Spitze vor QualitätWie Geld über Bildung bestimmt
Zwar steigen die Bildungsausgaben absolut – doch pro Kopf gerechnet sinken sie seit Jahren. Ein Grund für enge Hörasäle
Deutschland habe ein „gutes Bildungssystem“, findet Bundesbildungsministerin Anja Karliczek. Man könne international „ganz gut bestehen“, sagte sie in der Vorwoche anlässlich der Vorstellung des Berichts „Bildung auf einen Blick“, den die Organisationen für Wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) alljährlich im Spätsommer veröffentlicht. „Wir sind jetzt im Mittelfeld“, ergänze die CDU-Politikerin, aber klar doch: „wir müssen an die Spitze, wenn wir wirklich innovativ bleiben wollen“.
Das mit der Spitze ist bekanntlich so eine Sache, weil eine Frage des Blickwinkels. Spitze ist auch, wer 74 Hotdogs in zehn Minuten vertilgt und später an einer Fettleber stirbt. Und woran bemisst sich Spitze in der Bildung? Karliczek hat da klare Prioritäten: Im sogenannten MINT-Bereich sei man ganz weit oben, verkündete sie, also in Mathematik, Informatik, Naturwissenschaften und Technik. Laut OECD-Studie streben rund 40 Prozent aller Studienanfänger in diese Fachrichtungen, so viele wie in keinem anderen der 36 OECD-Mitgliedsstaaten. 35 Prozent der Erwachsenen mit Tertiärbildung haben einen MINT-Abschluss. Im OECD-Schnitt sind es 25 Prozent.
Bildung am Bedarf vorbei
Aber ist etwas schon spitze, nur weil es viele machen? Und was sagt das über die Qualität aus? Viele kaufen sich Klamotten bei Primark, die unter übelsten Produktionsbedingungen in Fernost genäht werden, vor Gifstoffen triefen und nach 20 Mal Tragen in der Tonne landen. Um beim Thema MINT zu bleiben: Während hiesige Hochschulen immer mehr ihrer knappen Ressourcen in technikorientierte Fakultäten stecken, werden die Sozial-, Kultur- und Geisteswissenschaften vielerorts gnadenlos runtergekürzt. Aber sind sie deshalb weniger wert, nur weil sie weniger Forschungsgelder von Staat, Stiftungen und Industrie für sich gewinnen?
Gemeinhin gilt die Arbeitsmarkttauglichkeit, die sogenannte Employability, als Ausweis von Bildungsqualität. Spitze sind demnach Ausbildungs- und Studiengänge, die direkt in einen Beruf münden und dazu noch gut bezahlt werden.
Es ist fraglos ein legitimer persönlicher Antrieb, möglichst viel Geld zu verdienen, um seine Ziele und Träume zu verwirklichen. Aber die Gesellschaft braucht eben nicht nur Ingenieure und IT-Experten, sondern auch Menschen, die im Sozialwesen arbeiten, als Lehrkräfte, Erzieherinnen, Hebammen oder in der Kranken- und Altenpflege. In diesen Bereichen bräuchte es dringend und massenhaft mehr Personal, weil es immer mehr alte und kranke Menschen gibt, weil die Schülerzahlen steigen, weil die Spaltung der Gesellschaft in Arm und Reich und damit die sozialen Probleme zunehmen.
Schlechte Lösungen
Nur will die Politik aus vermeintlichen „Sparzwängen“, wegen der „Schuldenbremse“ oder „schwarzen Null“ entweder nicht die nötigen Mittel dafür bereitstellen oder es fehlen schlicht die in den fraglichen Berufen ausgebildeten Menschen. Dabei rächt sich auch, dass diesen Berufen lange Zeit zu wenig Wertschätzung zuteil wurde, sie schlecht vergütet werden und oft lausige Arbeitsbedingungen vorherrschen. Und es rächt sich, dass das Bildungssystem nicht auf die gesellschaftlichen Notwendigkeiten hin ausgerichtet ist, sondern immer stärker nach den Regeln des Geldes funktioniert.
Aktuell wird das nirgends deutlicher als am grassierenden Lehrermangel. Die Unis haben die Ausbildungskapazitäten über Jahre zugunsten anderer Bereiche, die mehr Fördergelder versprechen, zurückgefahren und sind jetzt heillos damit überfordert, für den nötigen Nachschub zu sorgen.
