Streifenhörnchen meets Micky MausBildungsexpansion zum Schnäppchenpreis?
Nur mit Kleingeld kann es keine gute Bildung geben.
Studis Online: Im März erscheint ihr neues Buch mit dem Titel: „Abitur und Bachelor für alle – wie ein Land seine Zukunft verspielt“. Warum sollte Deutschland ausgerechnet dann den Bach runtergehen, wenn es mehr Akademiker bevölkert als jemals zuvor?
Hans Peter Klein: Die höchsten Bedarfsprognosen an Akademikern gehen für 2030 von rund 28 Prozent eines Jahrgangs aus. Für die Behauptung, dass akademisches Methodenwissen eines wissenschaftlichen Studiengangs für mehr als 60 Prozent eines Jahrgangs unverzichtbar sei, gibt es keinerlei empirische Belege. Viele andere Länder zeigen, dass der Akademikerwahn ins Nichts führt. Selbst in China ist von „Ameisen ohne Job“ die Rede, von Südeuropa ganz zu schweigen. Hinzu kommt, dass die mit der Jahrtausendwende eingeläutete Bildungsexpansion – angesichts beispielsweise einer nahezu verdoppelten Abiturientenquote – eindeutig auf Kosten der Qualität der Abschlüsse gegangen ist. Das bestreitet heute eigentlich niemand mehr. Wenn Politiker heute ganz offen fordern, die Hochschulen sollten die zunehmende Heterogenität ihrer Studierenden endlich akzeptieren und jedem einen akademischen Abschluss entsprechend seinen Möglichkeiten verschaffen, muss man das nicht weiter kommentieren.
Tun Sie es bitte trotzdem ...
Die alleinige Erhöhung des Outputs an Abiturienten, Absolventen und Abschlüssen bei zugleich kaum oder nur unzureichend gesteigerten Bildungsetats bringt gar nichts, wenn dabei die Qualität von Bildung und Wissen auf der Strecke bleibt. Außerdem führt diese Inflation zu einer drastischen Abwertung der Abschlüsse, die auch ihren Inhabern in Zukunft längst nicht die erhofften gut bezahlten und sicheren Jobs garantieren wird. Drittens sorgt dieser Akademisierungswahn dafür, dass der Bedarf an Nachwuchskräften in bestimmten Berufszweigen, etwa im Handwerk oder der Kranken- und Altenpflege nicht mehr gedeckt werden kann – mit dramatischen Folgen für die Wirtschaft und die Gesellschaft.
Welche Folgen sind das in Ihren Augen?
Wir sind gerade dabei, die Grundlagen der dualen beruflichen Bildung zu zerstören, weil immer weniger Jugendliche eine Lehre machen wollen. Und damit bricht eine tragende Säule unseres wirtschaftlichen Erfolges weg, der insbesondere auf dem deutschen Mittelstand, hochqualifizierten Fachkräften und einer Meisterausbildung beruhte, die weltweit ihresgleichen suchte. Um das aufzufangen, müssen jetzt viele Menschen aus dem Ausland rekrutiert werden, während hierzulande immer mehr junge Menschen in die Akademisierungsfalle tappen. Zu glauben, man erhalte Qualität, Exzellenz und obendrein soziale Gerechtigkeit durch die Vergabe möglichst vieler akademischer Titel, ist ein schlimmer Trugschluss.
Für Sie bedeuten mehr Akademiker also nicht notwendig mehr Wissen, mehr Innovation, mehr Bildung. Sondern?
Die von der Politik forcierte Bildungsexpansion ohne eine nur annähernd auskömmliche Finanzierung der Hochschulen lässt diese zu Zertifizierungsdiscountern verkommen. Das akademische Niveau an den Hochschulen befindet sich im freien Fall, so sehr diese auch versuchen, sich dagegen zu wehren. Bildung und Wissen, die Grundlagen von Innovationen und Kreativität, sind im Rahmen des neoliberalen Umbildungskonzepts endgültig zu Grabe getragen worden. Selbst an den Universitäten soll nur noch das gelehrt werden, was Anwendung garantiert. Dabei ist gerade in Zeiten der Digitalisierung, in denen keiner weiß, welche Berufe es morgen noch geben wird und welche nicht, die Abkehr von einem Allgemeinbildungsgedanken ein fundamentaler Fehler.
