HochschulpolitikStudierendenproteste in Frankreich - was war da los?
In Frankreich kommt dem Staat traditionell, im Unterschied zur deutschen Tarifautonomie, eine Mittlerrolle im sog. sozialen Dialog zu. Daher die Macht der Gewerkschaftsmobilisierung, die nicht nach, sondern vor den staatlichen Schlichtungen zwischen Kapital und Arbeit einsetzt. Außerhalb der Mobilisierungsphasen sind die französischen Gewerkschaften die schwächsten in Westeuropa: unter 10% der Beschäftigten sind in Gewerkschaften organisiert. Diese historisch aus dem jakobinischen Zentralismus hervor gegangene Rolle des Staats ignorierte de Villepin, als er am 16.01.06 sein sog. Gesetzespaket "für die Chancengleichheit" im Parlament, dem Palais Bourbon, ankündigte. Das Gesetzespaket setzte u.a. das Mindestalter zum Eintritt ins Arbeitsleben von 16 auf 14 Jahre herab, hielt aber auch den Arbeitsvertrag CPE (Contrat Première Embauche) für unter 26-Jährige, die mindestens 6 Monate arbeitslos waren, bereit.
Die Vorgeschichte - ähnliches Gesetz, aber "nur" für kleine Betriebe
Der prekären Beschäftigung wurde allerdings bereits durch den Contrat Nouvelle Embauche (CNE), den ersten von Villepin geschaffenen, auf kleine Betriebe begrenzten Arbeitsvertrag Tür und Tor geöffnet. Bei CPE und CNE besteht eine zweijährige Probezeit. Während dieser kann der Unternehmer ohne Begründung kündigen. Der CNE, Vorgänger des CPE, betrifft Unternehmen mit weniger als 20 Beschäftigten (96% der französischen Betriebe), während der CPE für große Unternehmen geschaffen wurde.
Bereits am 5.10.2005 haben Gewerkschaften gegen den CNE mobilisiert. Der ehemalige Vorsitzende des IWF und aktuelle Chef der Banque de France, Michel Camdessus, reichte Anfang 2004, ebenso wie der Renault-Chef Michel de Virville, einen Bericht im Matignon, Sitz des Premierministers, ein. Diese Berichte, die umzusetzen Sarkozy sich zur Aufgabe machte, forderten u.a. die Integration des befristeten und unbefristeten Arbeitsvertrags, d. h. die Schaffung eines leicht kündbaren scheinbar unbefristeten Arbeitsvertrags. (1)
Villepin kündigte in seiner Regierungserklärung vom 8.06.05 die Bekämpfung der Arbeitslosigkeit durch mehr Flexibilität und Durchsetzung der Arbeitsmarktreformen qua Eilverordnungen an. Der CNE, in Kraft seit dem 4.08.2005, konkretisierte und realisierte die Vorschläge Camdessus und Virvilles. Staatliche Ausgaben zur Konsolidierung des Arbeitsmarkts (u.a. Übernahme der Unternehmenskosten für die Sozialversicherungen der Beschäftigten) wurden für 2006 auf 4,5 Mrd. Euro fest gesetzt. Bis 2007 sollen die Unternehmen von Sozialkosten für ihre Beschäftigten völlig befreit sein.
Beim CNE handelt es sich um einen auf zwei Jahre befristeten Arbeitsvertrag. Nach zwei Jahren kann der Unternehmer entweder einen unbefristeten Vertrag anbieten oder einen neuen CPE-Beschäftigten einstellen. Im Fall des Abbruchs eines CPE-Arbeitsverhältnisses ist der Unternehmer von einer Kündigungsentschädigung befreit. Bei einer Kündigung vor dem vollendetem vierten Monat erhält der Gekündigte 8% (statt 10% bei befristeten Arbeitsverträgen) des Lohns als sog. Prekaritätsentschädigung und danach 490 Euro monatlich für zwei Monate, d. h. 16,40 Euro pro Tag.
Die Gewerkschaft CFDT (Confédération Française Démocratique du Travail) weist auf Fälle von Missbrauch des CNE hin. Unternehmer, die sich eines Beschäftigten, der zu spät kam oder krank wurde, entledigen wollten, boten dem Betroffenen kurzerhand einen neuen Arbeitsvertrag, den CNE an, um anschließend ohne Begründung, ohne Kündigungsfrist und ohne Entschädigung das Arbeitsverhältnis abzubrechen. Laut CFDT brauchen bereits heute die Jugendlichen 8 bis 11 Jahre, um einen stabilen Arbeitsplatz zu finden. Eine Statistik der CFDT besagt darüber hinaus, dass schon sechs Monate nach Inkrafttreten des CNE 10% der so geschlossenen Arbeitsverträge abgebrochen wurden. Ähnlich starke Fluktuation wird auch bei CPE-Beschäftigten erwartet.
