Von wegen grenzenlosRegierungskonzept zu Internationalisierung
Unser Interviewpartner Kai Gehring ist hochschul- und forschungspolitischer Sprecher der Bundestagsfraktion von Bündnis 90/Die Grünen
Studis Online: Die Bundesregierung hat am vergangenen Mittwoch ihre Strategie zur „Internationalisierung von Bildung, Wissenschaft und Forschung“ beschlossen. Das vom Kabinett verabschiedete Konzept steht unter dem Leitmotiv: „Internationale Kooperation: vernetzt und innovativ“. Sie haben sich als so ziemlich einziger in der Politik zu dem Vorstoß geäußert und zwar recht negativ. Was passt Ihnen nicht daran?
Unser Interviewpartner Kai Gehring meint, der Bologna-Prozess brauche einen neuen Schub und eine stärkere Willkommenskultur für Studierende und Lehrende.
Kai Gehring: Es ist mein Job, Lücken in der Internationalisierungsstrategie kritisch anzusprechen und konzeptionell zu füllen. Einer der wichtigsten Punkte ist der weltweite Schutz der Wissenschaftsfreiheit. Entsprechende Maßnahmen lässt das Regierungskonzept aber fast gänzlich vermissen. Dabei leben wir in einer Zeit wachsender wissenschaftsfeindlicher Tendenzen, vor allem durch erstarkenden Rechtspopulismus. Abschottungspolitik à la Donald Trump und der britische Brexit stellen Freizügigkeit und bisher gepflegte Wissenschaftskooperationen auf eine harte Probe. In zahlreichen Ländern der Welt werden Forschende und Studierende gegängelt, bedroht oder müssen sogar um ihr Leben fürchten.
Kritisches Denken und Hinterfragen sind jedoch konstitutiv für Wissenschaft und Forschung. Staaten, die das unterdrücken, treten Wissenschafts- und Meinungsfreiheit mit Füßen. Diese grundlegenden Werte müssen wir in einer globalen Wissensgesellschaft verteidigen. Mit der Internationalisierungsstrategie hätte die Bundesregierung zeigen können, welches Wertegerüst sie bei der Internationalisierung antreibt, und dabei Wissenschaftsfreiheit in den Mittelpunkt rücken müssen. Stattdessen blitzt das Thema nur kurz im Vorwort auf. Strategie und Handeln brauchen eine deutliche Sprache, um die offene Gesellschaft und moderne Wissensökonomien gegen Anfeindungen zu verteidigen.
Nehmen wir das Beispiel Türkei, wo Präsident Recep Tayyip Erdoğan mit eiserner Hand gegen seine Gegner vorgeht, auch an den Hochschulen. Was soll oder kann die Bundesregierung unternehmen, damit dort in Freiheit und ohne staatliche Gängelung studiert, gelehrt und geforscht werden kann?
Die komplette Bundesregierung muss ebenso wie die Zivilgesellschaft deutlich zu unseren freiheitlichen Werten stehen und das gegenüber Machthabern wie Erdoğan klar vertreten. Eine durchgängige und konsequente Menschenrechtsorientierung aus einem Guss, wie sie gerade heute notwendig wäre, kann ich bei dieser Koalition nicht erkennen. Das liegt auch daran, dass manche Ministerien aneinander vorbeiarbeiten oder teils widersprüchliche Signale aussenden. Besonders bedrohte türkische Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler sollte Deutschland mit offenen Türen und Armen empfangen, damit sie ihre Forschung zeitweise hier fortsetzen können.
Was missfällt Ihnen noch an dem Konzept aus dem Haus von Bundesbildungsministerin Johanna Wanke (CDU)?
Mich stört noch ein zweiter Punkt: In der Strategie wird das Thema internationale Forschungskooperation als eine globale Herausforderung genannt. Die Richtung stimmt rhetorisch, in der Realität ist Wankas High-Tech-Strategie allerdings zu wenig auf sozialökologische Innovationen und nachhaltige Entwicklung ausgerichtet. Wir diskutieren seit Jahren unter den Stichworten „Partizipation“ und „verantwortungsvolle Forschung“, dass sich viel mehr Menschen als bisher mit ihren Erwartungen und Bedürfnissen einbringen können sollen. Dazu aber schweigt die Strategie.
Passend dazu war auch schon die Erstellung der Internationalisierungsstrategie kein Glanzstück öffentlicher Beteiligung. Im Parlament fand dazu keine vorherige Diskussion statt. Die wäre im Lichte aktueller Ereignisse aber dringend nötig gewesen – das müssen wir jetzt nachholen.
Blicken wir auf die hiesigen Hochschulen. Mit „Internationalisierung“ verbinden Deutschlands Studierende mithin nicht das Allerbeste. Die Bologna-Studienstrukturreform steht vor allem für: mehr Stress, mehr Reglementierung, mehr Fremdbestimmung – und damit eher für das Gegenteil von Entfaltungsfreiheit. Würden Sie dem zustimmen?
