handeln bestimm- und beeinflussbaren Zusammenhang zwischen persönlicher Leistung "bestausgestatteter" (Behler) Individuen und ihrer gesellschaftlichen Position. Das tarif- und sozialrechtlich regulierte »Normalarbeitsverhältnis« des Fordismus bot – ohne Garantie – noch einen weit höheren Grad an Durchschaubarkeit und Steuerbarkeit dieses Verhältnisses durch Eigenhandeln. Solche Voraussetzungen schwinden jedoch im gleichen Maße, wie das Normalarbeitsverhältnis im Kontext der Globalisierung abgebaut wird. Die wettbewerbskorporatistische Politik bürdet damit den Menschen eine individuelle Verantwortung auf, die sie objektiv gar nicht tragen können: Die Selektion des »nützlichen« Wissens und die damit verbundene ökonomische Bewertung spezifischer »Leistungen« wird immer mehr von börsenkursstimulierten Angebots- und Nachfragestrukturen auf globalen Märkten bestimmt. Dabei handelt es sich um unbeeinflussbare und unvorhersehbare Prozesse.
Anders gesagt: Appelle an »Eigenverantwortung«, »Leistung« und »Selbstbestimmung« schwellen in dem Maß öffentlich an, wie die gesellschaftlichen Voraussetzungen dafür, die Bewertung der eigenen Leistung durch individuelles Verhalten beeinflussen zu können, von der gleichen Politik, die derartige »Werte« exzessiv propagiert, abgebaut werden – und wie die Individuen an realer gesellschaftlicher Handlungsfähigkeit einbüßen, kurz: ohnmächtiger werden! In dem Maße, wie sich der illusionäre Charakter dieser Politik herum spricht, schwindet auch ihre gesellschaftliche Basis. Das ist eigentlich ganz einfach!
Torsten Bultmann ist, Vera Klier war GeschäftsführerIn des Bundes demokratischer Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler / BdWi
Fußnoten
1 Zur diskurspolitischen Vorbereitung und Verfestigung dieser politischen Muster vgl. den Beitrag von Oliver Schöller in: Bund demokratischer Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler (BdWi) / freier zusammenschluss von studentInnenschaften (fzs): Bildungsfinanzierung, Marburg 2002.
2 Empfehlungen des Forum Bildung Bd. I [Bonn 2001], S. 7
3 a.a.O., S. 9ff
4 Gabriele Behler: Chancengleichheit in der Politikumsetzung (Rede beim Kongress Chancengleichheit – Leitbegriff für Politik und Gesellschaft im 21. Jahrhundert, 12. November 1999 in Potsdam); in: zweiwochendienst 21-22/99 (22.12.99), S. X - XIV (hier: S. X)
5 Wolfgang Clement: Durch innovative Politik zu gerechterer Teilhabe (Rede anlässlich der Tagung des Forum Grundwerte: Gerechtigkeit der SPD in Berlin am 26.4.2000); vgl.: http://www.archiv.spd.de/events/grundwerte/clement.html (Zugriff: 20.8.02)
6 vgl. dazu: Gerd Mielke: Sozialdemokratie und Bürgergesellschaft; in: Blätter für deutsche und internationale Politik 6/2001, S. 701-710, hier: S. 705
7 Der Ausdruck "Startkapital" darf durchaus wörtlich genommen werden, da der Aufbau (staatlich teilsubventionierter) Bildungskonten bzw. -guthaben zur lebenslangen Steuerung des individuellen Bildungsverhaltens in neuen Bildungsfinanzierungskonzepten eine entscheidende Rolle spielt: vgl. dazu den Beitrag von Klemens Himpele in: Bund demokratischer Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler (BdWi) / freier zusammenschluss von studentInnenschaften (fzs): Bildungsfinanzierung, Marburg 2002.
