Noch eine StudieDeutschlands Hochschulsystem wird erneut kritisiert
[info180]Lisbon Council
Das Lisbon Council for Economic Competitiveness ist eine 2003 privat gegründete Denkfabrik, die in Brüssel ansässig ist. Sie setzt sich nach eigenen Angaben für die Lissabon-Strategie der EU ein. Ziel dieser Agenda ist die Förderung von Wachstum und Arbeit in Europa. Bildung wird vor allem als Invesitition ins "Humankapital" gesehen und weniger als Menschenrecht. Insofern wird auch beim hier vorgestellten Ranking vor allem auf "Verwertbarkeit" des Studiums für die Wirtschaft geachtet, weniger auf Bildung und Kritikfähigkeit.[/info180] Die Studie stützt sich auf die Analyse von sechs Kriterien, mit denen sie die Hochschul-Systeme der einzelnen Länder bewertet.
1. Inclusiveness (im Deutschen schwer in einem Wort zu fassen, am ehesten vielleicht noch: Integrationsfähigkeit)
Hier wird im wesentlichen die Quote der Menschen mit Studienabschluss herangezogen im Vergleich zur Gesamtpopulation, die theoretisch ein Studium abgeschlossen haben könnte. In diesem Punkt liegt Deutschland bekanntermaßen sehr schlecht. Die vorliegende Studie kommt auf einen Wert von 20% mit Hochschulabschluss für die aktuelle Alterskohorte und damit den letzten Platz. Auf Platz 1 liegt Australien, wo 59% eines Jahrganges einen Hochschulabschluss erreichen, auf Platz 2 Finnland mit 47%.
Ein wenig relativiert sich das dadurch, dass in anderen Ländern Ausbildungsgänge, die in Deutschland als betriebliche Lehre laufen, als Studium organisiert sind. Aber selbst wenn man das berücksichtigt (was bei der vorliegenden Studie nicht der Fall ist), liegt Deutschland nur im Mittelfeld.
2. Zugang
Hier geht es darum, ob das Hochschulsystem eines Landes auch SchülerInnen mit geringeren schulischen Erfolgen in der Sekundarstufe (also beim Erreichen der Hochschulzugangsberechtigung) eine Chance gibt, an die Hochschule zu kommen und diesen auch zu helfen, weiterzukommen.
Hier liegt Deutschland auf dem letzten Platz. Die Studie hat dazu verglichen, welchen PISA-Wert bei Mathematik erfolgreiche AbsolventInnen der Hochschule im Durchschnitt aufgewiesen haben. In Deutschland waren es 593 Punkte, die für ein erfolgreiches Studium nötig waren. In Polen dagegen nur 500, und selbst in Finnland (bei diesem Kriterium selbst nur auf Platz 12) waren nur 542 Punkte nötig.
Die Studie erwähnt explizit Deutschland: "A strategy based on over-educating some while leaving others to go horribly undereducated has led to ever growing pockets of social exclusion in some quarters and a chronic shortage of talent available to the German economy as a whole."
3. Effektivität
Hier geht es darum, ob die Graduierten auch "passen" für den jeweiligen Arbeitsmarkt. Über diese Bewertung kann man wohl lange streiten, insbesondere wenn man Bildung nicht (nur) als Ausbildung ansieht. Auch ob die bei dieser Studien verwendete Methode, das höhere Gehalt durch das Studium als Gradmesser für die Effektivität zu nehmen, sinnvoll ist, sollte man für sich entscheiden.
Hier jedenfalls ist die USA auf Platz 1: Dort bekommt ein Graduierter offenbar in der für ihn passende Branche ein um 76,8% höheres Gehalt als jemand ohne Studium. Deutschland steht hier auf Platz 11 mit 46,1%.
4. Attraktivität
Hier verstanden als die Fähigkeit, Studierende aus dem Ausland anzulocken. Auch das ein durchaus fragwürdiges Kriterium, da neben der Qualität des Studiums noch eine Menge anderer Dinge in die Wahl der ausländischen Studierenden hineinspielen dürften.
Bei diesem Punkt schneidet Deutschland aber sehr gut ab und kommt auf Platz 3, nur Frankreich (Platz 2) und Großbritannien liegen davor. Und haben ja einen entscheidenden Vorteil: Englisch und Französisch wird nun einmal von mehr Menschen gesprochen, als Deutsch – und auch das hat sicher Auswirkungen auf die Wahl des Studienortes im Ausland. Erstaunlich ist, dass die USA hier nur auf Platz 8 kommen.