Der Bologna-Prozess hat die Perspektive auf einen Europäischen Hochschulraum eröffnet und das Studium grundlegend verändert. Auch wenn nach wie vor nicht alle Ziele erreicht sind, sollten weder die internationale Öffnung noch der Bologna-Prozess im Grundsatz infrage gestellt werden. Es muss darum gehen, ihn kontinuierlich zu verbessern. Wenn wir über den nationalen Tellerrand blicken, wurde auf dem Weg zu einem Europäischen Hochschulraum schon viel Positives bewirkt. Auch dank des Erasmus-Austauschprogramms haben Hunderttausende junge Europäerinnen und Europäer Lebenserfahrungen in anderen Staaten gemacht. Damit wachsen das wechselseitige Verständnis füreinander und interkulturelle Kompetenzen. Die Hochschulen haben ihre internationale Vernetzung verstärkt und sich auf eine gemeinsame Qualitätssicherung verständigt. Baustellen gibt es aber wahrlich noch genug, auch was die soziale Dimension der Bologna-Reform angeht.
Unser Interviewpartner Kai Gehring
„Ein Studium sollte mit sozialem Lernen und bürgerschaftlichem Engagement noch besser vereinbar werden.“
Woran denken Sie dabei?
Bologna sollte nicht nur die Förderung der Mobilität und die Sicherung der Beschäftigungsfähigkeit der Studierenden zum Ziel haben. Angesichts des Wandels in Arbeitswelt und Gesellschaft muss die Hochschulbildung dazu befähigen, lebenslang weiter zu lernen, vernetzt und interdisziplinär zu denken und verantwortlich zu handeln. Ein Studium sollte mit sozialem Lernen und bürgerschaftlichem Engagement noch besser vereinbar werden.
Ein echter europäischer Hochschulraum muss mobilitätsfreundlich, studierendengerecht, weltoffen, attraktiv, sozial und leistungsstark sein. In den vergangenen Jahren hat die wirtschaftliche Krise in vielen Bologna-Staaten zu sozialen Problemen geführt, wodurch vielerorts die Finanzierung von Hochschulen und Studierenden gefährdet ist. Auslandserfahrungen und europäische Mobilität dürfen nicht vom Geldbeutel der Eltern abhängen. Deswegen braucht der Bologna-Prozess einen neuen Schub. Als Gastgeberland mit Willkommenskultur für Studierende und Lehrende, aber auch als politische Kraft kann und muss gerade Deutschland den Prozess qualitativ wie sozial weiter voranbringen.
Es war ja gerade eines der großen Versprechen von Bologna, die Auslandsmobilität von Studierenden zu fördern. Inwieweit ist das in Ihren Augen eingelöst?
Generell hat Bologna mehr Mobilität entfacht. In manchen Studiengängen hat eine Verdichtung des Studienablaufs aber leider auch zum Gegenteil geführt. Nach wie vor gilt: Je finanzstärker die Eltern, desto mobiler ihre studierenden Kinder. Diesen Zusammenhang müssen „Erasmus Plus“ und weitere Austauschprogramme durchbrechen. Es muss auch darum gehen, Studieren im In- und Ausland für Studierende mit Kindern familienfreundlicher auszugestalten. Dazu gehören soziale Infrastrukturen wie Kitas und mehr Wohnheimplätze sowie mehr Angebote, die in Teilzeit studiert werden können.
Die Regierung gibt das Ziel aus, dass künftig jeder zweite Absolvent Auslandserfahrungen vorweisen und jeder dritte mindestens drei Monate in der Fremde studiert haben soll. Sehen Sie Ansätze, wie das umzusetzen wäre?
Das Ziel unterstütze ich aus tiefstem Herzen. Um es zu erreichen, müssen Auslandsaufenthalte in jeden Studienplan passen und Ihre Finanzierung darf nicht vom Konto der Eltern abhängen.
Besonders wichtig ist mir: Vom Hochschulzugang bis zum Studienabschluss muss die soziale Vielfalt auf dem Campus erhöht werden. Für alle Studierenden braucht es Chancengleichheit und gute Studienbedingungen – sei es durch Sprachkurse, fachliche Zusatzangebote, Mentoring oder soziale und kulturelle Vernetzungsangebote.
Was halten Sie etwa davon, die Studienzeiten und Prüfungsordnungen flexibler zu gestalten, nach dem Motto: Wer ins Ausland geht, soll auch länger studieren dürfen.
Das wäre eine Möglichkeit. Alle Bachelor-Studiengänge müssen tatsächlich studierbar werden. Dazu gehört, die Studienordnungen von überflüssigem Ballast und zu früh engführender Spezialisierung zu befreien. Zugleich sollten die Hochschulen prüfen, ob ein Studiengang zwingend in sechs Semestern studiert werden soll oder ob nicht sieben oder acht Semester sinnvoller bzw. notwendig sind. Neben fachlichem Lernen muss genügend Raum für Auslandsphasen und zur Persönlichkeitsentwicklung bleiben.