Binnen zwei Jahren kann der Unternehmer ohne Motiv kündigen. Diese Unterwanderung des Kündigungsschutzes verstoße laut der Gewerkschaft CGT (Confédération Générale du Travail) gegen den Art. 24 der Europäischen Sozialcharta. Zudem widerspreche der faktische Verlust des Rechts auf Schutz gegen missbräuchliche Kündigungsandrohungen der Universellen Menschenrechtserklärung der UNO (1948). Das arbeitsrechtliche Gesetzbuch von 1973 musste wegen des Wegfallens des Kündigungsgrunds während einer Probezeit von zwei Jahren revidiert werden. Die Fälle von evidenten Verstößen gegen verbliebene Rechte, wie Kündigungen nach der Forderung Überstunden auszuzahlen, häufen sich bei den Arbeitsgerichten. Ende Februar 2006 wurde ein Fall wiederholter Kündigung und Wiedereinstellung eines Beschäftigten erstmals zu Gunsten des Beschäftigten entschieden: Ein Unternehmer wurde wegen Kündigung unter Missbrauch des CNE verurteilt.
Der CNE, der mit einer Beschwörung der Einstellungsflexibilität zu Gunsten des Mittelstands verteidigt wurde, fand 2005 die Zustimmung der meisten Gewerkschaften, weil der Premierminister im Gegenzug versicherte die prekäre Beschäftigung nicht auf große Unternehmen auszuweiten, bevor eine Gesamtbilanz der Ergebnisse offen gelegt würde. Der Bruch dieses Versprechens durch Villepins CPE-Ankündigung am 16.01.06, als noch keine offizielle Bilanz vorlag, motivierte die Gewerkschaften zur Mobilisierung. Die Regierung hoffte auf nicht zu viel Widerstand zu stoßen, da die Jugendlichen im Gegensatz zu den 30- bis 49-Jährigen Jährigen, von denen nur 7% prekär beschäftigt sind, sowieso zunehmend mit unsicheren Beschäftigungsverhältnissen leben müssen. De Villepin, der ehemalige Botschafter und brillante Rhetoriker, deutete seine CPE-Reform sogar als vermeintlichen Rettungsring für die arbeitslosen Jugendlichen der banlieues -mehrheitlich von Immigranten und Arbeitern bewohnte Vororte- an, was freilich nicht überall auf analoge Begeisterung stieß.
Die Interessenlage beim aktuellen Gesetz
Während der IWF und der Unternehmerverband Medef (Mouvement des Entreprises de France) eine weiter gehende Ausdehnung des Kündigungsschutzes befürwortet hätten, büßt Villepin in der Nationalversammlung an Zustimmung ein: von Links bis Mitte-Rechts wird die radikale Lockerung des Kündigungsschutzes abgelehnt. Selbst aus den eigenen Reihen, der UMP (Union pour un Mouvement Populaire), bekam der Premierminister Gegenwind. Der ehemalige Außenminister Hervé de Charette forderte öffentlich ein Einlenken der Regierung angesichts der überwältigenden Stimmung in der Bevölkerung. Der liberale Bayrou (2) sprach sich gegen den CPE aus, weil die Regierung eine konfrontative Methode der Normsetzung wählte. Während der CNE mittels Eilverordnung durchgesetzt wurde, bediente sich der Regierungschef zur Umsetzung des CPE gar des Art. 49 III der französischen Verfassung. Dank dieses Artikels, der einer der autoritären Elemente der Verfassung der 5. Republik darstellt, welche die Exekutive gegenüber dem Parlament stärken, konnte die Regierung die erste (und einzige) Lesung im Parlament unterbrechen und, um einem Änderungsantrag vorzubeugen, die Abgeordneten vor die Wahl stellen das Gesetzespaket unverändert und undiskutiert anzunehmen oder eine Auflösung der Nationalversammlung hinzunehmen. Dieses Druckmittel der Exekutive ist umso wirksamer, als die Parlamentarier den Verlust ihres Abgeordnetenstatus fürchten mussten. Villepin wählte eine autoritäre Weise der Rechtsetzung, um dem Parlament die Möglichkeit zu nehmen eine Gesetzesänderung einzubringen. Diese formelle Kritik François Bayrous an dem CPE erschöpft sich in der Verurteilung der Umsetzung des Gesetzespakets.
