Baustelle BolognaWird bei europäischer Studienreform nachgearbeitet?
Die europäische Bologna-Reform des Hochschulsystems ist und bleibt eine Baustelle.
Es geschehen noch Zeichen und Wunder. Politik und Hochschulen schicken sich an, den übermäßigen Leistungs- und Prüfungsdruck, dem Bachelor-Studierende tagtäglich ausgesetzt sind, ein Stück weit zu mindern. Unlängst hatte die Süddeutsche Zeitung (SZ) über ein gemeinsames Positionspapier von Kultusministern und Hochschulrektoren berichtet, das angeblich mehr Freiräume, weniger Detailregelungen und eine Abkehr von der Notenfixierung empfiehlt. Die Autoren würden unter anderem für den Verzicht auf Zensuren in den ersten beiden Semestern, einen gerechteren Übergang zwischen Bachelor und Master sowie eine bessere Vergleichbarkeit von Zeugnissen plädieren.
Ziel sei es, „eine weitere Verdichtung und Vereinheitlichung des Studiums zu vermeiden“ und „eher einen Abbau von Regelungen“ hinzubekommen, zitierte die SZ den Rektor der Universität Siegen und Vizepräsident der Hochschulrektorenkonferenz (HRK), Holger Burckhart, und weiter: „Es geht um akademische Bildung, wir wollen keine Roboter produzieren.“ Im Interview mit dem Deutschlandfunk machte er weitere Ankündigungen. So sollte es „größere Module“ und ein Mehr an „individuellen Wahlmöglichkeiten“ geben. Selbst den Begriff „Studium Generale“ holte Burckhart aus der Mottenkiste. Man wolle dahin, dass „bis zu zehn Prozent des Studiums den Studierenden Freiraum gegeben wird für interdisziplinäre Studien oder für ethische Reflexion oder für gesellschaftliche Reflexion“. (Hört, hört!)
Abschied vom Fachidioten?
Zeichnet sich also nach 15 Jahren Bologna-Tretmühle der Abschied von der Fachidioten-Produktion ab? Man darf gespannt sein, zumal längst nicht ausgemacht ist, dass aus all den schönen Vorsätzen am Ende auch etwas wird. Laut SZ sollte das fragliche Konzept auf der Sitzung der Amtschefs der Kultusministerkonferenz (KMK) vor elf Tagen beschlossen werden. Daraus wurde nichts. Stattdessen hat man das Thema ohne Angabe von Gründen auf das nächste Treffen im September vertagt und das Papier unter Verschluss genommen.
Intern dürfte also noch eifrig über Inhalte und Formulierungen gerungen werden. Wobei die Bremser dem Vernehmen nach eher in der Politik verortet sind und die Antreiber in Reihen der Unis. Dafür spricht allein schon die öffentliche Wortmeldung des HRK-Vizes. Dessen „ehrgeiziges Ziel“ ist es immerhin, „dass die jetzige Studentengeneration davon noch einen Vorteil hat“. Burckharts Hoffnung sei es, „im Laufe des nächsten Jahres“ erste Umsetzungsschritte zu sehen. Nach raschem Vollzug hört sich das nicht an. Für die stressgeplagten Studierenden heißt das erst einmal: Weiter Strampeln!
Akkreditierungen verfassungswidrig
Gleichwohl zeigen die Vorgänge, dass so manches, was mit der europäischen Studienstrukturreform (Bologna-Prozess) über die Hochschulen kam, inzwischen so sehr im Argen liegt, dass die Verantwortlichen um Nachbesserungen nicht mehr herumkommen. Zu einer Neujustierung genötigt sind sie aktuell auch auf einer zweiten Baustelle. Anlass ist ein im März ergangenes Urteil des Bundesverfassungsgerichts, das die Verfahren der Akkreditierung von Studiengängen in Nordrhein-Westfalen für in weiten Teilen grundgesetzwidrig erklärt. Die Praxis verstoße gegen die Wissenschaftsfreiheit, das Demokratie- sowie das Rechtsstaatsprinzip, befanden die Karlsruher Richter. Geklagt hatte die private Hochschule für Logistik und Wirtschaft, Hamm GmbH, weil sie 2008 beim Versuch einer Reakkreditierung ihrer Studienangebote gescheitert war.