Dieser Tage hat die Bertelsmann Stiftung vorgerechnet, dass bis 2025 mindestens 26.300 Absolventen für das Grundschullehramt fehlen werden. Es dauere „noch etliche Jahre, bis die zusätzlich eingerichteten Studienplätze für das Lehramt an Grundschulen auch mehr Absolventen hervorbringen“, erklärte Vorstand Jörg Dräger. Deshalb brauche es „schnelle Lösungen, um gute Bildung für alle gewährleisten zu können“. Die Politik setzt derzeit auf den großflächigen Einsatz von Seiten- und Quereinsteigern, was nicht ohne Abstriche bei der Unterrichtsqualität abgeht. „Schnelle Lösungen“ mögen derzeit die einzigen Lösungen sein, sind für die Schülerinnen und Schüler aber de facto schlechte Lösungen.
„Akademisierungswahn“
Eine andere Größe, mit der die Politik gerne hausieren geht, ist die wachsende Zahl an Studierenden. Hier nähert sich Deutschland der internationalen „Spitze“ in der Tat immer weiter an. Zwischen 2005 und 2017 sind im Schnitt pro Jahr drei Prozent mehr Menschen an die Hochschulen geströmt, während der aufwuchs im OECD-Mittel bei einem Prozent lag. 2018 hätten 32 Prozent der jungen Erwachsenen zwischen 25 und 34 Jahren einen Tertiärabschluss erworben, gegenüber 24 Prozent im Jahr 2008. In den anderen Industriestaaten erreichen aber immer noch zwölf Prozent mehr, nämlich im Durchschnitt 44 Prozent einen Hochschul- oder gleichwertigen Abschluss.
Begründet wird das insbesondere mit dem „starken Berufsausbildungssystem“, also der dualen Ausbildung, um die Deutschland weltweit beneidet wird. Allerdings muss man auch das einordnen: In vielen Berufsfeldern besteht heutzutage ein erheblicher Nachwuchsmangel, was mehrere Gründe hat.
Die Gewerkschaften beklagen etwa eine schlechte Ausbildungsqualität, geringe Vergütungen, unbezahlte Überstunden oder den Missbrauch Jugendlicher als billige Arbeitskräfte. Die Unternehmer dagegen beschweren sich über durch Schule und Elternhaus schlecht vorbereitete Azubis, die den Anforderungen nicht gewachsen wären. Und dann gibt es Stimmen, die vor einem „Akademisierungswahn“ angesichts der ausgeprägten Studierneigung warnen. Weil es so viele junge Menschen an die Hochschulen ziehe, werde der klassische Berufsausbildung der Boden entzogen.
Pro-Kopf-Ausgaben sinken
Umgekehrt hat auch der Hochschulboom seine Schattenseiten. Bei Studienanfängerquoten von seit Jahren deutlich über 50 Prozent eines Altersjahrgangs wird es enger und enger in den Hörsälen. Derzeit gibt es weit über 2,8 Millionen Studierende und die Zahl wird absehbar weiter wachsen. Die Betreuungssituation verschlechtert sich mit dem jedem Jahr mehr und fast jeder Dritte bricht sein Studium vorzeitig ab. Wenn Politiker in Sonntagsreden vom hohen Akademisierungsgrad in der Bevölkerung schwärmen, kommen die verbreitet widrigen Begleitzustände nicht zur Sprache. Denn tatsächlich ist die „Bildungsexpansion“ keine, die sich an expandierenden Bildungs- oder Hochschuletats festmachen ließe. Im Gegenteil: Mit jedem Studierenden mehr, verliert das System als Ganzes an Substanz.
Die OECD liefert dazu bedrückende Daten. Der Ausgabenanstieg für den Tertiärbereich betrug zwischen 2005 und 2010 demnach 24 Prozent, während die Studierendenzahlen im gleichen Zeitraum nur um sieben Prozent zugelegt hatten. Danach lief es genau umgekehrt: Von 2010 bis 2016 zogen die Investitionen um zwölf Prozent an, die Zahl der Hochschüler jedoch fast um das Zweieinhalbfache, nämlich um 29 Prozent. Damit hätten die Pro-Kopf-Ausgaben für jeden einzelnen Studierenden zuletzt auf dem Niveau von 2005 gelegen, konstatiert der Report. Man muss davon ausgehen, dass sich die Verhältnisse seit 2016 weiter zugespitzt haben, schon weil der Run auf die Hochschulen fast ungebremst weiterging.