Woher nehmen Sie das Wissen darüber, was Abiturienten und Studierende heute weniger drauf haben als früher?
Seit Beginn der 2000er Jahre hat sich eine Abwärtsspirale in der Nivellierung der Ansprüche entwickelt, bei der sich die Bundesländer gegenseitig über- bzw. unterbieten. Unsere neuesten Vergleichsuntersuchungen zeigen, dass die Länder, die die höchsten Abiturientenquoten von bis zu knapp 60 Prozent eines Jahrgangs generieren, auch den größten fachlichen Niedergang in ihren Zentralabiturarbeiten aufweisen. Jedenfalls ist es ist für niemanden nachzuvollziehen, dass Schüler aus Hamburg, Bremen, Berlin oder Nordrhein-Westfalen viel schlauer sind als jene in Bayern, wo 2016 die Abiturientenquote knapp über 30 Prozent lag. Die Zunahme der Einserabschlüsse sowie der mit der Traumnote 1,0 ist ebenfalls inflationär. Aber eine Bildungsexpansion, die Quantität mit Qualität verwechselt, steht auf tönernen Füßen. Und das betrifft eben auch die Hochschulen, die mit Ausnahme des Fachbereichs Jura dem gleichen Konzept unterliegen.
Sie waren bis Ende 2018 als Lehrstuhlinhaber für Didaktik der Biowissenschaften in der Hochschullehre aktiv. Hatten Sie damals den Eindruck, Ihre Studenten wären alle auf den Kopf gefallen?
Keineswegs alle. Es gibt nach wie vor viele Abiturienten, die die erforderliche Studierfähigkeit mitbringen. Nur nimmt die Zahl der Nichtstudierfähigen beständig zu. Auch hier geht natürlich die Erhöhung der Quantität auf Kosten der Qualität. Es ist nicht davon auszugehen, dass der Intelligenzquotient in der deutschen Bevölkerung seit der Jahrtausendwende exorbitant gestiegen ist.
Sie wollen also sagen, manche Ihrer Kandidaten hätten das Abitur gar nicht verdient gehabt?
Hans Peter Klein hatte von 2001 bis 2018 den Lehrstuhl für Didaktik der Biowissenschaften an der Goethe-Universität Frankfurt am Main inne. Davor war er mehr als 20 Jahre lang als Gymnasiallehrer in Nordrhein-Westfalen tätig. Er ist Präsident der Gesellschaft für Didaktik der Biowissenschaften und Mitbegründer Gesellschaft für Bildung und Wissen (GBW). Klein ist ein entschiedener Kritiker der Ökonomisierung des deutschen Bildungswesens im Zeichen von PISA und Bologna und beschäftigt sich in seiner Forschung schwerpunktmäßig mit der Analyse des fachlichen Schwierigkeitsgrades von Zentralabiturarbeiten in Biologie und Mathematik. Im Frühjahr 2019 erscheint sein neues Werk, das insbesondere die Entwicklung an den Hochschulen seit der Jahrtausendwende kritisch unter die Lupe nimmt: „Abitur und Bachelor für alle – wie ein Land seine Zukunft verspielt“.
Infos im Internet: www.bildung-wissen.eu
Bei manchen Studierenden fragt man sich nicht nur, auf welcher Grundlage sie das Abitur bekommen haben, sondern wie sie es überhaupt aufs Gymnasium geschafft haben. Seit fast überall der Elternwille aber genau darüber entscheidet, ist insbesondere das fachliche Niveau im freien Fall. Nicht nur in der Mathematik, die in vielfältigen Studiengängen von zentraler Bedeutung ist, bringt mehr als die Hälfte der Abiturienten nicht einmal mehr die grundlegenden Rechenkenntnisse der Mittelstufe mit. In mittlerweile fast flächendeckend eingerichteten Vor- und Brückenkursen wird an den Hochschulen in wenigen Wochen nahezu die gesamte Mittelstufen- und Oberstufenmathematik wiederholt, die in den Schulen im Rahmen der Kompetenzorientierung und der zunehmenden Heterogenität den Schülern selbst am Gymnasium ganz offensichtlich nicht mehr zugemutet werden kann. Längst hat man dort jeden wissenschaftlichen Anspruch ad acta legen müssen. Immer mehr Mathematikprofessoren an den Hochschulen beschweren sich in immer stärkerem Ausmaß über die gravierenden Lücken der angehenden Studierenden. Das alles sind Anzeichen einer grassierenden Misere, die sich definitiv nicht mehr wegdiskutieren lässt.
