Kluge Köpfe für wenig GeldWirtschaft will nachlaufende Studiengebühren
Studis Online: Seit eineinhalb Jahren gibt es in Deutschland keine allgemeinen Studiengebühren mehr. Zum Wintersemester 2014/15 hatte Niedersachsen die Bezahlpflicht wieder abgeschafft. Damit war eine fast zehnjährige Episode zu Ende gegangen, an deren Anfang Niedersachsen und Nordrhein-Westfalen 2006 als erste von zwischenzeitlich sieben Gebührenländern gestanden hatten. Neuerdings melden sich allerdings wieder Stimmen zu Wort, die ein Comeback der Campusmaut fordern. Wie ernst nehmen Sie diese Vorstöße?
Tobias Kaphegyi: Ich nehme das nach wie vor ernst. Bei der Diskussion geht es um die Kosten für den Ausbau tertiärer Bildung in Deutschland. Es besteht ein Kosten-Verteilungskonflikt zwischen den neoliberal armgesparten Bundesländern, der Wirtschaft, – die mehr passgenaue Akademiker möchte, dafür aber nicht mehr bezahlen will –, und der Bevölkerung, von der verlangt wird, sich möglichst gut auszubilden, um ihre Beschäftigungsfähigkeit zu optimieren. So lange der Staat unter dem per Schuldenbremse auferlegten Kürzungsdiktat steht, wird die Forderung nach Studiengebühren immer wieder aufkommen. Spannend ist allerdings die Frage, warum sich Studiengebühren bisher nicht dauerhaft durchsetzen ließen.
Neoliberaler Wunsch: Ist das Angebot an Akademikern groß, können kluge Köpfe günstiger eingekauft werden. Extrakosten übernehmen aber bitte die Studierten.
Sie gehen davon aus, dass die Bundesländer noch auf lange Sicht zu wenig Geld zur Verfügung haben werden, um die Hochschulen auskömmlich zu finanzieren. Was macht Sie da so sicher?
Für eine Momentanalyse reicht ein Blick auf die Datenlage. Heute geben die Länder, selbst in absoluten Zahlen, zum Teil weniger Geld pro Studierendem aus als im Jahr 2000. Und das trotz all des Geredes von der „Bildungsrepublik Deutschland“. Um zu verstehen, worum es bei der ganzen Diskussion um Studiengebühren eigentlich geht, muss man sich zunächst klar machen, welche polit-ökonomischen Entwicklungen für die staatliche Unterfinanzierung verantwortlich sind. Dazu muss ich aber ein wenig ausholen.
Nur zu …
Keynesianismus vs. Neoliberalismus
John Maynard Keynes ging u.a. davon aus, dass der Staat Konjunkturschwankungen ausgleichen solle, bspw. in dem er in Phasen geringer Nachfrage diese durch vermehrte Staatsausgaben und durch expansive Geldpolitik beleben könne. Demgegenüber vertrat Keynes „Gegenspieler“ Friedrich August von Hayek (der von vielen als Vater des Neoliberalismus angesehen wird, auch wenn er selbst sich nie so bezeichnen wollte) die Ansicht, dass Staatsinterventionen abzulehen sind, weil sie die wirtschaftliche Freiheit einschränken.
Die Diskussion um Studiengebühren spielt sich vor einer lange anhaltenden, krisenhaften Entwicklung des Kapitalismus ab. Seit mittlerweile Jahrzehnten schwinden bei rückläufigen Wachstumsraten die Verteilungsspielräume zwischen Kapitaleignern und der Bevölkerung. Die Kapitaleigner haben deshalb schon vor über 40 Jahren gemeinsam mit ihren ideologischen Verbündeten – neoliberalen Ökonomen, Journalisten, Politikern – einen dreifachen Angriff auf den nach dem 2. Weltkrieg gewachsenen Wohlfahrtsstaat und seine Bürger gestartet.
Manche Soziologen, wie der Jenaer Professor Klaus Dörre, bezeichnen diese Attacken unter Rückbezug auf Rosa Luxemburg auch als Landnahme des Wohlfahrtsstaats. Der begann in den 1970er Jahren mit dem Ende der Dominanz des keynesianischen Paradigmas in den Wirtschaftswissenschaften und der Wirtschaftspolitik. Und wahrscheinlich waren die in den 1960er Jahren rückläufigen Profitraten der Auslöser dafür. Kurzum: Die Gewinne gingen zurück, weshalb man sich zur Kompensation daran machte, sozialstaatliche Errungenschaften wieder zu kassieren.
