Noch lange nicht verwirklichtDas Recht auf Bildung in Deutschland
Das Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung hatte am 24.7.2007 den Sonderberichterstatter der Vereinten Nationen Vernor Muñoz zu einer Podiumsdiskussion über die Bildungssituation in Deutschland eingeladen. Den Anlass bildete das von Bernd Overwien und Annedore Prengel herausgegebene Buch "Recht auf Bildung. Zum Besuch des Sonderberichterstatters der Vereinten Nationen in Deutschland". Das Buch dokumentiert die Reaktionen auf den 2006 veröffentlichten Bericht des UN-Berichterstatters Muñoz über die Verhältnisse im deutschen Bildungssystem. Zwar waren die Ergebnisse nach all den vorangegangenen Untersuchungen, angefangen mit PISA über IGLU bis zu diversen OECD-Studien, nicht wirklich überraschend.
Dieser Artikel erschien zuerst in Forum Wissenschaft (Heft 3/2007), herausgegeben vom Bund demokratischer Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler (BdWi). Wir danken dem BdWi und dem Autoren für die Genehmigung, den Artikel auch bei Studis Online publizieren zu dürfen. |
Wenn also die Kritik nicht inhaltlich begründet werden kann – wodurch dann wurde diese Reaktion ausgelöst? Das Podium – neben Muñoz, Allmendinger und den beiden Herausgeber/innen Overwien/Prengel das Vorstandsmitglied der Deutschen Gesellschaft für Erziehungswissenschaften, Marianne Krüger-Potratz, sowie die Stellvertretende Vorsitzende der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft, Marianne Demmer – war sich einig. Offensichtlich hat Muñoz´ Bericht, der seit den Debatten der 1960er Jahre erstmals wieder Bildung als Menschenrecht thematisierte, einen Nerv getroffen. So berichtete Muñoz, er sei immer wieder auf Unverständnis gestoßen, wenn er feststellte, in Deutschland würden Menschenrechte verletzt. Es existiere kaum ein Bewusstsein dafür, dass ein ungerechtes Bildungssystem nicht nur das Menschenrecht auf Bildung betrifft, sondern mit ihm darüber hinaus eine Reihe weitere Menschenrechte berührt sind, wie etwa das Recht auf freie Meinungsäußerung oder das Recht auf freie Entfaltung der Persönlichkeit, die durch eingeschränkte Bildungspartizipation systematisch eingeschränkt würden.
Die fehlende Sensibilität für die Bedeutung von Bildung als Menschenrecht führte Muñoz auf eine ökonomisch verengte Bildungsdebatte zurück. Bildung würde vor allem als ökonomische Ressource betrachtet, als Humankapital, das dem Einzelnen zum beruflichen Vorteil gereiche und damit auch der gesamtwirtschaftlichen Wohlfahrt diene. Wenn es aber so sei, dass die Wirtschaft einer Gesellschaft von einem ungerechten Bildungssystem profitiere, von dem große Teile der Bevölkerung strukturell benachteiligt und damit in ihren Menschenrechten dauerhaft beschnitten seien, dann müsse das Wirtschaftssystem geändert werden. Deutschland sei hierfür ein besonders eindrucksvolles Beispiel, da es sich in den letzten Jahrzehnten zu einer der weltweit erfolgreichsten Wirtschaftsnationen entwickelt und sich gleichzeitig ein hochgradig sozial selektives Bildungssystem geleistet habe.
Das zentrale Verdienst des UN-Berichts wurde in seinem Beitrag dazu gesehen, dass er die beschränkte Perspektive auf Bildung erweitert. Während heute selbst die Vertreter eines Ausbaus des deutschen Bildungssystems meinen, dies vor allem mit seiner Bedeutung für die Wirtschaftsentwicklung begründen zu müssen, führt Muñoz mit dem Hinweis auf die Menschenrechte ein neues Kriterium in den Bildungsdiskurs ein. Mehr noch: Ernst genommen, dreht er die aktuell im bildungspolitischen Diskurs dominierende Argumentation um und stellt die alles beherrschende Legitimationsfigur, nämlich das bestehende Wirtschaftssystem, in Frage. Das erklärt einmal mehr die anfangs ungewöhnlich heftige Reaktion auf die Ergebnisse und die davon abgeleiteten Konsequenzen des UN-Berichts, tangieren sie doch Grundüberzeugungen der herrschenden Klasse.
Einhellig beklagte das Podium, dass die vorher lauthals geäußerte Empörung mittlerweile tiefem Stillschweigen gewichen ist. So hat der Bundestag bisher nicht darüber befunden, wie er gedenkt, auf den Bericht zu reagieren. Diese politische Hilflosigkeit sei aber nicht allein den Politikern anzulasten. Vielmehr sei sie Ausdruck bildungspolitischer Konzeptionslosigkeit überhaupt. Nirgendwo seien auch nur Ansätze einer Bildungsreform zu erkennen, die den zukünftigen bildungspolitischen Herausforderungen gerecht würden. Es fehle eine Vision davon, welcher Beitrag zukünftig der Bildung bei der Gestaltung eines guten Lebens zukommen solle.
Zum Autoren
Dr. Oliver Schöller ist wissenschaftlicher Mitarbeiter in der Projektgruppe Mobilität des Wissenschaftszentrums Berlin für Sozialforschung, Abteilung Innovation und Organisation.