Lehren aus Corona„Hochschulen krisenfest machen“
Wie geht es im Sommersemester weiter?
Studis Online: Herr Keller, dieser Tage hat vielerorts in Deutschland das Sommersemester 2022/23 begonnen. Wenngleich es wohl ziemlich flächendeckend eine Rückkehr zur Präsenzuni geben soll, ist es doch das inzwischen fünfte Semester, das wenigstens unter dem Eindruck der Corona-Krise steht. Oder würden Sie sagen, mit diesem Semester lassen die Hochschulen die Pandemie endlich hinter sich?
Andreas Keller: Die Infektionszahlen sind höher als sie es in den ersten vier Pandemiesemestern waren und doch ist es sehr wahrscheinlich, dass Studierende und Lehrende im Präsenzbetrieb ins Sommersemester starten werden. Es ist aber schwer zu sagen, wie sich die im April vorgenommenen Lockerungen auswirken werden. Kommt es im Sommer zu einer fünften Welle, wie viele befürchten, werden auch die Hochschulen eine Rückkehr zum Hybrid- oder Online-Betrieb zumindest in Betracht ziehen müssen. Und falls im Sommer alles gut geht, droht das Szenario mit aller Wucht im Herbst.
Sind Sie Berufspessimist?
Nein, Realist und Gewerkschafter, dessen Aufgabe es ist, die Interessen der Mitglieder effektiv zu vertreten. Dabei habe ich sowohl das Recht auf Bildung der Studierenden als auch den Infektions- und Gesundheitsschutz von Hochschulbeschäftigten und Studierenden im Blick. Wir alle wünschen uns, dass die Pandemie als sanfte Endemie ausläuft. Aber eine Lehre aus zwei Corona-Jahren ist auch, dass eine Pandemie ein Bedrohungsszenario des 21. Jahrhunderts darstellt und jederzeit wieder oder neu auftreten kann. Es geht jetzt darum, die Hochschulen krisenfest zu machen.
Woran danken Sie dabei im Speziellen?
Zunächst geht es ganz basal darum, den Hochschulen die rechtlichen Möglichkeiten zu eröffnen, angemessene Infektionsschutzmaßnahmen anzuordnen. Dazu gehören zum Beispiel eine Maskenpflicht oder das Abstandsgebot. Das Infektionsschutzgesetz liefert dafür keine geeignete Rechtsgrundlage mehr. Bund und Länder sind gefragt, diese Rechtsgrundlage zu schaffen. Weiter geht es darum, die Hochschule fit zu machen für Lehre und Studium 4.0. Nicht nur um bei Bedarf auf einen leistungsfähigen Online-Lehrbetrieb umsteigen zu können, sondern um auch unter Normalbedingungen die Lehre mit Online-Komponenten anzureichern, wenn das einen Mehrwert hat.
Etwas Vergleichbares gibt es ja schon im Schulbereich, wobei es da schon erheblich an der Umsetzung hakt …
Unser Interviewpartner Andreas Keller ist stellvertretender Vorsitzender der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW) und im Hauptvorstand verantwortlich für den Organisationsbereich Hochschule und Forschung.
Beim Digitalpakt für die Schulen liegt noch vieles im Argen, aber der politische Wille, eine stattliche Summe in das Projekt zu investieren, ist da. Wir von der GEW sagen deshalb: Ein Hochschuldigitalpakt muss her! Die digitale Infrastruktur gilt es auszubauen, Lehrenden bedarfsgerechte Fortbildungs- und Weiterbildungsangebote zu machen, leistungsfähige Lehr- und Lernplattformen aufzubauen und zu pflegen, die Datenschutzstandards gerecht werden und unabhängig von Software-Monopolisten betrieben werden können.
Auch beim Hochschulbau bedarf es eines Umdenkens. Pandemiegerechte Hygienestandards sind von vornherein mitzudenken und dasselbe gilt dafür, digitale und hybride Lehr- und Studienmodelle möglich zu machen. Wenn Studierende unmittelbar von einem Präsenzseminar in eine Online-Vorlesung wechseln sollen, werden es die wenigsten in einer halben Stunde nach Hause schaffen. Sie brauchen auf dem Campus Individualarbeitsplätze und Kleingruppenräume.