Aber warum wurde dieser, wie Sie meinen, Irrweg überhaupt eingeschlagen? Seit dem Jahr 2001, als die mäßigen Ergebnisse der ersten PISA-Studie das Land in einen „Schock“ versetzten, gilt es doch quasi als Binsenweisheit, dass die deutsche Wirtschaft mehr Hochschulabsolventen braucht, um international konkurrenzfähig zu bleiben. Und jetzt kommen Sie und behaupten das Gegenteil …
Bildungsexpansion funktioniert allenfalls dann, wenn man Schulen und Hochschulen mit deutlich mehr Geld und Personal zugunsten besserer Betreuungsverhältnisse ausstattet. Stattdessen sind mit PISA und Bologna die Prokopfausgaben für Schüler und Studenten sukzessive zurückgegangen. Die zeitlich und inhaltlich verkürzten Bachelor- und Masterstudiengänge mögen ja an sich billiger sein als früher die Diplom-, Magister- oder die Studiengänge mit Staatsexamen. Und die Absolventen mögen für die Arbeitgeber auch weniger Lohnkosten bedeuten. Aber was haben sie davon, wenn die Leute nicht mehr die nötigen Fertigkeiten mitbringen, die es braucht, um im Beruf zu bestehen.
Ein Kapitel Ihres neuen Buchs wird heißen: „Die wundersame Vermehrung der Studiengänge – wie Mickymäuse die duale Ausbildung pulverisieren.“ Wie hat man das zu verstehen?
Mickymaus-Studiengänge sind Studiengänge, die in eine Sackgasse führen und den Absolventen die Zukunft eher verbauen als ihnen Wohlstand und berufliche Sicherheit zu garantieren. Von den aktuell rund 19.000 trifft das auf geschätzte zwei Drittel zu. Vor nicht einmal zehn Jahren waren es noch nicht einmal halb so viel. Was wollen Sie mit Studiengängen wie „Cruise-Management“, „Entrepreneurship“ oder einem Bachelor für „Mundhygiene und Zahnreinigung“ anfangen? Solche spezialisierten Angebote gibt es mittlerweile massenhaft, dabei war es ja eigentlich die Idee des Bachelor, nach amerikanischem Vorbild eine breite Ausbildung zu gewährleisten. Hinzu kommt, dass gerade die Bachelor-Studiengänge ein verschultes Studium mit ständigem Abprüfen auswendig gelernter Power-Point-Foliensätze in nahezu allen Fachbereichen auf den Plan gerufen haben, das eine bis dahin in diesem Ausmaß unbekannte Form des Bulimielernens hervorgebracht hat. Heutzutage absolvieren die meisten ihr Studium nur noch nach dem Motto „Augen zu und durch“. Und was wartet danach auf sie? Viele werden später keine ihrer Ausbildung adäquate Stelle finden, bei weitem nicht das verdienen, was sie sich vorstellen oder was man ihnen versprochen hat, oder im schlimmsten Fall noch einen anderen Studiengang anschließen müssen.
„Auf den Spuren der Streifenhörnchen“, lautet ein anderes Kapital. Was hat es damit auf sich?
