Lernen am LimitStudis, wehrt Euch endlich!
Es gibt genug Gründe für studentischen Protest.
Hallo, Neustudent! Wie lief es denn so in den ersten zwei, drei Wochen, die Du jetzt zur Uni gehst? Hast Du vielleicht auch noch kein festes Dach über dem Kopf, obwohl Du schon seit Monaten nach einer Bleibe suchst? Oder wunderst Du Dich, wie proppenvoll Deine Vorlesungen und Seminare sind, dass Dein Prof keine Zeit für Dich hat oder in der die Bibliothek nur alte Bücher zu finden sind? Wartest Du auch noch auf Deinen BAföG-Bescheid und schlägst Dich mit dem Ersparten durch? Und hast Du Dir eine Hochschule von außen und innen nicht anders vorgestellt, irgendwie moderner, mit zeitgemäßer Ausstattung, sauberen Klos und ohne, dass das Wasser von der Decke tropft?
Damit Du es weißt: Wie Dir geht es vielen, die gerade ihr Studium begonnen haben. Zustände wie bei Dir herrschen an etlichen Hochschulen in Deutschland, nicht überall, aber in den meisten Fällen schon. Aber sei beruhigt: Wenn man erst mal ein Semester hinter sich hat, dann erscheint das alles ganz normal. Außerdem vergisst man ziemlich schnell, wie viel schöner man sich das Studentenleben davor ausgemalt hatte, von wegen mehr Freiheit, Freizeit und Feiern, und nicht so viel Paukerei, Prüfungsstress und Angst davor, den nächsten Schein nicht zu schaffen. Wenn man das jeden Tag hat, bleibt bald auch keine Luft und Energie mehr, sich über all das aufzuregen und noch weniger, sich gegen all das zu wehren.
Kampagne macht mobil
Dieser Beitrag soll keine schlechte Laune verbreiten. Im Gegenteil: Er soll denjenigen, die sich mit den Verhältnissen an den Hochschulen und den vielen Zumutungen, die sich heute mit einem Studium verbinden, nicht abfinden und etwas dagegen unternehmen wollen, eine Bühne geben. Der „freie zusammenschluss von studentInnenschaften“ (fzs) hat dazu eine Kampagne ins Leben gerufen, deren Titel die Widrigkeiten auf den Punkt bringt: „Lernen am Limit.“ Zum neuen Semester geht die Aktion in die zweite Runde, nachdem es zur Premiere im Herbst 2018/19 über einen Zeitraum von vier Wochen bereits vielfältige Aktivitäten und Veranstaltungen gegeben hatte.
Getragen wird „Lernen am Limit“ neben dem fzs als bundesweitem studentischem Dachverband von Studierendenvertretungen und hochschulpolitischen Gruppen mehrerer Städte und Hochschulen. Beteiligt sind Campusgrün, die Juso-Hochschulgruppen und Die Linke.SDS, dazu kommen die Jugendverbände der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW) sowie von Ver.di, das Aktionsbündnis gegen Studiengebühren (ABS), der Bundesverband Ausländischer Studierender (BAS), das Bündnis „Lernfabriken ...meutern“ und verschiedene Landesstudierendenvertretungen wie etwa aus Baden-Württemberg, Hessen und Thüringen.