Der PS (Parti Socialiste) und andere linke Parteien sind nicht nur wegen der Form, sondern auch wegen des Inhalts gegen den CPE. Der Vorsitzende des PS, Hollande, rief die Regierung wiederholt im Plenum auf, den CPE außer Kraft zu setzen. Einige Universitätsrektoren, z.B. der Universität Rennes, haben sich öffentlich solidarisch mit der Studentenbewegung gezeigt und das Außerkraftsetzen des Gesetzestexts gefordert, um den Studienalltag schnellstmöglich wieder aufnehmen zu können. Am 17. März empfing Villepin eine Rektorenversammlung, war jedoch erneut nur zu Zugeständnissen, die den CPE en détail ergänzen sollen, bereit.
Die sozialistische Partei, die wahrscheinlich die nächsten Parlaments- und Präsidentschaftswahlen gewinnen wird, missbilligt inhaltlich nicht alle Punkte. Der PS ist grundsätzlich für eine staatliche Übernahme der Sozialkosten des Unternehmers - eine Maßnahme, die im CPE und in anderen Arbeitsverträgen, die die Regierung in den letzten Jahren einführte, vorkommt, insbesondere bei den Maßnahmen Borloos, des Ministers für Arbeit, Beschäftigung und soziale Kohäsion.
Nicht nur junge Leute solidarisieren sich mit den Protesten
Die Solidarisierung der Älteren mit den Jugendlichen ist derweil auf den Demonstrationen sichtbar: ein 66-Jähriger ehemaliger Arbeiter bei France Télécom konstatierte bspw., dass u.a. France Télécom bedeutende Gewinne einfahre, während die prekäre Beschäftigung im gleichen Unternehmen zur Regel werde. De Villepin institutionalisierte die Generationen-Konkurrenz vor allem gegen den Willen der Gewerkschaften, die ihn bereits im Januar auf organisierten Widerstand hinwiesen. Die Gewerkschaften fürchten, das durch den CPE die älteren Beschäftigten aus den Unternehmen zu Gunsten jüngerer entlassen werden könnten, da der CPE die Betriebe für drei Jahre von jeglichen Sozialkosten befreit. Diese Kosten übernimmt solange der Staat – ein Kostenmodell, das den Staatshaushalt enorm be- und die Unternehmen entlastet. Dieses Kostenmodell übernahm Dominique de Villepin von den beschäftigungspolitischen Maßnahmen Borloos. Jean-Louis Borloo (Vorsitzender der Radikalen Partei, die unter die liberale UDF subsumiert ist) kreierte 2005 z.B. einen Dienstleistungsscheck (für sämtliche Haushaltsbeschäftigte wie Putzhilfen, Nachhilfelehrer etc.), der Arbeitsvertrag und Zahlungsmittel in einem darstellt und von den Gewerkschaften als fundamentaler Angriff auf das geltende Arbeitsrecht wahrgenommen wurde. Die erwartete Schaffung von Stellen durch die Abschwächung des Arbeitsrechts lässt allerdings auch hierbei noch auf sich warten.
Hunderttausende DemonstrantInnen schon am 16.03.06
Genau zwei Monate nach der Gesetzesankündigung im Parlament, am 16.03.06 stellte die Polizei 196 Demonstrationszuge mit 247.500 Demonstranten in den Studentenstädten Frankreichs fest. 10.000 Demonstranten gingen am selben Tag in der Universitätsstadt Rennes, 13.000 in Toulouse und 14.000 in Bordeaux auf die Straße. Nach Polizeiangaben waren 8.000 in Nantes und jeweils 5.000 in Lille, Grenoble und Lyon auf Demonstrationszügen anwesend. (3)
Über Demonstrationen hinaus gehende Proteste ereigneten sich vereinzelt, so in Besançon, wo die Handelskammer der regionalen Hauptstadt besetzt wurde. In Nancy (Lothringen) und Westfrankreich (Rennes z.B.) wurden insgesamt zehn Bahnhöfe blockiert. Am 16.03. besetzten nach der Bahnhofsblockade 100 Jugendliche das Rathaus in Rennes (Bretagne).