Worum geht es? Für die Zulassung eines Bachelor- oder Master-Studiengangs bedarf es eines „Gütesiegels“, das durch eine von zehn privatwirtschaftlichen Akkreditierungsagenturen vergeben wird. Diese agieren in staatlichem Auftrag unter der Aufsicht der öffentlich-rechtlichen Stiftung zur Akkreditierung von Studiengängen und begutachten die Antragshochschulen nach einem vorgegeben Prozedere im Sinne der „Verwirklichung des Europäischen Hochschulraums“. Zum Beispiel wird geprüft, ob ein Fach in der veranschlagten Zeit studierbar ist, ein schlüssiges Konzept dahinter steht oder die räumlichen und personellen Rahmenbedingungen stimmen. Werden die Anforderungen erfüllt, gibt es die Zertifizierung für fünf Jahre im Falle der Erstakkreditierung bzw. sieben Jahre bei erfolgreichem Folgeantrag (Reakkreditierung).
Profitmaschine
Das Verfahren geht mächtig ins Geld. Alles in allem kann es eine Uni mehrere Hunderttausend Euro kosten, bis ihr etwa für einen Bachelor in Informatik das „Qualitätssiegel“ angeheftet wird. Wie beschwerlich das ist, hatte die Wochenzeitung Die Zeit vor drei Jahren am Fall der Uni Ulm beleuchtet. Die durch Hochschulmitarbeiter ausgearbeitete Dokumentation der zehn zum Uni-TÜV geschickten Studiengänge umfasste 20.000 Seiten. Diese auszudrucken hätte allein 2.000 Euro verschlungen. Für die Sichtung des Materials, die Ortsbegehung und schließlich die Akkreditierung kassierte die beauftragte Agentur 30.000 Euro. Die Gesamtkosten bezifferte Studiendekan Frank Slomka mit 300.000 bis 400.000 Euro und bemerkte: „Von dem Geld hätte man einen Doktoranden rund fünf Jahre bezahlen können.“
Für die Privatagenturen ist das System dagegen eine echte Profitmaschine. Ein einzelner geprüfter Studiengang (Programmakkreditierung) spült ihnen bis zu 20.000 Euro in die Kassen. Deutlich teurer kann zunächst eine Systemakkreditierung werden. Dabei wird die ganze Hochschule unter die Lupe genommen und bei Gefallen mit der Aufgabe betraut, ihre Angebote selbst zu kontrollieren. In der Folge treten die Externen nur noch stichprobenartig in Aktion, wobei auch das stets mit einigen tausend Euro zu Buche schlägt. Bei heute schon weit über 16.000 Studiengängen kann man sicher sein, dass die Geschäfte prächtig laufen.
Ahnungslose Prüfer
So wie die Inflation an Studiengängen mit der Umstellung auf Bachelor und Master ihren Ausgang nahm, ist auch das Akkreditierungswesen ein Kind der Bologna-Reform. Bis dahin existierte ein System staatlich vorgegebener Rahmenprüfungsordnungen, für das die Wissenschaftsministerien der Länder im Zusammenwirken mit den Hochschulen zuständig waren. Das Qualitätsmanagement oblag dabei im Wesentlichen der Wissenschaft selbst, sprich den an der jeweiligen Hochschule tätigen Professoren. 2002 machte die Politik allerdings kurzerhand Schluss mit dieser über Jahrzehnte bewährten Praxis und überließ den Privaten das Feld.