Die Übersetzung von Studienleistungen in Kreditpunkte muss verbessert werden. Es braucht eine faktische Anerkennungsgarantie für im Ausland erworbene Studienleistungen. Auch die Realität an den Hochschulen muss sich wandeln: Betreuung und Studienbedingungen gehören verbessert, damit sich der Studienerfolg erhöht und die Zahl der Studienabbrüche reduziert. Zudem muss für Bachelor-Absolventinnen und -Absolventen, die entsprechende fachliche Zugangsvoraussetzungen erfüllen, ein anschließendes Master-Studium möglich sein.
„Wir wollen 'Brain Circulation' von Talenten, keinen 'Brain Drain'.“
Momentan ist es so, dass sechs von zehn deutschen Forschern, die im Ausland tätig waren, wieder nach Deutschland zurückkehren, vier verschlägt es dauerhaft außer Landes. Die Regierung sieht das als Problem an. Sie auch?
Innovation lebt mehr denn je von der Zusammenarbeit über Grenzen hinweg. Wissenschaft war schon immer international und wir begrüßen den Austausch als sichtbares Zeichen von Interkulturalität. Nichts desto trotz liegt es im originären Interesse einer jeden Wissenschaftseinrichtung, die „besten Köpfe“ zu gewinnen.
Es ist somit auch Aufgabe der Politik, attraktive Bedingungen für Forschung und Lehre zu schaffen – zum Beispiel durch die von uns geforderte bessere Grundfinanzierung der Hochschulen. Wir sind für Austausch statt Abwerbung oder Abschottung. Wir wollen „Brain Circulation“ von Talenten, keinen „Brain Drain“.
Stört es Sie nicht, dass die ganze Strategie der Regierung vor allem unter dem Gesichtspunkt steht, die Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Wirtschaft zu stärken?
Über allem steht die Prämisse, Wissen und Erfahrungen ökonomisch zu verwerten, in Standortkonkurrenz zu anderen Staaten. Und allenfalls nachrangig geht es um Dinge wie Völkerverständigung und kulturellen Austausch …
Wettbewerbsfähigkeit ist ja nichts Böses, solange wir Kooperation großschreiben und anderen Ländern dieselben Entwicklungswege ermöglichen. Gegenüber Schwellen- und Entwicklungsländern haben wir hier eine große Aufgabe. Wettbewerbsfähige Forschung ist das Ergebnis von Ideenreichtum und Kreativität sowie wissenschaftlich herausragender Leistungen. Wissenschaft profitiert ebenso wie die wirtschaftliche Attraktivität unseres Forschungsstandortes von Austausch, Kooperation und Vielfalt. Wir wollen Austausch statt Abwerbung oder Abschottung. Beides wäre Gift sowohl für eine globale Wissensgesellschaft als auch für unsere sehr exportabhängige Ökonomie.
Kommen wir zu den Menschen, die in Deutschland studieren oder es wollen. Haben die es hier so gut, wie die Regierung weismachen will?
Gerade in Zeiten des wachsenden Nationalismus müssen die Kooperationen und der Austausch von Studierenden, Lehrenden und Forschenden ausgebaut werden. Die Austausch- und Stipendienprogramme für Studierende und Wissenschaftler gehören gestärkt. Dabei brauchen gerade Forschende aus Entwicklungs-, Schwellen- und Krisenländern in Deutschland bessere aufenthaltsrechtliche Möglichkeiten. Auf solche dringend notwendigen Verbesserungen kann sich die amtierende Koalition leider nicht einigen. Die deutschen Mittler- und Wissenschaftsorganisationen wie der Deutsche Akademische Austauschdienst (DAAD) leisten dagegen ganz überwiegend hervorragende Arbeit. Sie brauchen mehr Planungssicherheit und Unterstützung.
Die Zahl ausländischer Studenten soll nach dem Strategiepapier von 320.000 im Jahr 2015 auf 350.000 im Jahr 2020 steigen. Kommt es so, wird es in den Hörsälen noch einmal enger …
Internationalisierung und gute Studienbedingungen sind wichtige Ziele der Hochschulentwicklung, die nicht gegeneinander ausgespielt werden sollten. Wir brauchen eine bessere Grundfinanzierung und eine Verstetigung der Pakte zum quantitativen und qualitativen Ausbau der Studienplätze. Dafür setze ich mich ein und das nützt allen Studierenden.
Stichwort „Willkommenskultur“: In Baden-Württemberg ist die Landesregierung unter Führung der Grünen drauf und dran, Studiengebühren für Nicht-EU-Ausländer einzuführen. Sie stellen sich in der Frage gegen Ihre Parteifreunde in Stuttgart. Hat Ihr Widerstand etwas bewirkt? Haben Sie noch Hoffnung, dass Grün-Schwarz von dem Vorhaben abrückt?
Meine Haltung dazu ist klar und entspricht der grünen Programmatik, Studiengebühren abzulehnen. Wir sind in den letzten Jahren bei der Abschaffung von Studiengebühren in verschiedenen Koalitionen sehr erfolgreich gewesen. Ich setze mich dafür ein, dass es so bleibt.
(rw)