Tobias Kaphegyi
Unser Interviewpartner Tobias Kaphegyi ist Politikwissenschaftler und arbeitet als Lehrbeauftragter an der Dualen Hochschule Baden-Württemberg in Villingen-Schwenningen. Er ist Mitglied der Arbeitsgruppe Alternative Wirtschaftspolitik (Memo-Gruppe), in der linke Ökonomen und Gewerkschafter alternative wirtschaftspolitische Vorschläge und Perspektiven zur „Sicherung sinnvoller Arbeitsplätze“, zur „Verbesserung des Lebensstandards“, zum „Ausbau des Systems der sozialen Sicherheit“ sowie zur „wirksamen Umweltsicherung“ entwickeln.
Kaphegyi ist Verfasser verschiedener Studien zur bildungspolitischen Agenda und zum bildungspolitischen Lobbyismus der Unternehmerverbände und zeichnet in dem alljährlich durch die Memo-Gruppe vorgelegten „Memorandum“ für das Kapitel Bildung mitverantwortlich.
Wie lief das das konkret ab?
Da wäre zuerst die Steuerpolitik: Die Finanzierungsbeiträge des Kapitals am Wohlfahrtsstaat wurden sukzessive zurückgefahren. Man denke nur an die diversen Steuerreformen unter Ex-Kanzler Gerhard Schröder (SPD). Durch diese gehen dem Fiskus bis heute rund 50 Milliarden Euro jährlich verloren. Ein Berater von Ex-US-Präsident Ronald Reagan hat das einmal als „Starving the beast“ bezeichnet – als Aushungern des Wohlfahrtsstaates. Mit der sogenannten Schuldenbremse wurde dieser Angriff noch optimiert.
Zurück blieb ein auf vielen Feldern handlungsunfähiger „Magerstaat“ und die Klagen und Diskussionen über den – eigentlichen ja erwünschten – „Reformstau“ bereiteten den Boden für die Privatisierung ehemals staatlicher Aufgabenbereiche. Bei der Altersvorsorge erleben wir das ja gerade mit Blick auf die private, staatlich geförderte Riester-Rente, von der inzwischen klar ist, dass sie den unteren Einkommensschichten faktisch nichts bringt.
Im Gegenteil: Seit Ihrer Einführung wurden die Ansprüche, die sich im Alter aus der gesetzlichen Rentenversicherung ergeben, durch Wirkung verschiedener Rentenanpassungsformeln deutlich zurückgefahren. Für Sie ist das kein Betriebsunfall?
Dahinter stand und steht politischer Wille. Diese Privatisierungsprozesse sind dann klassischerweise der zweite Teil des dreifachen Angriffs. Es geht dabei um die Übernahme von Geschäftsfeldern, die der neoliberale „Magerstaat“ nicht mehr gewährleisten kann und die den Kapitaleignern neue Profitmöglichkeiten eröffnen. Mit Blick auf das Bildungssystem gehört dazu nicht nur die Bepreisung über Gebühren, sondern auch die Modularisierung von Bildung in handelbare Einheiten, die Zertifizierung dieser Einheiten, die Einrichtung von Marktinformationssystemen und Rankings sowie auch der Verkauf an private Investoren. Gleichzeitig läuft die Gebührenfinanzierung schlicht auf eine Abwälzung von Kosten auf die lohn- und transferabhängige Bevölkerung ab.
Kommen wir zu Teil drei der Landnahme …
Der zielt auf wohlfahrtstaatlich geregelte Arbeitsbedingungen und Löhne. Die Agenda 2010 war in dieser Hinsicht der effektivste Angriff, den die Republik je erlebt hat. Leiharbeit und Hartz IV disziplinieren die Stammbelegschaften und pressen die Menschen in prekäre Arbeit. Der Niedriglohnsektor hat sich derart aufgebläht, dass er heute knapp 40 Prozent der beruflich Ausgebildeten und fast zehn Prozent der Akademiker umfasst. Zugleich hat man den Menschen eingebläut, dass sie in der sogenannten „Wissensgesellschaft“ an ihrem Abstieg ins Prekariat selbst schuld sind und dass ihnen nur immer wieder neu anzueignende Bildungskompetenzen Sicherheit bringen.