Seither herrscht die große Unübersichtlichkeit, nicht nur bei den Studiengängen, von denen es vor dem Bologna-Startschuss 1999 in Deutschland nur ein paar Hundert gab. Der Wildwuchs überfordert Studierende und Hochschulen gleichermaßen. Sie klagen über Chaos, Bürokratie und Verschwendung. Das Verfahren produziere gewaltige Aktenberge, binde Kräfte und verschlinge jede Menge Geld. Schwer wiegt außerdem: Der externe „Sachverstand“ steht in einem denkbar schlechten Ruf. Nach dem Karlsruher Richterspruch forderte der Präsident des Deutschen Hochschulverbandes (DHV), Bernhard Kempen, im Deutschlandfunk eine Rückkehr zu alten Verhältnissen und bekräftigte: „Aber bitte nicht so wie bisher mit diesen halbstaatlichen Agenturen, in denen irgendwelche abgewrackten Wissenschaftsfunktionäre sitzen, die von Tuten und Blasen keine Ahnung haben.“
Ohne TÜV geht`s auch
Mit dem Urteil im Rücken wagen sich mittlerweile immer mehr Kritiker aus der Deckung. In der Vorwoche meldeten sich rund 30 Professoren mit dem sogenannten „Heidelberger Aufruf“ zu Wort. Darin appellieren sie an die politisch Verantwortlichen in Bund und Ländern, wieder die „selbstorganisierte Qualitätssicherung“ an Hochschulen einzuführen. Es gelte, universitäre Planwirtschaft, exzessive Bürokratie und die Selbstherrlichkeit einer „niemandem verantwortlichen Akkreditierungsoligarchie“ zu beenden. Mit der derzeitigen Praxis würden Steuergelder „in unvorstellbarem Ausmaß“ vergeudet, die Landesparlamente entmachtet und die Hochschulautonomie zerstört. Die Forderung der Autoren: „Schaffen Sie das Akkreditierungsmonstrum jetzt ab.“
So „monströs“ ist der Apparat gar nicht mal. Wohl auch weil sich viele Hochschulen den Uni-TÜV nicht leisten können oder wollen, ist die „Qualitätssicherung“ bestenfalls eine halbe Sache. Es gibt Bundesländer, in denen deutlich unter 50 Prozent aller Studienangebote zertifiziert sind. Dabei war eine Akkreditierung ursprünglich als Voraussetzung für die Genehmigung eines Studiengangs gedacht und dafür, die Gleichwertigkeit von Studien- und Prüfungsleistungen in ganz Deutschland zu gewährleisten. Studiert wird trotzdem überall, oft einfach ohne „TÜV-Plakette“.
GEW will Bundeshochschulgesetz
In ihrer jüngsten Mitgliederversammlung hat auch die KRK eine „Systemveränderung“ nach dem Urteil angemahnt. Es dürften keine länderbezogenen „Insellösungen“ entstehen, „das Gericht hat den Weg für eine bundesweite Modifikation des Qualitätssicherungssystems frei gemacht“, befand Verbandspräsident Horst Hippler und mahnte, eine Regelung „im Sinne der Hochschulen zu entwickeln“. Eine detaillierte Stellungnahme hat die HRK für November in Aussicht gestellt. Übermäßig eilig hat man es wohl auch bei diesem Thema nicht. Karlsruhe hat dem Gesetzgeber bis Ende 2017 Zeit gegeben, eine verfassungskonforme Neuregelung vorzunehmen.
Weitergehende Forderungen nach einem „Bundeshochschulgesetz“ stellt die Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW). „Der konsequente Weg wäre, wenn der Bund jetzt für Klarheit sorgt und seine im Grundgesetz verankerte Gesetzgebungskompetenz für die Hochschulzulassung und -abschlüsse nutzt“, sagte Verbandsvize Andreas Keller gegenüber Studis Online. „So ließen sich für alle 16 Länder der freie Zugang zum Bachelor und Master garantieren, die Vergleichbarkeit von Studiengängen durch einheitliche Mindeststandards sicherstellen, eine bürokratische Überlastung der Hochschulen ausschließen und die substanzielle Beteiligung aller Interessengruppen gewährleisten“, so der Gewerkschafter.
Brodkorb für Diplom-Revival
Mit dem Kultusminister von Mecklenburg-Vorpommern, Mathias Brodkorb (SPD), macht sich inzwischen auch ein Politiker von Rang für eine Modifikation stark. Es sei ein „bisschen skurril“, dass ein Professor sich seine Qualifikation noch einmal von einer Agentur absegnen lassen müsse, „obwohl der andere gar nicht mehr Kompetenzen hat als er selbst“, sagte Brodkorb im Deutschlandfunk. Statt der verheißenen größeren Vergleichbarkeit von Studiengängen und -inhalten sei „das glatte Gegenteil“ eingetreten. Das „private Geschmacksurteil der Akkreditierer“ entscheide über die Güte eines Studiengangs. „Und das hat mit Qualitätssicherung nichts zu tun.“ An den Karlsruher Entscheid knüpft Brodkorb gar die Hoffnung, den totgeglaubten Diplom-Abschluss wiederzubeleben. Das hätte allerdings so viel Symbolkraft, dass man Bologna gleich ganz begraben müsste.
(rw)