„Die Module spielen verrückt“20 Jahre Bologna-Prozess
Nicht alle sind zufrieden mit den Modulen – sie spielen verrückt …
Studis Online: Am vergangenen Donnerstag und Freitag tagte in Paris die neunte Bologna-Folgekonferenz, genau dort, wo vor 20 Jahren mit der Sorbonne-Erklärung der Startschuss für die Schaffung eines „europäischen Hochschulraums“ gefallen war. Hatten Sie seinerzeit geahnt, dass das Ganze in erster Linie ein neoliberales Projekt werden soll?
Andreas Keller: Ich sehe den Bologna-Prozess nicht per se als ein neoliberales Projekt. Richtig ist, dass es eine zentrale Zielsetzung der Bologna-Reformen war, den Hochschulstandort Europa im globalen Wettbewerb mit anderen Hochschulregionen, insbesondere in Nordamerika und Südostasien, zu stärken. Ziele wie die europaweite Vergleichbarkeit der Hochschulabschlüsse, einheitliche Qualitätsstandards und die Förderung der Mobilität sollen die Attraktivität des europäischen Hochschulraums und den Wettbewerb steigern, sie liegen aber durchaus im Interesse der Studierenden. Insofern liegt Bologna eine widersprüchliche Agenda zugrunde, was auch Interventionsmöglichkeiten für eine fortschrittliche Bildungspolitik eröffnet.
Aber überwiegen bisher nicht eindeutig die Nachteile – zumindest aus Sicht der Studierenden?
In Deutschland haben die Bundesländer Bologna genutzt, um das Studium zu verkürzen, zu verschulen und zu verdichten – die Module spielen verrückt. Zum Beispiel geht der Hochschulpakt 2020 von einer Übergangsquote von 50 Prozent vom Bachelor- zum Masterstudium aus. Tatsächlich möchten viel mehr Studierende nach dem Bachelor weiterstudieren, zu 70 Prozent und mehr. Die Folge: Es fehlen Masterstudienplätze, vielerorts gibt es Eignungsprüfungen oder einen Numerus Clausus. Fatal ist das für Studierende insbesondere dann, wenn der Bachelor nicht wirklich berufsqualifizierend ist wie im Lehramtsbereich. Ohne Masterplatz stehen sie dann mit einem halbfertigen Studium auf der Straße – und das in Zeiten eines massiven Lehrkräftemangels.
Das Ganze ist ja ein Fall krasser Fehlplanung. Die Leute trauen dem Bachelor, der nach offiziellen Verlautbarungen voll berufsqualifizierend sein soll, nicht über den Weg. Sehen Sie Anzeichen seitens der deutschen Politik, die gemachten Fehler einzugestehen und die Situation zu verbessern? Nach dem Motto: „Wir haben verstanden, wir nehmen die Bedürfnisse und Wünsche der Studierenden ernst.“
Es ist sicher nicht nur eine Fehlplanung, sondern es war beim Start des Bologna-Prozesses vor 20 Jahren erklärte Absicht der Länder, den Bachelor zum Regelabschluss zu machen. Bis heute steht es so in den Strukturvorgaben der Kultusministerkonferenz für Bachelor- und Masterstudiengänge. Die mangelnde Akzeptanz des Bachelor in vielen Branchen, vor allem aber die ungebrochene Nachfrage der Studierenden nach einem Masterstudium wären Anlass genug, diese restriktive Politik zu überwinden. Wir brauchen das Recht auf Masterzugang für alle Bachelorabsolventinnen und -absolventen – das weder durch Note noch durch Quote beschränkt werden darf.
Ist das Problem mit der Masterlücke eigentlich eine deutsche Besonderheit?
Zumindest gibt es Bologna-Unterzeichnerstaaten wie die Niederlande, die Übergangsquoten von 90 Prozent und mehr haben. Die Zweistufigkeit des Studiensystems ist der Markenkern des Bologna-Prozesses. Dass beim Übergang vom Bachelor zum Master Hürden errichtet werden, ist keineswegs zwingend.
Unser Interviewpartner Andreas Keller ist stellvertretender Vorsitzender der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW) und Leiter des Vorstandsbereichs Hochschule und Forschung.
Sie sprachen anfangs von Zielen des Bologna-Prozesses, die auch im Sinne der Studierenden wären. Allerdings fällt schon auf, dass es gerade bei deren Umsetzung erheblich hapert. Wo sehen Sie die größten Defizite?