Von einer lupenreinen Privatisierung von Bildung kann aber doch in Deutschland nicht die Rede sein. Kitas, Schulen und Hochschulen sind ja nach wie vor ganz überwiegend staatlich organisiert. Widerspricht das nicht Ihrer Beschreibung?
Der neoliberale Angriff auf den Wohlfahrtsstaat kommt nicht überall in derselben Gestalt daher. In ohnehin stark marktgesteuerten liberalen Wohlfahrtsstaaten lassen sich wirklich komplette Privatisierungen von Bildungseinrichtungen beobachten – von der Trägerschaft bis zur Finanzierung. Ein Beispiel wären die Privatunis in den USA.
In den konservativen Wohlfahrtsstaaten, wie beispielsweise Deutschland oder Österreich, herrschen dagegen traditionell korporative Lösungen zwischen Staat und Kapitalseite vor. Dabei ist es gerade im Bildungsbereich schwer, staatliche Politik so zu gestalten, dass sich Profite erwirtschaften lassen. Die vielen, häufig gescheiterten Versuche mit Privatunis in Deutschland sprechen Bände. Über Kooperationen zwischen Staat, Wirtschaft und Kirchen werden häufig nur die Steuerung und Trägerschaft privatisiert, während es bei der öffentlichen Grundfinanzierung bleibt. Oft gibt es aber Versuche, eine sogenannte „Quasi-Marktsteuerung“ zu etablieren, wozu auch die Vorstöße zu Studiengebühren oder Bildungsgutscheinen zählen.
Eine komplette Kommerzialisierung von Bildungseinrichtungen – wie etwa der Schulen – ließe sich hierzulande auch nicht so einfach durchsetzen?
Richtig. Alternativ besteht dafür ein großes Interesse in der inhaltlichen Einflussnahme auf Schulen und Hochschulen. Dabei geht es um die Prägung von Werten und Einstellungen von Schülern und Studierenden, mithin auch um Produktwerbung über Unterrichtsinhalte. Heute gibt es massenhaft Kooperationen zwischen Schulen und Unternehmen bzw. Wirtschaftsverbänden. Die Bertelsmann-Stiftung nimmt über das Selbstevaluierungstool SEIS (Selbstevaluierung in Schulen) Einfluss auf das „Qualitätsmanagement“ der Schulen, wobei damit das Wettbewerbsprinzip bis hinein in die Grundschulen getragen wird. Die Nachhilfeindustrie boomt, Bildungssparmodelle werden gepusht. In den Universitäten bestimmen Konzerne mit dem Instrument der Drittmittel, die inzwischen zu über 25 Prozent zur Hochschulfinanzierung beitragen, über Art und Inhalt von Forschung.
Erleben wir also so etwas wie eine Privatisierung „durch die Hintertür“ oder „auf leisen Sohlen“?
Nachlaufende Studiengebühren
Ein Modell, bei dem während des Studiums keine Gebühren zu zahlen sind, sondern die Gebühren erst nach dem Studium fällig werden. In Hamburg gab es zwischen 2008 und 2012 „nachgelagerte Studiengebühren“. Das „australische Modell“, auf das sich Gebührenfans oft beziehen, sieht für die Rückzahlung eine Kopplung an das erzielte Einkommen vor, so dass man auch von einer Akademikersteuer sprechen kann.
Ja, vieles spielt sich unterhalb des öffentlichen Radars ab. Beispiel Drittmittel: Der größte Anteil sind staatliche Gelder, die etwa über die Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG) vergeben werden. Für den großen Einfluss und die „inhaltliche Hebelwirkung“ sorgen aber die Vergabekriterien der Exzellenzinitiative oder für staatliche Forschungsgelder. Das ist für die Wirtschaft oft günstiger, als sich selbst unternehmerisch einzubringen. Die jetzt wieder geforderten nachlaufenden Studiengebührenmodelle passen ebenfalls besser zum konservativen Wohlfahrtsstaat als die geschassten Gebührenmodelle. Während die finanziellen Risiken beim Staat bleiben, können trotzdem die neoliberale Sozialisation vertieft und eine „Quasi-Marktsteuerung“ etabliert werden.