Deutschland knausert
Relativieren muss man auch die im internationalen Vergleich hohen Nominalausgaben pro Studierendem, die mit 17.429 US-Dollar über dem OECD-Schnitt von 15.556 Dollar liegen. Deutschland verwendet jedoch 43 Prozent der Mittel für Forschung und Entwicklung, was nach Schweden den zweitgrößten Anteil unter den untersuchten über 40 Staaten markiert. Die Ausgaben für grundlegende Bildungsgüter und -leistungen, etwa für die Lehre, die Ausstattung und die Gebäudeerhaltung, liegen mit 8.866 Dollar aber deutlich unter dem OECD-Schnitt von 10.351 Dollar. Vor allem bleibt es dabei, dass die BRD im Verhältnis zu seiner Wirtschaftskraft bei der Bildung knausert. Lediglich 4,2 Prozent des Bruttoinlandsprodukts werden dafür aufgewendet. Im OECD-Schnitt sind es fünf Prozent.
Ministerin Karliczek lassen solche Befunde kalt. „Ich glaube, dass wir eine gute Ausstattung an den Universitäten haben.“ Die Grünen im Bundestag sind anderer Meinung. Da die Nachfrage nach Studienplätzen hoch bleiben werde, sei es überfällig, die Hochschulen besser auszustatten, äußerte sich der hochschulpolitische Sprecher Kai Gehring. So brauche es eine „Offensive für Sanierung und Neubau“ und auch die soziale Infrastruktur – also Beratungsangebote, Mensen und Wohnheime – müsse mitwachsen, „damit aus Erstsemestern auch Absolventinnen und Absolventen werden“.
Drittmittelboom
Kritik kam auch von Nicole Gohlke von der Fraktion Die Linke im Bundestag. „Statt echte bildungspolitische Visionen zu haben, werden nur ein paar wenige Eliteuniversitäten aufgepumpt.“ In den zuletzt verabschiedeten Wissenschaftspakten wären „von jährlich rund vier Milliarden Euro nicht einmal vier Prozent für Innovationen in der Hochschullehre vorgesehen“, beklagte die Abgeordnete. Dazu plane die Bundesregierung bei der Bundesausbildungsförderung (BAföG) „laut aktuellem Haushaltsentwurf im kommenden Jahr sogar eine Kürzung von 360 Millionen Euro“.
Zum Schluss noch eine „Spitzenleistung“: 2017 haben Deutschlands Professorinnen und Professoren bei der Einwerbung von Drittmitteln aus staatlichen und privatwirtschaftlicher Quellen neue Maßstäbe gesetzt. Wie das Statistische Bundesamt in Wiesbaden am vergangenen Dienstag mitteilte, brachten es die Lehrstuhlinhaber an Universitäten auf im Schnitt 266.200 Euro (ohne Medizin). Das waren 3,2 Prozent mehr als im Jahr davor. Angeführt wird die Rangliste – wie seit Jahren – von der Rheinisch-Westfälischen Technischen Hochschule Aachen (RWTH), die insgesamt 294 Millionen Euro an Land zog. Hinter ihr rangieren die Technische Universität München (TUM) und die TU Dresden.
Für Linke-Chefin Katja Kipping sind die Zahlen „kein Grund zum Jubeln, sondern eher ein Alarmsignal“, wie sie in einer Pressemitteilung zu bedenken gab. „Der Druck zur Selbstvermarktung nimmt stetig zu“, damit trete freie und kritische Forschung in den Hintergrund, zugunsten wirtschafts- und interessengeleiteter Forschung. Deshalb sei es an der Zeit, „um grundlegend darüber nachzudenken, was wir von Wissenschaft und Forschung erwarten. Erkenntnisse oder schlichtes Funktionieren nach den Regeln des Marktes?“ Passend dazu zeigen die Zahlen: Das meiste Geld wurde im Fach Medizin eingesammelt, gefolgt von den Ingenieurwissenschaften. Ganz hinten landeten die Kunstwissenschaften. Wie heißt es so treffend? Brotlose Kunst. (rw)