5. Altersbereich
Es wird von vielen immer vom "lebenslangen Lernen" gesprochen. Nimmt man dies ernst, sollte auch ein Studium (meist in Form einer Weiterbildung, also bspw. einem Master-Studiengang) in etwas höherem Alter "normal" sein. Die Studie betrachtet somit die Quote der 30-39 jährigen an Hochschulen.
Hier ist Deutschland mal wieder auf dem letzten Platz. Nur 2,5% dieser Altersgruppe studieren. Kein Wunder: Studienfinanzierungsmöglichkeiten für über 30-jährige sind sehr rar. BAföG für einen Master gibt es nur, wenn man bei Studienbeginn unter 30 ist (es gibt nur sehr wenige Ausnahmen) und es sich um einen konsekutiven Master handelt. Weiterbildende Master werden grundsätzlich nicht vom BAföG gefördert und kosten oft noch besondere Studiengebühren (auch an staatlichen Hochschulen, selbst in ansonsten Studiengebühren-freien Bundesländern). Auch die (sowieso mit Vorsicht zu betrachtenden, weil u.U. zu hohen Schulden führende) kommerziellen Studienkredite werden so gut wie gar nicht für Ältere angeboten.
In Großbritannien dagegen studieren 15,8% aus dieser Altersgruppe, auch Australien (14%), Schweden (13,3%) und Finnland (13,1%) weisen Quoten weit über 10% auf. Davon ist Deutschland offensichtlich noch sehr weit entfernt. Allerdings auch viele andere Länder: Selbst das auf Platz 6 befindliche Ungarn hat nur eine Quote von 5,8%.
6. Wandlungsfähigkeit
Die Studie möchte hier die Fähigkeit zu Reformen und Veränderungen mittels der Umsetzung der im Bologna-Prozess festgelegten Kriterien messen. Es geht hier also um die Harmonisierung des Hochschulraumes (in Deutschland bedeutet das auch die Umstellung auf die Abschlüsse Bachelor und Master) und die wechselseitige Anerkennung von Hochschulabschlüssen und Teilleistungen (insbesondere mittels Creditpoints - ECTS).
Trotz einiger Kritik an der etwas schleppenden Umsetzung in Deutschland wird trotzdem von der Studie die Note 1.89 vergeben (1.0 wäre die beste mögliche Note, 5.0 die schlechteste). Damit liegt Deutschland auf Platz 10 (von 15; die USA und Australien können hier nicht berücksichtigt werden, da sie natürlich nichts mit dem europäischen Hochschulraum zu tun haben). Die schlechteste Note erhält Spanien: 2.64, am besten schneiden Irland (1.06), Dänemark (1.19) und Großbritannien (1.35) ab.
Hochschul-System Gesamtranking
Insgesamt kommt die Studie zu folgendem Gesamtranking, betont aber, dass es weniger darum geht, genaue Plätze und Werte zu vergeben, als über die Probleme des Hochschulsystems an sich zu diskutieren und es zu verbessern. Insofern sind in der Tat den Einzelergebnissen größere Bedeutung zuzumessen (und hier wiederum manche weniger zu beachten als andere). Siehe also die Beschreibung weiter oben.
1. Australien (30.6)
2. Großbritannien (31.1)
3. Dänemark (39.1)
4. Finnland (40.8)
5. USA (49.0)
6. Schweden (49.2)
7. Irland (49.2)
8. Portugal (54.3)
9. Italien (60.9)
10. Frankreich (62.2)
11. Polen (64.4)
12. Ungarn (64.5)
13. Niederlande (69.6)
14. Schweiz (70.3)
15. Deutschland (72.5)
16. Österreich (76.4)
17. Spanien (79.4)
Quelle und weitere Artikel zum Thema
- University Systems Ranking: Citizens and Society in the Age of the Knowledge (PDF-Dokument des Lisbon Councils mit einer Zusammenfassung der Studie)
- Soziale und wirtschaftliche Lage der Studierenden in Europa (Artikel zur Eurostudent III-Studie, 06.10.2008)
- Deutschland steht schlecht in Sachen Hochschulbildung (Artikel zur OECD-Studie "Bildung auf einen Blick", 09.09.2008)