3/4 der staatlichen Hochschulen streiken
Die Studierendenvereinigung UNEF (Union des Etudiants de France) konstatierte am 17.03. von insgesamt 84 staatlichen Hochschulen 66 streikende Universitäten. Der Schüler-Dachverband FIDL (Fédération Indépendante et Démocratique Lycéenne), die Jugendorganisationen der linken Parteien (z.B. MJS, Mouvement Jeunes Socialiste) und die Gewerkschaften der Jugend, CGT Jeunes sowie Fédération Sud Etudiant solidarisierten sich mit den Studierenden. Vertreter der Studierendenbewegung unterstützten wiederum die Bewegung der sog. Sans-Papiers, der Immigranten ohne Aufenthaltserlaubnis, deren Situation sich durch das Gesetz vom 21.02.06 insofern verschlechterte, als die Sans-Papiers seitdem jederzeit, gleich ob sie sich im Krankenhaus oder andernorts befinden, festgenommen und abgeschoben werden können. Die Bewegung nimmt zunehmend umfassendere Ausmaße an. Umfassende Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit erfährt der studentische Widerstand gegen das Gesetzespaket seit der Räumung der Sorbonne am Sonntag, den 12.03. um 4 Uhr morgens.
18.03.: Über eine Million Menschen protestieren
Am Samstag, den 18.03.06 waren 1,5 Mio. (laut Gewerkschaften und Medien) bzw. 503.600 (laut Innenministerium) Studierende, Arbeiter usw. in Frankreich auf die Straße gegangen. Allein in Paris hatten 350.000 Gymnasiasten, Studierende und Sympathisanten demonstriert. Darunter die wichtigsten Repräsentanten der Gewerkschaften und der linken Parteien. In Marseille konstatierten die Gewerkschaften 130.000, in Bordeaux 60.000, in Toulouse 45.000 und in Rennes 35.000 Demonstranten.
In Paris, aber auch in Rennes, Lille und Marseille, lieferten sich die Demonstranten Straßenschlachten, die an den bewegten Herbst 2005 in den banlieues erinnerten. Nach offiziellen Angaben gab es 34 verletzte Polizisten und 18 verwundete Demonstranten bei den Ausschreitungen in den genannten Städten.
In der Stadt an der Seine wurden 70 Demonstranten festgenommen, darunter ein Plünderer, der sich in einem zerstörten Schaufenster bedient hatte. Um 18 Uhr haben sich 150 Jugendliche mit der Polizei konfrontiert. Sie wurden mit Gewalt bis in den XX. Pariser Wohnbezirk zurückgedrängt und eine Minderheit der Demonstrierenden hat darauf hin bis 21 : 45 Uhr Schaufenster zerschlagen, Fast-Food-Restaurants angegriffen und Autos angezündet. Ein Zeitschriftenkiosk wurde angezündet und eine Telefonzelle zerstört. Die Zerstörungen wurden jedoch von Jugendlichen begangen, die sich nicht zur Studentenbewegung rechneten.
Im Quartier Latin, vor den Zugangsstraßen die Sorbonne, versuchten 500 Demonstranten vom Boulevard Saint-Michel aus die Zugangsstraßen zur Sorbonne trotz der polizeilich eingerichteten Barriere zu erreichen. Wasserwerfer hinderten sie daran die Barriere völlig zu beseitigen. Die Demonstranten riefen währenddessen u.a. "Befreit die Sorbonne", aber auch "Nieder mit dem Staat, den Polizisten und den Unternehmern". Gegen 23 Uhr trieben die für ihre rüde Vorgehensweise bei Insurrektionen bekannten Polizeieinheiten der CRS (4) die Demonstranten auseinander. Das gros der Demonstranten rekrutiert sich zusammen aus den Universitäten Tolbiac (Paris I - Sorbonne), Nanterre (Paris X, von wo aus 1968 die Studentenbewegung begonnen hatte) und Jussieu (Paris XI, XII).