Vor allem bei einem der zentralen Versprechen: der Mobilität. Diese wurde zwar im europäischen Hochschulraum verbessert, innerhalb Deutschlands sind die Hürden aber größer geworden. Es mag einfacher geworden sein, von Salamanca nach Tartu zu wechseln, wer aber von Potsdam nach Berlin möchte, womöglich von einer Fachhochschule an eine Uni, hat massive Anerkennungs- und Zulassungsprobleme. Das auch, weil in Deutschland Bologna der Türöffner für eine wettbewerbsorientierte Profilierung der Hochschulen war. Man studiert heute nicht mehr einfach Betriebswirtschaftslehre, sondern „Business Administration“, „Finance and Accounting“ oder „International Management“. Jede Hochschule hat einen eigenen, angeblich unverwechselbaren Studiengang im Angebot. Wer aber die Hochschule wechseln möchte, wird häufig nicht zugelassen oder muss Module nachstudieren.
Inzwischen gibt es in Deutschland tausende verschiedene Studienangebote und Sie sagten es bereits: Dieser Wildwuchs ist eine Hinterlassenschaft von Bologna. Vor 1999 konnte man noch zwischen rund 180 Studienfächern auswählen. Grenzt das Versprechen von „Vergleichbarkeit“ angesichts dieser Verhältnisse nicht an Verballhornung?
Gegen die Vielfalt der Studienangebote ist an sich nichts zu sagen. Wir haben eine immer kürzere Halbwertszeit des Wissens. Die Hochschulen bilden heute für Berufe aus, die es noch gar nicht gibt. Die Auffächerung des Studienangebots setzt aber in der Tat die Vergleichbarkeit der Studiengänge voraus, damit die wechselseitige Anerkennung der Abschlüsse und die Mobilität der Studierenden gewährleistet sind. Aus Sicht der GEW ist in dieser Frage der Bund gefordert. Dieser verfügt seit 2006 über die Gesetzgebungskompetenz zur Regelung der Hochschulzulassung und Hochschulabschlüsse. Von dieser Kompetenz sollte er endlich Gebrauch machen und sicherstellen, dass die Vielfalt der Studienangebote nicht auf Kosten der Studierenden geht.
Kommen wir zu den Baustellen im europäischen Maßstab, wozu ja auch die unzureichende Vergleichbarkeit und Anerkennbarkeit von Studienleistungen zwischen den Staaten sowie die Grenzen der Mobilität gehören. Sie selbst waren ja am Ort des Geschehens in Paris. Wollen sich die 48 beteiligten Staaten der drängendsten Probleme annehmen?
Dass bei der Umsetzung des Bologna-Prozesses nicht alles reibungsfrei läuft, haben die Ministerinnen und Minister in Paris durchaus erkannt. Die Umsetzung der Ziele soll künftig besser überwacht werden. Außerdem wurden die soziale Spaltung, der wachsende Populismus und Angriffe auf die akademische Freiheit in Europa als Probleme benannt, denen die Hochschulpolitik künftig entgegenwirken soll. Das ist eine klare Botschaft des Pariser Kommuniqués, das am Freitag verabschiedet wurde.
Aber soll das auch mit konkreten Handlungsmaßnahmen unterlegt werden?
Dazu konnten sich die Ministerinnen und Minister nicht durchringen. Auch wegen der Vorkommnisse in der Türkei und Ungarn, wo es durch die massenhafte Entlassung von Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern bzw. die angedrohte Schließung einer regierungskritischen Universität zu massiven Verletzungen der vielbeschworenen Grundwerte des europäischen Hochschulraums kam. Lediglich im Falle Weißrusslands, das 2016 unter Auflagen dem Bologna-Prozess beitreten konnte, wurde verabredet, die hochschulpolitische Entwicklung weiter zu überwachen. Massive Probleme gibt es in Belarus nach wie vor mit der Freizügigkeit sowie der Mitbestimmung der Studierenden. Es wird sich zeigen, welche kommenden Schritte im Follow-up-Prozess zu Paris vereinbart werden.
Bei welchen Punkten sehen Sie speziell Deutschland in der Bringschuld?
