Proteste gegen Lehramtsreform in NRWBundesbank macht Schule
Wirtschaftliche Bildung auf Kosten von politischer und sozialer Bildung?
Zu einem Unternehmen wie etwa Nestlé lassen sich im Groben zwei Haltungen einnehmen. Man kann dessen Geschäftsgebaren, das auf der Ausbeutung von Mensch und Natur beruht, ablehnen – oder man sieht darüber hinweg und deckt sich mit Aktien des weltweit größten Nahrungsmittelkonzerns ein. Man kann zum zerstörerischen Wirken der kapitalistischen Wachstumsideologie auf Distanz gehen, sein Verhalten danach ausrichten, Nachhaltigkeit und Verzicht üben und das seinen Mitmenschen vorleben – oder man entsorgt den Coffee-to-go-Becher im nächsten Straßengraben.
Haltungen und Einstellungen fallen nicht vom Himmel. Sie werden erlernt, abgeschaut, eingeübt. Sie speisen sich aus Erfahrungen im menschlichen Miteinander und verfestigen sich im täglichen Anschauungsunterricht des Lebens. Vor allem sind sie Ausdruck von Erziehung, die in den Familien ihren Ausgang nimmt und in gesellschaftlichen Institutionen wie Kitas, Schulen, Hoch- und Berufsschulen ihre Fortsetzung findet. Ob man später einmal ein Raffke, ein Ökoaktivist oder Pazifist wird, ist nur begrenzt die eigene Entscheidung. Man wächst in seine Rolle hinein.
Einfluss von Lobbyisten
Die Schule ist ein zentraler Ort, an dem Kinder und Jugendliche lernen, sich mit gesellschaftlichen, politischen, sozialen und wirtschaftlichen Themen, die über die unmittelbare persönliche Erlebniswelt hinausgehen, auseinanderzusetzen. In Nordrhein-Westfalen (NRW) geschah dies bald 50 Jahre lang im Unterrichtsfach „Sozialwissenschaften“. Aber neuerdings ist Schluss damit. Zu Beginn des laufenden Schuljahrs wurde an den weiterführenden Schulen an Rhein und Ruhr flächendeckend das Schulfach „Wirtschaft/Politik“ eingeführt, wobei die namentliche Reihenfolge kein Zufall ist. Inhaltlich hat „Wirtschaft“ eindeutig Vorrang vor „Politik“. Und das nicht nur in den entsprechenden Konzeptpapieren, sondern längst auch in der Praxis.
Das Bildungsministerium streitet das gar nicht ab. Das neue Fach berücksichtige auch weiterhin die drei Teildisziplinen Wirtschaft, Politik und Soziologie, die „Schwerpunktsetzung“ sei aber eine andere. Das kommt nicht von ungefähr. Seit vielen Jahren treiben Unternehmer- und Handwerksverbände, arbeitgebernahe Wirtschaftsinstitute, Vertreter von Banken und Versicherungen viel Aufwand, um „Wirtschaft“ als ein eigenständiges Schulfach zu etablieren.
Und sie haben zunehmend Erfolg damit, nicht nur in NRW, auch in Bayern und Niedersachsen ist „Wirtschaft“ namentlicher Bestandteil der Lehrpläne. Ihren Durchbruch schafften die Lobbyisten vor dreieinhalb Jahren in Baden-Württemberg, wo seit Sommer 2017 an den allgemeinbildenden Schulen das Fach „WBS“ (Wirtschaft/Berufs- und Studienorientierung) gelehrt wird. Los ging es mit den Haupt-, Werkreal-, Real- und die Gemeinschaftsschulen, die Gymnasien folgten ein Jahr später.
Jeder ist sein eigener Unternehmer
Laut zugehörigem Bildungsplan geht es bei dem neuen Fach im „Ländle“ unter anderem um die Rolle der Bürger als Konsumenten, Geldanleger oder Kredit- und Versicherungsnehmer. Ferner entnimmt man dem Leitfaden: „Wettbewerb dient dem Gemeinwohl“, „Ungleichheit induziert Leistungsstreben, Fortschritt und Wohlstand“ und „Jeder ist sein eigener Unternehmer“. Was längst nicht jeder gutheißen mag, wird Kindern seither als allgemeinverbindliche „Wahrheit“ eingetrichtert.