8 Clement a.a.O., Kap.IV. Stilbildend wirkte hier das Schröder-Blair-Papier mit seinem Spruch: "In der Vergangenheit wurde die Forderung der sozialen Gerechtigkeit manchmal mit der Forderung nach Gleichheit im Ergebnis verwechselt. Letztlich wurde damit die Bedeutung von eigener Anstrengung und Verantwortung ignoriert und nicht belohnt." In: Blätter für deutsche und internationale Politik 7/1999, S. 888
9 Chancengleichheitspolitik bzw. damit verbundene Vorstellungen gesellschaftlicher Gleichheit in der emanzipatorischen Traditionslinie der Bildungsreform hatte niemals etwas mit Vorstellungen formaler Ergebnisgleichheit oder administrativer Nivellierung von Unterschieden zu tun. In Wirklichkeit ging es immer um Gleichwertigkeit in der gegenseitigen Anerkennung von Differenz; anders gesagt: um strukturell gleiche Lebenschancen sehr verschiedener Individuen. Gleichwertigkeit des Differierenden bedeutet, Unterschiedlichkeiten wert zu schätzen ohne daraus Hierarchien, verschiedene Wertigkeiten und Privilegien abzuleiten.
10 Kein Sozialdemokrat würde dieses Schema derartig bündig auf den Punkt bringen wie die neoliberale Wirtschaftswoche. Im Kern läuft aber beides auf das Gleiche hinaus: "Faire Bildungschancen machen die teure, ineffiziente Sozialpolitik alten Stils entbehrlich. Wenn sich fast jeder selbst helfen könne, schwärmte schon Ludwig Erhard in den Anfangsjahren der Bundesrepublik, bleibe die Aufgabe des Sozialstaates darauf beschränkt, Chancengleichheit und ein Mindestmaß an sozialer Sicherheit zu garantieren. Je durchlässiger das Bildungssystem, je leichter der soziale Aufstieg, desto schwieriger wird es für die Bequemeren, staatliche Transfers zu fordern. Sie müssen die Konsequenzen ihres Verhaltens selbst tragen." In: Wirtschaftswoche Nr.21, 14.5.1998, S. 31
11 Schöller, Oliver: Modelle zukünftiger Bildungsfinanzierung seit den 90er Jahren. Eine Synopse (Werkauftrag der PDS-Bundestagsfraktion). Berlin 2001; vgl. auch den Beitrag des gleichen Autors in: Bund demokratischer Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler (BdWi) / freier zusammenschluss von studentInnenschaften (fzs): Bildungsfinanzierung, Marburg 2002.
12 http://www.nelp.de (dort kann auch das "Bildungsmanifest" heruntergeladen werden)
13 Eigentlich müsste genau umgekehrt argumentiert werden: gerade angesichts ökonomischer Flexibilisierung steigt die gesellschaftliche Relevanz »haltbarer« und anti-zyklischer Wissensbestände, die vorrangig im staatlich-öffentlichen Bildungssystem erworben werden, das somit eher noch aufgewertet werden muss. Eine solche Sichtweise versuchte etwa ein von der Berliner Senatsverwaltung für Arbeit, Berufliche Bildung und Frauen einberufener Expertenbeirat durchzusetzen; vgl. Berliner Memorandum zur Modernisierung der Beruflichen Bildung. September 1999, S. 41. Dies ist leider bisher nicht gelungen, zumal sogar »gewerkschaftliche« Sachverständigenräte die gängige neoliberale Vorstellung von Lebenslangem Lernen affirmativ übernehmen.
14 Sachverständigenrat Bildung bei der Hans-Böckler-Stiftung: Für ein verändertes System der Bildungsfinanzierung. Düsseldorf 1998, S. 9
15 Bildungskommission der Heinrich-Böll-Stiftung: Bildungsfinanzierung in der Wissensgesellschaft. Berlin 2001, S.2
16 Zit. nach: zweiwochendienst 11-12/2002, S. 28. Dass die teilnehmende bildungspolitische SPD-Prominenz wie der rheinland-pfälzische Wissenschaftsminister Jürgen Zöllner solchen Aussagen eventuell widersprochen hätten, konnte der Berichterstattung nicht entnommen werden. Die hier zitierte – und gegenwärtig häufig kolportierte – Aussage, Deutschland würde im internationalen Vergleich zuviel Geld für »weiterführende Schulen« ausgeben, ist insofern tendenziös, als in den vom OECD-Länderdurchschnitt erfassten Sekundarbereich auch die privaten Aufwendungen von Betrieben für die duale Berufsausbildung aufgeführt werden. Etwas Vergleichbares gibt es aber in anderen Ländern kaum. Vgl. dazu korrekt: Sachverständigenrat Bildung bei der Hans-Böckler-Stiftung: Für ein verändertes System der Bildungsfinanzierung. a.a.O., S. 27
17 Man sollte in diesem Zusammenhang auch daran erinnern, dass alle erwähnten Sachverständigenräte nicht nur für eine stärkere finanzielle Eigenbeteiligung in späteren Bildungsphasen eintreten, sondern die allgemeine Hochschulzugangsberechtigung in ihrer heutigen Form durch ein Auswahlrecht der Hochschulen gegenüber StudienplatzbewerberInnen ersetzen wollen.