Demnach geht es hierzulande bei Studiengebühren nicht unmittelbar um die Bedienung von Profitinteressen?
Der Bildungsbereich ist in meinen Augen ein Sonderfall. Die Kapitalseite hat in den zurückliegenden 45 Jahren – gewissermaßen nach dem Trial-and-Error-Prinzip – gelernt, dass einerseits eine Steigerung der Produktivität über Bildung bei möglichst stagnierenden Löhnen sowie andererseits eine umfassende Entstaatlichung des Bildungssektors sich gegenseitig im Wege stehen, vor allem auf den unteren Bildungsstufen.
Durch ein Zuviel an Kommerzialisierung bzw. zu hohe private Bildungskosten etwa durch Studiengebühren schaffen es zu wenige Menschen an die Hochschulen. Im internationalen Maßstab produzierte Deutschland lange Zeit sehr wenige Akademiker, die wegen des geringen Angebots in punkto Bezahlung dann auch sehr teuer waren. Hierbei spielte vor allem die rigide soziale Selektion eine Rolle, die Kindern aus einkommensschwächeren und sogenannten bildungsfernen Haushalten den Weg zum Studium verbaute.
Und das wäre dann auch der eigentliche Grund für den „Hochschulrun“, den wir seit Jahren erleben? Wo es massenhaft Akademiker gibt, sind diese für die Wirtschaft billiger zu haben. Verstehe ich Sie da richtig?
Nehmen wir den sogenannten „Fachkräftemangel“. Unter diesem Schlagwort machen die Arbeitgeberverbände seit längerem Lobbyarbeit für weniger soziale Selektion auf den unteren Bildungsstufen und malen den Teufel an die Wand, von wegen Deutschlands Konkurrenzfähigkeit stehe auf dem Spiel, wenn nicht endlich die Akademikerquote kräftig zulegt. Das hat natürlich den Druck auf die Politik erhöht, die Bildungsausgaben zu erhöhen.
Damit die Regierenden aber nicht auf die Idee kommen, dafür die Unternehmenssteuern anzuheben, wird propagandistisch vorgebaut. Dazu gehört im Schulbereich die unsinnige Rede von der „demografischen Rendite“ und im Hochschulbereich die Forderung nach Studiengebühren mit dem Argument, wegen der gängigen Kita-Gebühren wäre das nur fair und gerecht.
Der Präsident des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW), Marcel Fratzscher, hat jüngst ein „grundlegendes Umdenken in unserer Bildungspolitik“ verlangt, weil das Problem der knappen Kita-Betreuungsplätze und wenigen Ganztagsschulen durch die vielen Migranten noch verschärft würde. In den Medien war dann überall zu lesen, Fratzscher mache sich für Studiengebühren stark, um die sogenannte Flüchtlingskrise zu bewältigen. Ist das in Ihren Augen auch nur ein Vorwand?
Interessant ist, dass Fratzscher nirgendwo mit der Forderung nach Gebühren zitiert wurde. Seine Aussage wurde nur überall mit denen des neuen Chefs des Münchner Ifo-Instituts, Clemens Fuest, verwurstet, der gegen eine „Uni-Ausbildung zum Nulltarif“ wetterte. Fratzscher, der nicht unbedingt als resistent gegenüber neoliberalen Thesen gilt, hat vor kurzem ein Buch veröffentlicht, in dem er explizit die Ungleichheit in Deutschland als ökonomisch schädlich bemängelt und empfiehlt, massiv in Bildung zu investieren, wobei er meistens von frühkindlicher Bildung spricht. Die Einschätzung, ob etwas neoliberal ist oder nicht, kann man heute tatsächlich am vermeintlich fortschrittlich klingenden Ruf nach „mehr Bildung“ festmachen.
Warum „vermeintlich“ fortschrittlich?
Das fragliche Argumentationsmuster hat in der durchneoliberalisierten Sozialdemokratie als „vorsorgender Sozialstaat“ sowie in Angela Merkels „Bildungsrepublik“ längst Kampagnengestalt angenommen. Selbst die Unternehmerverbände plädieren heute dafür, der Staat solle gute Bildung auf den unteren Stufen des Sozialsystems gebührenfrei bereitstellen, damit ein egalitärerer Bildungszugang und damit mehr sogenannte Chancengerechtigkeit – noch so ein Kampfbegriff – möglich werden. Dadurch spare man sich den klassischen Sozialstaat, weil bei höherem Bildungsniveau niemand arm würde. Dahinter steht der mächtige Irrglaube, dass eine Verbesserung des Bildungsniveaus eine Volkswirtschaft automatisch wachsen lässt und damit zusätzliche Jobs entstünden, die die Menschen nach oben bringen.