Und schließlich müssen auch die Studienfinanzierung und Beschäftigungsbedingungen krisenfest ausgestaltet werden. Dazu zählen nicht nur Optionen, sondern Rechtsansprüche auf Verlängerung von Ausbildungsförderung und Zeitverträgen, wenn höhere Gewalt zu Verzögerungen und Beeinträchtigungen von Studium, Forschung und wissenschaftlicher Qualifizierung führen. Eine Rückkehr zur Normalität kann es also nur mit einer aktiven Unterstützung von Hochschulen, Studierenden und Lehrenden durch Bund und Länder geben. Das ist auch die Quintessenz der Studie „Hochschule in krisenhaften Zeiten“ von Hanna Haag und Daniel Kubiak, die die GEW vor kurzem präsentiert und veröffentlicht hat.
Die Studie beleuchtet sowohl die Lage der Lernenden als auch der Lehrenden nach zwei Jahren Corona. Blicken wir zunächst auf die Studierenden: Wo drückt bei denen der Schuh am heftigsten?
Nicht selten fehlt es an einer adäquaten Ausstattung mit digitalen Endgeräten, moderner Software, Peripheriegeräten wie Webcams, Druckern oder Scannern sowie einer leistungsfähigen Internetverbindung. Das alles sind Studienkosten, die im mageren BAföG-Budget nicht abgebildet sind. Ganz zu schweigen davon, dass 89 Prozent aller Studierenden keinen Cent BAföG beziehen. Auch sind Studentinnen- und Studentenbuden nicht darauf ausgerichtet, dass von zuhause aus Lehrveranstaltungen besucht oder gar Prüfungen absolviert werden – erst recht nicht, wenn es dort auch Kinder zu betreuen gilt.
Die Corona-Krise hat überdeutlich gemacht, dass die Vereinbarkeit von Care-Arbeit und Studium, Forschung und wissenschaftlicher Qualifizierung ein ungelöstes Problem darstellt. Wie überhaupt die Pandemie wie ein Brennglas Strukturdefizite des Bildungs-, Wissenschafts-, Sozial- und Gesundheitssystem sichtbar und ins breite Bewusstsein gerückt hat. Es ist höchste Zeit, dass die Politik diese Defizite in den Blick nimmt und abbaut.
Obwohl den jungen Menschen enorm viel abverlangt wurde und sie unter anderem zwei lange Lockdown-Phasen durchmachen mussten, in denen viele wegen weggebrochener Verdienstmöglichkeiten in echte Existenznöte geraten sind, ist die Zahl der Studienabbrecher bisher nicht signifikant gestiegen. Haben Sie Sorge, dass die schlimmsten Corona-Nachwehen erst noch bevorstehen?
Das dicke Ende kann noch kommen. Gemeinsam mit Studierendenvertretungen hat die GEW erfolgreich durchgesetzt, dass die Pandemiesemester nur eingeschränkt auf die Studienzeiten und die Ausbildungsförderung angerechnet werden. Größere Abgänge wurden so bisher nicht erzwungen. Entscheidend ist, ob es die Rahmenbedingungen jetzt zulassen, dass die Studierenden ihr Studium geordnet und erfolgreich fortsetzen können. Von alleine wird das nicht passieren.
Neben den bereits genannten Voraussetzungen kommt es auf eine individuelle Beratung und Unterstützung einschließlich einer psychosozialen Betreuung an. Die Studenten- und Studierendenwerke zeigen jetzt schon eine massive Überlastung ihrer psychosozialen Beratungsstellen an. Auch die Studienberatung kommt an ihre Grenzen, unterirdische Betreuungsrelationen tun ihr Übriges.
An welche Adresse sind Ihre Forderungen gerichtet?