Die Anti-CPE-Bewegung fand am 18.03. eine Opfer, Cyril Ferez, 39-jähriger Gewerkschafter von Sud PTT (Gewerkschaft Sud Post Telegraph Telefon). Der alkoholisierte Demonstrant, der unvermummt und friedlich am Abend des 18.03. an Place de la Nation auf dem Boden sitzend von den CRS geschlagen wurde, viel ins Koma. Sein Zustand ist kritisch. Als vor 20 Jahren ein Student (Malik Oussekine) bei Demonstrationen starb, verhärteten sich zusätzlich die Fronten.. (5)
Bevölkerung gegen CPE
Nach einer Umfrage vom 17./18.03. von der Dépêche du Midi, waren 60% der Befragten für den Rückzug des CPE. Laut einer Umfrage der Libération vom gleichen Wochenende fordern 80% der 15 bis 24-Jährigen das Außerkraftsetzen des CPE. In Rennes haben 350 Aufständische die Bahnschienen eine Stunde lang blockiert. In Lille, Département Nord, schützten sich 200 Studenten mit Barrikaden gegen die Polizei, die in Folge einer Demonstration die Menge aufzulösen versuchte. (6)
Die Ursachen für die Revolte und dafür, dass zwei Drittel der Universitäten des Landes (seit bis zu vier Wochen) streiken, sind zunächst in der beträchtlichen Jugendarbeitslosenrate zu suchen. 23% der unter 25-Jährigen waren 2005 arbeitslos, in den banlieues bis zu 40%. Zudem sind bereits jetzt 21% der 15- bis 29-Jährigen dauerhaft über befristete Arbeitsverträge beschäftigt. Die Jugendorganisation Génération précaire klagt an, dass mit dem CPE die nicht vom Arbeitsrecht erfassten Praktikantenstellen an Stelle von unbefristeten Verträgen generalisiert werden.
De Villepin versucht Auswirkungen des Gesetzes herunter zu spielen
De Villepin und Sprecher der Bank BNP Parisbas versicherten, dass die Kreditfähigkeit trotz des prekären CPE gewahrt würde. Ein Test des Fernsehsenders TV5Monde mit versteckter Kamera hat jedoch ergeben, dass keines der getesteten Kreditinstitute einem auf CPE-Basis Beschäftigten, in Ermangelung stabiler Einkommensgrundlage, Geldmittel lieh. Nicht nur die professionelle Zukunft, sondern auch die materielle Unabhängigkeit der CPE-Beschäftigten scheint gefährdet.
Im Juni 2005, nach der Niederlage des Referendums zum EU-Verfassungsvertrag -das durch Chiracs Willen einberaumt worden war-, reichte Chirac die Guillotine an seinen Premierminister Raffarin weiter, indem er ihn durch Villepin ersetzte, anstatt selbst die politische Verantwortung seines gescheiterten Volksentscheids zu tragen und zurück zu treten. Die gleiche Prozedur könnte auch Dominique de Villepin, dem wichtigsten Initiator der gescheiterten Parlamentsneuwahlen von 1997 wiederfahren, falls der eloquente Schriftsteller nicht etwas mehr Fingerspitzengefühl bei der Umsetzung seiner Reformen zeigt. (7) Laut einer Umfrage der Libération vom 19.03.06 befindet sich Villepin in der Beliebtheitsskala bei 37%, gegenüber 43% im vorherigen Monat. Laut einer von Le Parisien durchgeführten Umfrage vom 17.03. sind 68% der Franzosen für das Außerkraftsetzen des CPE, laut einer Umfrage der Dépêche du Midi zur gleichen Frage sind 60% der französischen Bevölkerung und gemäß einer gleichlautenden Befragung durch die Libération sind sogar 73% dafür, den CPE außer Kraft zu setzen.
Generalstreik?
Am Montag, den 20.03.06 um 17 Uhr lief das Ultimatum aus, das die Gewerkschaften CGT, FO (Forces Ouvrières) und die christliche Gewerkschaft CFTC (Confédération Française des Travailleurs Chrétiens) der Regierung zusammen mit Studierenden- und Gymnasiasten-Vertretung am 18.03. gesetzt hatten. Zur gleichen Zeit versammelte de Villepin dieselben Vertretungen um sich im Matignon, ohne dass ein gemeinsamer Nenner gefunden worden wäre, da die eine Seite auf der Außerkraftsetzung des CPE und die andere auf der Erhaltung des CPE als Diskussionsgrundlage bestand. Doch gleichzeitig fand das wahre Gewerkschaftstreffen im Gebäude der CFTC statt, wo die kommenden Aktionstage geplant wurden.
Am 21.03.06 waren zwar nur 5.000 (laut Polizei) bzw. 15.000 (laut Gewerkschaften) Demonstranten in Paris auf den Straßen und die regierungstreue Studierendenorganisation UNI-La Droite Universitaire (Universitäre Rechte) sowie ad-hoc-Vereinigungen wie Stop La Grève (Schluss mit dem Streik) mobilisierte am 21.03.06 500 Gegendemonstranten vor der Sorbonne, die ein Ende der Blockierung der Universitäten forderten. Doch am 23.03. fand bereits eine weitere zentrale Demonstration statt.