Warum geht das für Sie nicht auf?
In den vergangenen Jahren ging das Bildungsniveau in Deutschland ständig nach oben. Zum Beispiel haben sich die Studierendenzahlen seit den 1980er Jahren mehr als verdoppelt. Aber: Das Wachstum will nicht richtig mitziehen, das Arbeitsvolumen auch nicht und die Armutsquoten steigen sogar. Entspannung gibt es nur bei den Arbeitslosenzahlen, weil sich die prekarisierte Arbeit und atypische Arbeitsverhältnisse, also Teilzeit, Leiharbeit und Minijobs, immer weiter ausgebreitet haben. Im Moment bedeutet „mehr Bildung“ bloß, dass ich denjenigen überflügeln kann, der weniger Bildung hat. Und so erhöhen sich langsam auch die Armutsgefährdungsquoten derjenigen mit hohen und mittleren Bildungsabschlüssen. Die Armut unter den schlecht Ausgebildeten spitzt sich sogar weiter zu, weil im Rattenrennen um die Jobs nur die „Besten“ reüssieren.
Wie Sie im 2015er „Memorandum“ schreiben, verfolgen nicht alle Vertreter der gesellschaftlichen Eliten dieselben Ziele. Wo liegen die Unterschiede?
Den konservativen Eliten ist die zunehmende Öffnung von Gymnasium und Hochschule ein Dorn im Auge. Sie fürchten um ihre Privilegien. Ausdruck dieser Angst ist beispielsweise das Büchlein des ehemaligen Kulturstaatsministers Julian Nida-Rümelin über den sogenannten Akademisierungswahn. Er plädiert darin für eine stärkere soziale Schließung von Hochschule und Gymnasium, belebt dafür den Mythos von den „praktischen Begabungen“ neu und möchte Hauptschule und duale Ausbildung wieder aufgewertet wissen. Ein Weg, der sich für die Menschen, die ihn gehen müssen – und das wären nicht Rümelin und seine bildungsbürgerlichen Mitstreiter – immer mehr zur Sackgasse entwickelt.
Wie sähe Ihr Rezept aus?
Wollte man wirklich Chancengleichheit und Integration fördern, müsste man zuerst Armut mit ihren psychosozialen Auswirkungen auf die Eltern und die Kinder in den fraglichen Familien unterbinden. Die Soziologie hat längst bewiesen, dass kulturelles Kapital vor allem von den Herkunftsfamilien vermittelt wird und mehr ist als Bildungsgutscheine für Kinder im Hartz IV-Bezug. Die Armutssituation der Eltern torpediert selbst bei solchen mit hohem Bildungsstand die Weitergabe von Bildung an die Kinder. Wer keine Armut haben möchte, der sollte einfach Armut verhindern. Und dabei sollte die Bildungsinfrastruktur auf gar keiner Bildungsstufe durch finanzielle Zugangsbarrieren verbaut sein.
Nötig wäre also deutlich mehr Geld, das sich nur durch eine höhere Unternehmens- und Vermögensbesteuerung generieren ließe. An welche Größenordnung denken Sie?
Nach Schätzungen der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW) bräuchte es für den Wiederaufbau eines vernünftigen Bildungsstaates mehr als 50 Milliarden Euro pro Jahr. Das wäre dann auch das, was uns – in Relation zum Bruttoinlandsprodukt – von annehmbaren und problemlösenden Wohlfahrtstaaten wie den skandinavischen trennt. Es geht um einen anderen Charakter des Wohlfahrtsstaates und seiner Einnahmenbasis. Aber jetzt kommt es: Obwohl die Neoliberalen lauthals nach Bildungsinvestitionen schreien, sind Steuererhöhungen auf Reichtum, Vermögen und Unternehmensgewinne für sie ein absolutes NoGo!
Und deshalb jetzt die alte, neue Idee mit den Studiengebühren? Aber könnten die nicht wiederum Kinder aus weniger betuchten Familien von der Aufnahme eines Studiums abschrecken und damit das Ziel „mehr Bildung“ konterkarieren? Das alles wirkt ein bisschen paradox.