18 Genau darin besteht der Unterschied zwischen »Neoliberalismus pur«, der aus sich selbst heraus keinen langfristig tragfähigen sozialen Konsens, der sich auch in stabilen Regierungsmehrheiten äußert, hervorbringen kann, und moderneren Varianten des Wettbewerbskorporatismus, der etwa versucht, die Gewerkschaften, oder Teile von ihnen, als Ordnungsfaktor in eine neue Regulierungspolitik einzubauen und die »soziale Frage« rhetorisch zu integrieren. Vgl. dazu sehr erhellend: Martin Dieckmann: Auf dem "Dritten Weg" ins 21. Jahrhundert – Überlegungen zur neuen Sozialdemokratie; in: analyse & kritik (ak) 431, 21.10.1999. Die Feststellung, dass der Wettbewerbskorporatismus eine zukunftsträchtigere politische Konzeption ist, gilt völlig unabhängig von aktuellen Wahlausgängen. Zwar sind entsprechende Überlegungen zuerst in den Theoriezirkeln der neuen Sozialdemokratie entstanden, jedoch nicht an bestimmte Parteien gebunden. Ähnlich gerichtete Überlegungen finden sich etwa auch in CSU/CDU.
19 Auch bei dieser Heuchelei kommt dem NELP-Bildungsmanifest (a.a.O.) ein Spitzenplatz zu. Es überschlägt sich gerade zu in klassenkämpferischer Rhetorik: "... die Bildungsfrage [ist] eine Verteilungsfrage ersten Ranges. Teilnahmechancen müssen auch gegen etablierte Vermögens- und Einkommensbestände bereitgestellt werden ...", S. 6. Wer jetzt jedoch schon die Revolutionsgarden ausrücken sieht, kann sich wieder beruhigen. In den folgenden Ausführungen reduziert sich der Angriff auf "Vermögensbestände" auf eine effektivere "Umverteilung" innerhalb der staatlichen Bildungsausgaben entsprechend dem beliebten Muster: Studierende gegen HauptschülerInnen (oder Vorschulkinder); vgl. a.a.O., S. 8f.
Kommentierte Literaturliste
Die Frage, welche Funktion Bildung erfüllen kann – und welche eben nicht –, ist zentral für die Einordnung der Debatte über Bildung und "aktivierenden" Sozialstaat: Kann Bildung soziale Sicherungssysteme ersetzen, da es die Chancen für alle erhöht? Oder ist Bildung lediglich notwendige Voraussetzung für Emanzipation, keinesfalls aber Garant für eine gerechtere und sozialsystemfreie Welt? Gerade im Zuge der Debatte um die Einschränkung sozialstaatlicher Leistungen wurde und wird gerne auf die Ermöglichung von Bildung als Substitut zum Sozialsystem verwiesen. Im Memorandum 2006 der Arbeitsgruppe Alternative Wirtschaftspolitik wurde dieser Frage grundsätzlich nachgegangen. Das entsprechende Kapitel ist online verfügbar:
http://www.memo.uni-bremen.de/docs/klassikerBildung.pdf
Der Erfolg des Um- und Abbaus sozialstaatlicher Errungenschaften ist eng verknüpft mit einer ideologischen Neuorientierung der Sozialdemokratie. Erst dadurch wurde es möglich, politische Konzepte umzusetzen, die von Union und FDP lange vorbereitet worden waren. Die Sozialdemokratie und die Grünen haben sich teilweise an den neoliberalen Zeitgeist angepasst, teilweise aber auch ureigene Interpretationen dieses Zeitgeistes vorgenommen. So wurde die soziale Frage neu interpretiert und diese neue Interpretation in Politikkonzepte umgesetzt. Birgit Mahnkopf hat bereits im Jahr 2000 die "Formel 1 der neuen Sozialdemokratie: Gerechtigkeit durch Ungleichheit" analysiert. Der Text ist bis heute wertvoll, um den Wandel nachzuvollziehen und verstehen zu können. Der Text ist online verfügbar unter
http://www.linksnet.de/de/artikel/17648