„Der Studienstart: Aufbruch in eine spannende neue Phase – oder Aufbruch ins Ungewisse, in eine Phase chronischer Geldsorgen und existenzieller Ängste“, heißt es im Aufruf zur Neuauflage der Proteste. Viele Studienanfänger erlebten ein jähes Erwachen: „Wettbewerb um Seminarplätze, Sitzplatzgarantie auf der Hörsaaltreppe mit Panoramablick auf den abbröckelnden Putz, auch die Bibliotheken platzen aus allen Nähten.“ Dazu kämen schlechte Betreuungsverhältnisse, marode Räumlichkeiten sowie Dozentinnen und Dozenten, die unter prekären Arbeitsbedingungen zu leiden hätten. Das alles müsse ein Ende haben und deshalb: „Schluss mit Unterfinanzierung von Bildung, mit Befristungen und Leistungsdruck – Schluss mit Lernen am Limit, Schluss mit Lehren am Limit!“
Ohne Ende Missstände
Leider sieht es danach nicht aus. Die Politik redet zwar gerne und viel über Bildung, tut aber viel zu wenig, der Probleme Herr zu werden. Studis Online hat dies wiederholt thematisiert. So mag etwa der neu beschlossene Hochschulpakt zur Finanzierung zusätzlicher Studienplätze verhindern, dass die Hochschulen den Betrieb einstellen müssen. Die chronische Unterfinanzierung des Systems behebt er mitnichten, eher drohen die Ausgaben pro Studierendem weiter zurückzugehen. Passend dazu deuten die ersten Wasserstandmeldungen aus den Ländern an, dass die Studienanfängerzahlen auf hohem Niveau verharren, vielleicht sogar zugelegt haben und die Hochschulen damit voller sind denn je.
Die gerade in Kraft getretene Novelle der Bundesbildungsförderung (BAföG) erscheint jetzt schon überholt. Mit den vorangegangen Reformen ist die Zahl der Leistungsempfänger auf einen historischen Tiefstand abgeschmiert. Derzeit profitieren nur noch rund zwölf Prozent von der staatlichen Hilfe. Die neuen Regelsätze bleiben dennoch weit hinter dem zurück, was ein Student heute zum Leben braucht. Auch die Wohnpauschale von jetzt 325 Euro genügt den allerwenigsten, um damit die realen Mietkosten zu decken. Trotzdem wird es wohl vor 2022 keine Nachbesserungen geben.
Die Lage auf den Wohnungsmärkten spitzt sich mit jedem Jahr weiter zu. Nach einer Studie des Moses Mendelssohn Instituts (MMI) gestaltete sich die Suche nach einer passenden und bezahlbaren Unterkunft vielerorts „eindeutig schwerer“ als 2018. An den untersuchten 98 Hochschulstandorten wären die Kosten für ein WG-Zimmer binnen eines Jahres „im Schnitt von 363 auf 389 Euro“ gestiegen. In München, dem bundesweit abermals teuersten Pflaster, würden sogar 50 Euro mehr und damit 650 Euro fällig. Laut Deutschem Studentenwerk (DSW) stehen auf den Wartelisten staatlicher Wohnheime in nur sechs Städten (München, Berlin, Stuttgart, Hamburg, Köln, Darmstadt) fast 26.000 Bewerber, berichtete Spiegel Online.
Proteste in BaWü
In Baden-Württemberg (BaWü) waren zuletzt Tausende Studierende auf die Straße gegangen, um gegen die unzureichende Hochschulfinanzierung der grün-schwarzen Landesregierung zu protestieren. Die Bildungsgewerkschaft GEW sieht einen zusätzlichen Bedarf der Landeshochschulen in Höhe von 1,2 Milliarden Euro für die Jahre 2021 bis 2025. Davon wolle die Koalition nicht einmal die Hälfte bereitstellen. Während in den vergangenen 20 Jahren die Steuereinnahmen um 49 Prozent angestiegen wären, seien die Landeszuschüsse pro Studierendem um 33 Prozent eingebrochen, beklagt die GEW. Auch die Hochschulrektoren fordern 450 Millionen Euro mehr. Der Chef der Hochschule Aalen, Gerhard Schneider, sieht die Uni andernfalls auf einen „Systemkollaps“ zusteuern.
BaWü ist kein Einzelfall, das Land steht für den großen Rest der Republik. Die Betreuungsrelationen an den Hochschulen sind flächendeckend katastrophal. Auf einen Professor kommen im Mittel über 70 Studierende, bisweilen sind es sogar mehr als 100. Fast 90 Prozent des wissenschaftlichen Personals im sogenannten Mittelbau sind lediglich befristet angestellt und hangeln sich von einem Kurzzeitvertrag zum nächsten. Berufliche Sicherheit und Familienplanung bleiben dabei auf der Strecke – und mit ihnen die Motivation für und die Verlässlichkeit in der Lehre. Das alles fordert Opfer: Mehr als ein Viertel aller Studierenden brechen ihr Studium vorzeitig ab, an den Universitäten sind es fast ein Drittel, in manchen Studiengängen über 50 Prozent.