Wie seinerzeit der Sozialwissenschaftler an der Goethe-Universität in Frankfurt am Main, Tim Engartner, beklagte, beförderten die Vorgaben „unterkomplexe Problemwahrnehmungen, einseitige Weltbilder und begrenzten Gestaltungswillen“. Nicht Aufklärung sei das Ziel, sondern Erziehung zwecks „Steigerung des Humankapitals“. Aus seiner Sicht sind Ökonomie und Gesellschaft zusammen zu denken und dürfen nicht künstlich voneinander getrennt werden. „Um zu begreifen, dass wir zwar in einer Marktwirtschaft leben, nicht aber in einer Marktgesellschaft, braucht es integrierte sozial- und nicht separierte wirtschaftswissenschaftliche Bildung.“
Lehrer auf Linie bringen
Kritik mussten auch die Nachahmer in NRW einstecken, allerdings nicht genug, um sich in ihrem Tatendrang stoppen zu lassen. Gepusht wurde die Umstellung vor allem von der FDP mit ihrem ausgeprägten Hang, das Wohl der Industrie über alles zu stellen. Gleichwohl war von dem Vorhaben bis zur Landtagswahl 2017 keine Rede gewesen, erst danach hat es die frisch inthronisierte CDU-FDP-Regierung flugs zum „Prestigeprojekt“ erklärt. Für den Didaktikprofessor Reinhold Hedtke von der Universität Bielefeld war das ein „Fall von Wählertäuschung“, wie er am Montag gegenüber Studis Online monierte. Es sei dabei nie um bessere Bildung gegangen, „sondern um die Interessen von Unternehmen und Industrieverbänden, die ihr Bild von Wirtschaft in der Schule verankern wollen“.
Allerdings ist die Mission von Schwarz-Gelb damit nicht erledigt. Zur Vollendung fehlt noch der Schritt, an den Hochschulen für klare Verhältnisse zu sorgen. Nach dem Motto, wer „Wirtschaft“ lehrt, muss „Wirtschaft“ lernen, soll dort das Lehramtsfach „Sozialwissenschaften“ abgewickelt und gleichfalls durch „Wirtschaft/Poltik“ ersetzt werden. So sieht es der von Schulministerin Yvonne Gebauer (FDP) vorgelegte Entwurf zur Änderung der Lehramtszugangsverordnung (LZV) vor. Ziel der Regierung von Ministerpräsident Armin Laschet (CDU) ist es, die Studieninhalte und die des neuen Schulfachs aufeinander abzustimmen, wobei das natürlich konsequent ist. Damit die Schüler künftig nach Plan denken, müssen zuerst die Nachwuchspädagogen auf Linie gebracht werden.
Breiter Protest
Aber die Betroffenen spuren nicht so wie gewünscht. Vielmehr machen sie sogar richtig Stunk. Schüler-, Studierenden-, Bildungsverbände und Gewerkschaften wenden sich auf breiter Front gegen die Pläne. Auch die Opposition im Landtag spricht sich dagegen aus, wobei das mit Vorsicht zu genießen ist. SPD und Grüne hatten in gemeinsamer Regierungsverantwortung in Baden-Württemberg einst maßgebliche Vorarbeit dazu geleistet, dass „WBS“ später durch Grün-Schwarz in den Schulen verankert wurde.
Es gibt Gegner, die glaubwürdig sind, etwa die Moerser Studentin Kalle Hunner. Sie hat Ende Januar die Petition „SOWI BLEIBT“ gestartet, der sich auf Change.org schon fast 40.000 Unterstützer angeschlossen haben. In ihrem Aufruf bemerkt die 25jährige: „Es ist mir unerklärlich, wie in der heutigen Zeit, wo politische Bewegungen und politische Stimmen – wie Black Lives Matter oder Fridays for Future – immer lauter werden, die Bildungspolitik auf eine Einschränkung der politischen Bildung abziehen kann“.
Ähnlich argumentiert Tobias Zorn vom Landes-ASten-Treffen (LAT NRW). „Die Soziologie ist essenziell für einen kritischen Blick auf die Gesellschaft und für den Weg der Schüler und Schülerinnen hin zur Mündigkeit“, äußerte er sich zu Wochenanfang in der Presse. Die aktuellen Lehramtsstudierenden hätten sich „ganz bewusst dafür entschieden, Sozialwissenschaften zu vermitteln“, heißt es in einer Stellungnahme des Verbands von Ende Januar. Gerade in Zeiten von Pandemie und Populismus sei eine Analyse gesellschaftlicher Prozesse „wichtiger denn je“. Auch Ursachen sozialer Ungleichheit seien „unabdingliches Wissen“, weshalb Schüler „mehr politische Bildung brauchen, nicht weniger“.
Politik nur nach Marginalie
Tatsächlich lautet ein von Politikern stets vorgebrachtes Argument für ein Separatfach „Wirtschaft“, dass ökonomische Themen im Unterricht zu kurz kämen und deshalb gegenüber anderen Inhalten aufgewertet gehörten. In Wirklichkeit zeigt sich genau das umgekehrte Bild. So hat besagter Sozialwissenschaftler Hedtke in diversen Studien aufgezeigt, wie seit Jahren eine schleichende Entwertung der gesellschafts- und sozialwissenschaftlichen Lernbereiche an den Schulen vonstattengeht und wirtschaftliche Inhalte immer dominanter werden.
Eine Untersuchung zur Situation in NRW von 2017 hatte ergeben, dass wirtschaftliche Themen über alle Schulformen hinweg damals schon doppelt so viel Raum einnahmen wie politische. In der Sekundarstufe I entfielen demnach per Schulwoche „bestenfalls 17 bis 20 Minuten auf politisches Lernen“. Jeder Jugendliche habe dabei „etwa 20 Sekunden Zeit, um seine politische Position vorzutragen und mit anderen darüber zu sprechen“. Auf die ganze Klasse bezogen blieben für „demokratisches Kommunizieren (…) über politische Fragen und Themen wöchentlich maximal zehn Minuten“, im Gymnasium sogar lediglich achteinhalb.