Das bezieht sich auf die Zentralabiturprüfung im Leistungskurs Biologie in Nordrhein-Westfalen im Jahr 2009 und zeigt an einem einfachen Beispiel die gesamte Misere. Ein Aufgabenteil beschrieb die Korrelation zwischen dem Wachstum an Eicheln in den Laubwäldern Nordamerikas, der Population an Streifenhörnchen und dem Auftreten von Zecken. Ich habe die Aufgabe Neuntklässlern vorgelegt, wovon die meisten sie ohne größere Probleme bearbeiten konnten, teilweise mit guten Noten. Die Erklärung dafür ist einfach: In dem ausführlichen Begleitmaterial waren nahezu alle geforderten Lösungen zu finden. Derartige Aufgabenstellungen verlangen vom Schüler insbesondere Lesekompetenz, während das früher einmal selbstständig nachzuweisende Fachwissen deutlich in den Hintergrund gedrängt wird oder in einigen Bundesländern nicht einmal mehr abgefragt werden darf. Mittlerweile haben nahezu alle Bundesländer auf diese Aufgabenformate umgestellt. Damit lassen sich leicht die Abiturientenquoten erhöhen.
Und die „Spuren der Streifenhörnchen“ finden sich heute zwischen Hörsaal, Mensa und „Exmatrikulationsbüro“?
So könnte man es sagen. Aber wie eingangs erwähnt, soll es Studienabbrecher demnächst nicht mehr geben. Der rheinland-pfälzische Wissenschaftsminister Konrad Wolf stellte kürzlich wegen des Anstiegs der hohen Abbrecherzahlen einen „Handlungsauftrag an die Politik“ fest. Die Rahmenbedingungen an den Hochschulen müssten so gestaltet werden, „dass es Studierenden möglich ist, ihren Studienverlauf entsprechend ihrer Qualifikationen und Fähigkeiten erfolgreich abzuschließen“. Das spricht Bände: Man macht Deutschlands Schulen und Hochschulen zu Zertifizierungsdiscountern und glaubt, mit einer weiteren Absenkung der Ansprüche auf unterstem Level soziale Gerechtigkeit erzwingen zu können.
Sie haben auf die zunehmende Ökonomisierung der Bildung hingewiesen. Die Schulleistungsstudie PISA war ja eine Erfindung der Organisation für Wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD). Inwieweit hat PISA zu dem von Ihnen beklagten Niveauverfall beigetragen?
PISA war der Bahnbrecher für den heute auf allen Feldern gängigen Vermessungswahn, für den irrwitzigen Glauben, Bildungsleistungen ließen sich in Zahlenkolonnen pressen, um daraus Tabellen nach dem Vorbild der Fußballbundesliga zu machen. Mit dem klassischen Bildungsbegriff, mit Aufklärung, Selbstbestimmung, Mündigkeit und Vernunft hat das nichts mehr gemein. Letztlich wurde mit PISA das bis dahin nicht ökonomisch ausgerichtete deutsche Bildungssystem mit freundlicher Unterstützung der Bildungsreduzierungsorganisation OECD in Schutt und Asche gelegt.
Aber erst seit PISA wird bei uns überhaupt diskutiert, dass Bildungserfolg in Deutschland zuvorderst eine Frage der sozialen Herkunft ist. Wollen Sie in Zeiten zurück, als sogenannte Arbeiterkinder praktisch ohne jede Chance waren, zur Uni zu gehen?
Hat sich durch die Diskussion etwas geändert? Nein. Wenn alle Abitur und akademische Abschlüsse haben, hat in Wahrheit keiner mehr Abitur und einen akademischen Abschluss. Heute schon und künftig immer mehr sind dann wieder Netzwerke und gute Beziehungen der entscheidende Faktor, um Karriere und Geld zu machen. Das haben die Sozialromantiker nicht auf dem Schirm. Worin besteht der Fortschritt, wenn es ein Arbeiterkind an die Uni schafft, um dann oftmals mit einem minderwertigen Bachelor einen Job zu bekommen, für den früher eine einfache Berufsausbildung genügte. Ich überspitze gewiss, aber allen muss klar sein, dass es bald auch hierzulande immer mehr private Schulen und Hochschulen mit exorbitanten Gebühren für die Kinder reicher Eltern und allenfalls die Allerbesten aus ärmeren Schichten geben wird – und dass dies eine Reaktion auf den allgemeinen Niveauverfall des staatlichen Bildungswesens nach angloamerikanischem Vorbild sein wird. Was daran sozial ist, war mir schon immer schleierhaft. Denn das heißt nichts anderes als: Mit der Bildungsexpansion auf Teufel komm raus arbeiten ihre Verfechter gegen die Interessen ihrer eigenen Klientel. (rw)