Den Umbau des Sozialstaats mit allen Konsequenzen hat Christoph Butterwegge in einem Buch beleuchtet. Er behandelt die Sozialstaatsgeschichte der Bundesrepublik und setzt sich in längeren Abschnitt mit der Politik sowohl der schwarz-gelben Bundesregierung (unter Helmut Kohl) als auch der rot-grünen Regierung (unter Gerhard Schröder) und den Diskursen in den Parteien auseinander. So wurde bereits unter Kohl ein großer Teil des Umbaus des Sozialstaates umgesetzt oder vorbereitet, insbesondere die Debatte über die Renten stammt bereits aus dieser Zeit. Unter Schröder war dann die Fixierung auf die Lohnnebenkosten die Ziele sozialstaatlicher Sicherung abgelöst hat und die Kosten nur als Standortnachteil gesehen werden. Daher sei es nicht verwunderlich, dass insbesondere die Sozialdemokratie (allerdings unterstützt durch die Grünen und mit Zustimmung im Bundesrat von Union und FDP) auf pervertierte Eigenverantwortlichkeitsrhetorik setze und das Ziel der Verteilungsgerechtigkeit durch eine Teilhabe- bzw. Chancengleichheit ersetzt habe. Dass materielle Gleichheit der Schlüssel sämtlicher Teilhabegerechtigkeit sein muss und dass das eine nicht ohne das andere zu haben ist, geht dabei verloren. Damit wird ein zentraler Bestandteil der Auseinandersetzung auch um die Bildungspolitik berührt, die zentrales Instrument der "neuen" Chancengleichheitsdebatte ist.
Christoph Butterwegge
Krise und Zukunft des Sozialstaates
VS Verlag für Sozialwissenschaften
318 S., geb., EUR 24,90
ISBN 3-8100-4138-6
Das Gegenmodell zu einer marktlichen Orientierung des Bildungssystems, in dem ein Recht auf Bildung nur derjenige hat, der glaubt, dass seine Investition sich auch lohnt, ist das Menschenrecht auf Bildung. Dieses in der sogenannten UN-Sozialcharta verankerte Recht versteht Bildung eben nicht als Instrument zur Verbesserung der Wettbewerbsfähigkeit sondern als wesentliches Instrument der Emanzipation und damit als Voraussetzung für eine funktionierende Demokratie. Der Bund demokratischer WissenschaftlerInnen hat zusammen mit anderen Organisationen hierzu ein komplettes Studienheft herausgegeben, dass dieser Tage erscheint und beim BdWi-Verlag zu beziehen ist:
http://www.bdwi.de/verlag/gesamtkatalog/2949347.html
Eingebettet ist der Umbau des Bildungssystems in eine politische Ideologe, die als Neoliberalismus bezeichnet wird. Was meint dies überhaupt und wogegen grenzt sich dieser Politikansatz ab? Hierzu hat Jens Wernicke einen Beitrag auf Studis Online (https://www.studis-online.de/HoPo/art-503-neoliberalismus.php) verfasst. Er ordnet die Entstehung des Neoliberalismus ein und beschreibt die Ideen anderer ökonomischer Richtungen. Dabei geht es im Kern um die Frage, wie der Austausch von Gütern zu organisieren ist und welche Rolle der Staat dabei spielt.
Wer der Frage der Entwicklung der deutschen Marktlehre – diese hat sich anders entwickelt als etwa die angelsächsische Variante – detailliert nachgehen will, dem sei die Dissertation von Ralf Ptak empfohlen. Ptak beleuchtet die "Stationen des Neoliberalismus in Deutschland". Er geht auf die Theoriebildung und die Rolle der Weltwirtschaftskrise ebenso ein wie auf die Durchsetzung nach 1945 – und damit auch auf die Rolle der Politik.
Ralf Ptak
Vom Ordoliberalismus zur Sozialen Marktwirtschaft.
Stationen des Neoliberalismus in Deutschland.
Leske + Budrich 2004
334 S., EUR 34,90
ISBN: 3-8100-4111-4