Die Misere hat noch viele andere Symptome: Immer mehr Fälle von Burnout, Studenten mit psychischen, Alkohol- und Drogenproblemen. Der Wissenschaftsbetrieb liefert sich zusehends kommerziellen Interessen aus. Mit ihren Drittmitteln erkaufen sich Konzerne, Banken, Versicherungen und Stiftungen Einfluss auf Forschung und Lehre und züchten ihre Mitarbeiter von morgen heran. Mit der Wirtschafts- und Technikaffinität der Geldgeber verlieren die Geistes-, Sozial und Kulturwissenschaften weiter an Bedeutung. Nicht zuletzt gerät auf diesem Weg kritisches und politisches Denken in größeren gesellschaftlichen Zusammenhängen immer stärker ins Hintertreffen.
Apathie oder Aufbruch?
Damit schließt sich der Kreis: Obwohl vieles an den Hochschulen und im Studienalltag schlechter geworden ist, als es früher einmal war, regt sich kaum bis gar kein Protest. In der großen Mehrheit finden sich Studierende mit den Umständen ab, fügen sich in ihr Schicksal, resignieren, ziehen irgendwie ihr Ding durch und kommen so gar nicht mehr auf die Idee, selbst etwas an den Verhältnissen ändern zu wollen oder zu können. Dabei könnten sie: Vor zehn Jahren waren an einem Tag im Sommer bundesweit mehr als 270.000 Schüler- und Studierende im Rahmen des bundesweiten „Bildungstsreiks“ für bessere Lehr- und Lernbedingungen auf der Straße. Im November 2009 waren es noch einmal rund 90.000.
Die Bewegung hat gewiss nicht alles durchgesetzt, wofür man angetreten war. Aber es gab Erfolge: Die zwischenzeitlich in sieben Bundesländern erhobenen allgemeinen Studiengebühren wurden in den Folgejahren allerorten wieder abgeschafft. 2010 und 2011 richtete die Bundesregierung gleich zwei sogenannte Bologna-Gipfel aus, an deren Ende Erleichterungen in punkto „Studierbarkeit“ von Bachelor- und Master-Studiengängen standen.
Aktionstag am Mittwoch
Dass man seinerzeit nicht mehr herausholte, sollte kein Grund sein, den Kopf im Sand stecken zu lassen, sondern Ansporn, beim der nächsten Mal noch mehr Druck zu machen. Die nächste Gelegenheit muss nur ergriffen werden und vielleicht wird ja schon am kommenden Mittwoch ein Anfang gemacht. Für den 30. Oktober ruft „Lernen am Limit“ zu einem dezentralen Aktionstag in mehreren Städten auf, unter anderem in Bamberg, Erlangen, Freiburg, Heidelberg, Mainz, Mannheim, Oldenburg und Osnabrück. Der Schwerpunkt liegt in BaWü, wo an diesem Tag unter dem Motto „Hochgeschult – Kaputtgespart“ landesweit gegen die Sparpolitik der Regierung Winfried Kretschmann (Grünen) mobilisiert wird.
„Lernen am Limit“ weiß auch, wofür es zu kämpfen gilt. Zu den Forderungen der Kampagne zählen: BAföG als Vollzuschuss für alle, mehr sozialer Wohnungsbau, eine funktionierende Mietpreisbremse, Ausbau und Sanierung von Wohnheimplätzen, Enteignung von Leerstand und Spekulationsobjekten, Abschaffung aller Bildungs- und Studiengebühren, Studienplätze für alle statt Elitenförderung für wenige, unbefristete Beschäftigungsverhältnisse, bessere Lehrbedingungen und verbesserte Betreuungsrelationen sowie eine bedarfsgerechte Finanzierung der Hochschulen über die Grundfinanzierung. Wer all das will, muss in Bewegung kommen. Von nichts kommt nichts! (rw)