Deutschland ist nach wie vor Europameister in sozialer Auslese. Das zeigen regelmäßig Untersuchungen der Organisation für Wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung OECD oder von Eurostudent. Fast nirgendwo ist der Bildungserfolg so stark von der sozialen Herkunft abhängig wie hierzulande. Wir brauchen daher eine schnelle und wirksame BAföG-Reform und eine bessere individuelle Unterstützung der Studierenden, insbesondere durch die Verbesserung der Betreuungsrelationen. Konkret heißt das, es müssen mehr Lehrende eingestellt werden und zwar auf Dauerstellen. Diese müssen auch besser unterstützt werden, indem man sie unter anderem durch eine angemessene Fort- und Weiterbildung auf Herausforderungen wie Inklusion und Diversität, digitale Bildung und innovative Lehrkonzepte vorbereitet. Auch darauf hat sich die Pariser Konferenz auf Vorschlag der europäischen Bildungsgewerkschaften verständigt.
Welt-Online schrieb ob der bestehenden Defizite nach 20 Jahren Bologna von „Kinderkrankheiten“. Nicht wenige Professoren wünschten sich, die Reform hätte nie stattgefunden – und selbst unter Studenten gebe es einige, die sich vergangene Zeiten zurückwünschten. Wäre womöglich mit einem radikalen Rollback den Interessen der Lehrenden und Lernenden am ehesten gedient?
Diese Auffassung teile ich nicht und ich warne vor einer unheiligen Allianz linker Studierender mit den konservativen Teilen der Professorenschaft. Die Zeit vor Bologna war nicht nur die Zeit einphasiger Studiengänge, die mit Diplom oder Magister abschlossen, sondern auch eine Zeit, in der sich die Hochschulen weder um die Qualität der Lehre scherten noch darum, was ihre Absolventinnen und Absolventen mit ihren Abschlüssen anfangen sollten. Ein Paradies für Abkömmlinge aus gut situierten Akademikerfamilien, wo bereits Mami und Papi am heimischen Frühstückstisch und in der gut sortierten Heimbibliothek für Orientierung in der akademischen Welt sorgen und über ein gut funktionierendes Netzwerk Starthilfe beim Berufseinstieg geben können. Wer als First-Generation-Kid aus bildungsfernen Schichten kam und nach dem Studium auf Broterwerb angewiesen war, kam in der guten alten Zeit vor Bologna häufig unter die Räder. Wir sollten also Bologna nicht abwickeln, sondern durch einen konsequenten Kurswechsel weiterentwickeln. Dazu gehört insbesondere die Stärkung der sozialen Dimension durch eine leistungsfähige Ausbildungsförderung und mehr individuelle Betreuung der Studierenden.
Der Präsident der deutschen Hochschulrektorenkonferenz (HRK), Horst Hippler, hat anlässlich der Tagung Bemerkenswertes geäußert: Es brauche „ein europäisches Bildungsverständnis, das Persönlichkeitsbildung und die Befähigung zu gesellschaftlichem Engagement einbezieht“. Ein Studium solle in die Lage versetzen, „kritisch zu denken und neue Lösungen für die zahlreichen gesellschaftlichen Herausforderungen zu finden“. Dagegen wäre die „Ausrichtung auf die unmittelbare Verwertbarkeit für den Arbeitsmarkt (…) der falsche Weg“. Erstaunen Sie diese Einlassungen?
Einerseits nein, weil der HRK-Chef den Unmut an seiner Basis nicht komplett ignorieren kann. Andererseits sind die Aussagen vor dem Hintergrund bemerkenswert, dass die HRK über Jahrzehnte zumindest mehrheitlich die Wettbewerbsorientierung und Ökonomisierung des Hochschulwesens nicht nur mitgemacht, sondern aktiv befördert hat. Gerade der scheidende Präsident Horst Hippler ist ein exponierter Vertreter dieses Flügels. Dazu passt übrigens auch sei überschwängliches Lob für die Macron-Initiative für „europäische Universitäten“.
Was hat es damit auf sich?
Details sind noch nicht bekannt, aber im Kern geht es um einen europäischen Wettbewerb, an dessen Ende 20 bis 30 Hochschulen oder Hochschulnetzwerke als „europäische Universitäten“ gekürt und gefördert werden sollen. Ich fürchte, dass für diese Idee die deutsche Exzellenzinitiative Pate stand. Ich sehe die Initiative kritisch, weil sie den Grundansatz von Bologna unterminiert, eine gute Qualität, Durchlässigkeit und Mobilität im ganzen europäischen Hochschulraum zu gewährleisten und nicht nur in einem exklusiven Klub von Eliteunis. Wir brauchen aber keine europäische Exzellenzinitiative, sondern einen Kurswechsel in den Bologna-Reformen. (s. dazu auch die Kritik des fzs) (rw)