Ich sehe insbesondere Bund und Länder gefragt. Das betrifft das BAföG und das Wissenschaftszeitvertragsgesetz, den überfälligen Hochschuldigitalpakt, den Hochschulbau, die Verbesserung der Personalschlüssel, den Ausbau von Betreuungs- und Beratungsangeboten und vieles mehr. Verheerend war, dass die Bundesregierung auf dem Höhepunkt der Pandemie Ende 2021 die ohnehin halbherzige Überbrückungshilfe für Studierende der früheren CDU-Bundesbildungsministerin Anja Karliczek sang- und klanglos auslaufen lief. Ihre Nachfolgerin von der FDP, Bettina Stark-Watzinger, verwies dabei auf einen Notfallmechanismus, den die Ampel-Koalition im BAföG verankern wolle.
Aber es war auch kaum zu erwarten, dass die Bundesregierung die Corona-Hilfen ewig weiterführt, schon weil sich die Lage auf dem studentischen Arbeitsmarkt wieder stabilisiert hat.
Die Lage ist heute nicht mehr ganz so dramatisch, aber Ende 2021 war sie es. Es geht darum, ein leistungsfähiges Hilfsinstrument für den Fall zur Hand zu haben, dass in Massen Studijobs wegbrechen. Und darum, insgesamt ein Ausbildungsförderungssystem zu schaffen, das sicherstellt, dass alle, die studieren möchten und die Voraussetzungen dafür mitbringen, das auch können.
Inzwischen hat Stark-Watzinger gegenüber dem DSW-Journal des Deutschen Studentenwerks (DSW) erklärt, ein Notfallmechanismus sei in Arbeit und könne, „wenn das parlamentarische Verfahren so laufe, wie sie es sich wünsche, (...) bereits zum kommenden Wintersemester 2022/2023 greifen“. Wie hört sich das für Sie an?
Das klingt vielversprechend, allein: Im soeben vom Bundeskabinett auf den Weg gebrachten Gesetzentwurf für eine 27. BAföG-Novelle ist lediglich von einer Verordnungsermächtigung der Rede die es der Bundesregierung ermöglichen soll, bei gravierenden Krisensituationen die Förderungshöchstdauer zu verlängern – also genau das, was schon 2020/21 ohne Notfallmechanismus möglich war. Der Löwenanteil der Studierenden, die beim BAföG leer ausgehen, soll wieder im Regen stehen gelassen werden. Das ist enttäuschend und darf nicht das letzte Wort der Ampel-Koalition bleiben
Wie konkret sollte ein Notfallmechanismus in Ihren Augen aussehen?
Der konkrete Vorschlag lautet, den Anspruch auf elternunabhängiges BAföG, den es jetzt schon gibt, wenn man über den Zweiten Bildungsweg an die Hochschule kommt, über 30 ist oder fünf Jahre berufstätig war, auf Krisensitutationen wie die Corona-Pandemie auszudehnen. Darüber hinaus müssen wir das BAföG insgesamt durch eine Reform an Haupt und Gliedern leistungsfähig und krisenfest machen.
Wir brauchen ein Studienfinanzierungssystem, das bedarfsdeckend ist. Die Bedarfe aber sind in Folge explodierender Inflationsraten und steigender Energiekosten dramatisch angestiegen. Weg müssen auch alle Studiengebühren, die in manchen Bundesländern noch für sogenannte Langzeit- oder Zweitstudierende, in Baden-Württemberg auch für Nicht-EU-Ausländerinnen und -Ausländer erhoben werden. Dass davon aus der Ukraine geflohene Studierenden ausgenommen werden sollen, ist richtig, sollte aber zum Anlass genommen werden, sich endlich von jeder Art von Campusmaut zu verabschieden.
Zumindest Teile der BAföG-Reform sollen ja offenbar zum kommenden Wintersemester in Kraft treten. Wie zufrieden sind Sie mit der Vorlage in der Gesamtsicht?
Die geplanten Verbesserungen sind überfällige Schritte in die richtige Richtung, gehen aber nicht weit genug. Das Statistische Bundesamt beziffert die Inflationsrate für März 2022 auf 7,3 Prozent. Eine Erhöhung der BAföG-Sätze um gerade einmal fünf Prozent ab Oktober bleibt also weit hinter dem Bedarf zurück. Um eine spürbare Erhöhung der Ausbildungsförderung zu erreichen, müssten die Bedarfssätze um mindestens zehn, eher 15 Prozent angehoben werden.