Hedtke und sein Kollege Mahir Gökbudak erstellen im Jahrestakt ein „Ranking Politische Bildung“. Laut der dritten Version von 2019 macht das Fach in manchen Bundesländern nicht einmal mehr ein Prozent der gesamten Lernzeit aus. Das Politische kommt dabei nicht nur zu kurz, sondern häufig auch viel zu spät. In Thüringen, dem Saarland, Baden-Württemberg, Sachsen-Anhalt und Niedersachsen gibt es am Gymnasium frühestens in Klasse 8 Politikunterricht, in Bayern sogar erst in Klasse 10. Sorgen bereitet den beiden Wissenschaftlern auch die Corona-Krise. Sie fürchten, der Politikunterricht könnte als eines der ersten Fächer der Pandemie zum Opfer fallen.
Schleichende Privatisierung
Mitte Januar hatte sich die Deutsche Vereinigung für Politische Bildung (DVPB) in einem Brandbrief gegen die Pläne der Regierung Laschet gewandt. „Kinder müssen lernen, sich in komplexen gesellschaftlichen Situationen zu orientieren und entsprechend handeln zu können“, erklärte darin DVPB-Funktionär Rainer Schiffers. Nach seiner Darstellung ist im Bereich der politischen Bildung „seit Jahren der höchste Unterrichtsausfall und die höchste fachfremde Unterrichtsversorgung“ zu beklagen. „Wenn eine stärkere Verankerung der Ökonomie beabsichtigt wurde und wird, ist dies schon längst geschehen. Kein anderer Bildungsbereich wurde in den letzten 15 Jahren so massiv ausgebaut wie die ökonomische Bildung.“
Skeptisch sieht man die Entwicklung auch an den Landeshochschulen. „Wir fürchten, dass zum Beispiel die Soziologie langfristig überhaupt keine Rolle mehr spielt“, gab Bettina Lösch zu bedenken, akademische Rätin im Forschungsbereich Politikwissenschaft, Bildungspolitik und politische Bildung an der Universität Köln. Sie sagt eine schleichenden Privatisierung voraus und beklagt ein Zuviel an Einfluss durch Stiftungen oder Unternehmen wie die Deutsche Bank. Ihr Verdikt: „Ökonomische Bildung sollte nicht mit ökonomischen Interessen verbunden sein, wir brauchen ganzheitliche und sozial orientierte Inhalte.“
Bestandsschutz für SoWi-Studis
Angesichts der Pläne drückt bei Lehrenden und Studierenden der Schuh noch an anderer Stelle. Anfangs liebäugelte das Bildungsministerium damit, den Betroffenen ihre Fakultas, also Lehrberechtigung für „Wirtschaft/Politik“ abzuerkennen. Die Rede war davon, dass sie eine Zusatzqualifikation erlangen müssten, um weiterhin unterrichten zu dürfen. Angst ging auch an den Unis um, weil lange nicht klar war, ob und mit welchem Ausgang Anwärter des Lehramtsfachs Sozialwissenschaften weiter studieren können. Hatten sie vielleicht für die Katz studiert und müssten, womöglich gar auf den letzten Metern, auf das neue Studienfach umsatteln?
Immerhin das bleibt ihnen wohl erspart. Denn wie auch sollte das Land dem riesigen Mangel an Jungpädagogen begegnen, wenn dazu noch kurzerhand ein laufender Studiengang abwürgt wird. Studienanfänger für „Wirtschaft/Politik“ werden frühestens im Herbst 2021 zugelassen und die ersten Absolventen könnten erst 2028 bereit zum Schuldienst sein. Entsprechend gab das Ministerium dieser Tage in einer „klarstellenden Erläuterung“ bekannt, dass im Rahmen der bisherigen Ausbildung akkreditierte Studiengänge „bis auf Weiteres weiter angeboten werden“. Die in den nächsten Jahren noch zu erwerbenden Abschlüsse behielten ihre Gültigkeit und: „Alle Berechtigungen, die in der Vergangenheit mit dem Fach ‚Sozialwissenschaften‘ erworben wurden und in den kommenden Jahren von heutigen Studierenden noch erworben werden, bleiben bestehen.“
Auch das mit der Zusatzqualifizierung ist vom Tisch, weil „nicht notwendig“. Sämtliche ausgebildete Lehrerinnen und Lehrer hätten „alle nötigen Voraussetzungen“, das neue Schulfach „fachgerecht“ zu unterrichten. Wer will, kann freilich trotzdem eine Fortbildung absolvieren. In der Antwort auf eine kleine Anfrage der SPD-Fraktion im Düsseldorfer Landtag von Ende Dezember nennt Gebauers Ministerium dann auch bereitwillig eine Reihe externer Angebote, etwa von Universitäten, Stiftungen, Verbänden – und der Deutschen Bundesbank. Da lernt sich Wirtschaft freilich am besten. (rw)