Für Dienstag, den 28.03. vereinbarten Vertreter der Studierenden, Gewerkschaften und Gymnasiasten einen Aktionstag mit Arbeitsniederlegung und Protesten, der zum Generalstreik übergehen könnte, ja zu einem seit 1968 in dieser breiten Form nicht da gewesenen Generalstreik, dessen Unterstützung durch die Linken und Liberalen im Palais Bourbon eine brisante politische Qualität erhielte.
Jean-Luc Mélenchon, der den linken Flügel des PS verkörpert, äußerte am 21.03.06, dass, wenn Villepin nicht nachgibt -wonach es bis dato nicht aussieht-, gewiss ein neuer Mai 1968 vor der Tür stehe. Der CPE oder Cadeau Pour les Employeurs (Geschenk für die Unternehmer wie Demonstranten ihn nannten) droht zu einem weiteren Misserfolg des Präsidenten Jacques Chirac, der in Villepin einen geschickteren Reformer als Sarkozy hat erkennen wollen, und zum Fallstrick für die Regierung de Villepin zu werden.
Nachträgliche Ergänzung: Wie es ausging ...
Am 10.04.2006 konnten die Protestierenden schließlich den Erfolg verbuchen, dass der umstrittene CPE wird zurückgezogen wird. Präsident Chirac sprach zwar von einem "Austauschen", faktisch sind aber die kritisierten Regelungen ersatzlos entfallen.
Premierminister Dominique de Villepin, der den CPE lange Zeit verteidigte, tritt zwar trotz dieser Niederlage nicht zurück, ist aber deutlich angeschlagen.
Fußnoten
(1) Vgl. Les Echos, www.lesechos.fr/info/rew_france20056904.htm
(2) Bayrou, Parteichef der liberalen UDF (Union pour la Démocratie Française, die 1978 auf Initiative Giscard d’Estaings aus Liberalen der radikalen Partei und antigaullistischen Konservativen hervor gegangen ist) fordert, ähnlich wie ein Flügel des PS, eine neue Verfassung für eine korporatistische 6. Republik, um das semi-präsidiale Regime der 5. Republik (Verfassung de Gaulles von 1958) durch ein bürgernahes, parlamentarisches Regime zu ersetzen. Der Präsident kann heute in Frankreich de jure den Premierminister auf Vorschlag des Parlaments ernennen und schlägt den Regierungschef de facto selbst vor sowie entlässt ihn auf eigene Initiative, sofern er über die Mehrheit seiner Partei in der Nationalversammlung (der erste und entscheidende Kammer des Parlaments) verfügt.
(3) "Les étudiants prennent la rue", Réseau canoë v. 16.03.2006.
(4) CRS (Compagnies Républicaines de Sécurité) ist eine polizeiliche Reserveeinheit, die ständige Interventionsvollmacht des Innenministeriums auf dem gesamten französischen Territorium sicher stellt.
(5) "CPE: incidents violents en marge de certains défilés", TF1, 19.03.2006.
(6) "M. de Villepin appelle au dialogue social sans les syndicats", Le Monde v. 21.03.06.
(7) Von den vorgezogenen Parlamentswahlen versprach sich Chirac fälschlicherweise eine Stärkung der Rechten. Dies verzieh ihm die Parteibasis nie und Bernadette Chirac verlieh ihm daraufhin den Spitznamen Nero. 1997, während Chirac ihm seine Fehlkalkulation der Neuwahlen vergab, wurde Villepins Satz "Ich verwalte das Gehirn des Präsidenten" bezeichnend für das semi-präsidiale System der 5. Republik, in welcher der Präsident über weit reichende Macht verfügt, wenn das Parlament gleicher politischer Couleur ist wie die Partei des Präsidenten. Dominique de Villepin, der 2002 bis 2004 Außenminister, dann ab 2004 Innenminister war, ist aus der Elite-Universität ENA (Ecole Nationale d’Administration) Kaderschmiede der politischen Elite, hervor gegangen und war im gleichen Abschlussjahrgang der ENA wie das sozialistische Pärchen François Hollande und Ségolène Royale, wahrscheinlich Präsidentschaftskandidatin für die kommenden Präsidentschaftswahlen. "M. de Villepin appelle au dialogue social sans les syndicats", Le Monde v. 21.03.06.
Der Autor
Tobias Baumann, 2003-2005 Paris, seit Februar 2006 Brüssel, deutsches und französisches Magister in Geschichte, Nebenfächer Soziologie und Rechtswissenschaft.
Kontakt: baumann1302 [ät] t-online.de