Ein richtiges Signal ist hingegen die geplante kräftige Erhöhung der Einkommensfreibeträge um 20 Prozent. Nur noch elf Prozent aller Studierenden beziehen überhaupt Leistungen nach dem BAföG. Die richtige Stellschraube, um diese Quote auszuweiten, sind die Freibeträge für die Elterneinkommen. Enttäuschend ist allerdings, dass der Regierungsentwurf die überfällige strukturelle Erneuerung der Ausbildungsförderung zurückstellt.
Dass entsprechende Vorhaben überhaupt auf Stark-Watzingers Agenda stehen, erscheint für eine FDP-Ressortchefin schon recht beachtlich. Damit will sie allerdings erst später in der Legislatursperiode nachlegen.
Die Ampel-Koalition ist mit dem Versprechen angetreten, das BAföG grundlegend zu reformieren. Absenkung des Darlehensanteils des BAföG zugunsten einer Zuschussförderung, Auszahlung eines elternunabhängigen Garantiebetrags an alle Studierenden – das sind richtige Ansätze in der Koalitionsvereinbarung. Die gilt es aber jetzt anzupacken, statt sie auf die lange Bank zu schieben. Die Bundesregierung darf sich nicht von einer Reparaturnovelle zur nächsten hangeln, sondern muss sofort eine echte Runderneuerung der Ausbildungsförderung vornehmen.
Deshalb muss der Bundestag den Gesetzentwurf in der parlamentarischen Beratung gründlich gegen den Strich bürsten, damit am Ende kein Reförmchen, sondern eine echte Reform des BAföG herauskommt. Wenn dafür mehr Geld benötigt wird, muss Bundesfinanzminister Christian Lindner von der FDP eben die für 2022 verhängte Kürzung des Bildungs- und Forschungshaushalts um eine halbe Milliarde Euro rückgängig machen und auch künftig tiefer in die Schatulle greifen.
Welche Spuren haben zwei Jahre Pandemie beim Lehrpersonal an den Hochschulen hinterlassen?
Auch die Lehrenden sind am Limit. Sie haben alles gegeben, Konzepte für die Online-Lehre aus dem Boden gestampft, Lehrbetrieb und Studierendenbetreuung am Laufen gehalten, Homeoffice, Schlafzimmer oder Küche in einen Online-Hörsaal verwandelt und nicht selten die eigenen Kinder nebenbei betreut und beschult. Um sich dann im Juni 2021 von der damaligen Bildungsministerin Anja Karliczek vorhalten zu lassen, es finde ja „nichts statt“ an den Hochschulen. Es ist wohl kein Zufall, dass das Twitter-Gewitter mit dem Hashtag #IchBinHanna gerade auf dem Höhepunkt der Corona-Pandemie ausbrach.
Auf Druck der GEW wurde zwar das Wissenschaftszeitvertragsgesetz dahingehend novelliert, dass befristete Arbeitsverträge auch über die Höchstbefristungsdauer von sechs plus sechs Jahren hinaus verlängert werden können. Aber ob das tatsächlich gemacht wird, entscheiden die Arbeitgeber alleine und in der Regel willkürlich.
Ihre Forderung nach „Dauerstellen für Daueraufgaben“ ist ja ein ziemlich „alter Hut“, dessen Umsetzung die Politik bisher stets umschifft hat. Warum sollte sich das jetzt ändern?
Tatsächlich kämpft die GEW seit dem legendären Templiner Manifest von 2010 für Dauerstellen für Daueraufgaben. Nicht ohne Erfolg. Dauerstellen für Daueraufgaben sind heute in aller Munde und haben es sogar in den Koalitionsvertrag der Ampel-Koalition geschafft. In Kürze werden die Ergebnisse der offiziellen Evaluation des Wissenschaftszeitvertragsgesetzes veröffentlicht. Dann wird eine neue Debatte über eine umfassende Reform des unsäglichen Gesetzes nicht mehr aufzuhalten sein. Die GEW wird dafür am 3. Juni auf ihrer Hybrid-Konferenz „Schluss mit Hire and Fire in der Wissenschaft“ den Startschuss geben. (rw)