Richtig. Bei strukturell unterfinanzierten Ländern und Kommunen wird das einfach nichts werden mit der Bildungsexpansion für die Armen, erst recht dann nicht, wenn man diese selbst dafür zur Kasse bitten will. Zumal das wenige Geld, das sich mit Studiengebühren einbringen ließe – gerade wenn es um „nachlaufende Gebühren“ geht – bei weitem nicht reicht, um etwa die Misere in der frühkindlichen Bildung zu beheben. Allenfalls müsste dafür wieder irgendwo bei der Mehrheitsbevölkerung gekürzt werden, zum Beispiel über eine Mehrwertsteuererhöhung. Dann macht man aber gerade die Menschen, die man durch Bildung angeblich vor der Armut bewahren will, noch ärmer, als sie schon sind. Das ganze Konzept geht einfach nicht auf.
Nun geht die Argumentation für nachlaufende Studiengebühren ja in etwa so: Wer es an die Uni und seinen Abschluss schafft, verdient nachher so gut, dass er seine Schulden locker begleichen kann. Für die Befürworter sind Gebühren deshalb „nicht abschreckend“ und zugleich „sozial verträglich“. Wie lautet Ihr Einwand?
Der Wohlfahrtsstaat wird zusammengestrichen, die Reallöhne stagnieren und die Profite steigen. In der Folge sollen die Bürger privat für die Rente vorsorgen, mehr Sozialbeiträge bezahlen und sich für ihre Bildung verschulden? Was ist daran sozial verträglich, für etwas zu bezahlen, das vorher über ein progressives Steuersystem finanziert wurde? Dass für etwas nachträglich abkassiert wird, macht es noch lange nicht sozial verträglich. Wenn der Staat sich für Zukunftsinvestitionen verschuldet, ist die Empörung riesengroß und es werden Dinge wie die „schwarze Null“ und „Schuldenbremsen“ ausgeheckt. Aber für Privathaushalte gilt das nicht, die nötigt man in die Verschuldung – und verkauft das noch als tolle Sache. Daran merkt man, wie die neoliberale Propaganda alles beliebig verdreht.
Wie begegnen Sie der Behauptung, nachlaufende Gebühren würden nicht von der Aufnahme eines Studiums abschrecken? Genau mit diesem Argument warb beispielweise das Wirtschaftsmagazin „brand eins“ in einer Beilage zu seinem März-Heft für das sogenannte australische Modell.
Von den neoliberalen Wissenschaftsideologen vom Institut der deutschen Wirtschaft in Köln (IW) und anderen wird immer wieder auf eine HIS-Studie (damals Hochschul-Informations-System GmbH) von 2005 verwiesen, in der es heißt, die Studierendenbeteiligung von Menschen aus armen Familien hätte sich durch die Einführung nachlaufender Gebühren nicht verschlechtert. Die Untersuchung fasst dabei die Ergebnisse diverser australischer Untersuchungen zusammen. Aus denen geht allerdings hervor, dass sich der Anteil männlicher Studierender aus „der unteren sozialen Statusgruppe“ in den Fächergruppen mit den höchsten neu eingeführten Gebühren um rund 38 Prozent verringert hätte. Damit ist die These einer fehlenden Abschreckungswirkung eindrucksvoll widerlegt.
Immerhin soll sich seit Einführung des Modells im Jahr 1989 die Zahl der Studierenden Down Under verdoppelt haben. Selbst die schrittweise Erhöhung der Gebühren hat die Entwicklung wohl nicht ausgebremst.
Die Bildungsbeteiligung von Menschen aus ärmeren Familien war vor der Einführung von nachlaufenden Gebühren in Australien schon katastrophal niedrig und danach wurde es nicht besser. Da sind sich alle Studien einig. Der Run auf die Hochschulen, der ja auch bei uns stattfindet, geht zum weit überwiegenden Teil von Kindern aus den mittleren und oberen Bevölkerungsschichten aus, und zu einem sehr viel geringeren Anteil von Kindern aus den unteren Schichten. Wenn bei uns noch Studiengebühren dazu kämen – ob sofort erhoben oder nachlaufend – dann würde das die Sache bestimmt nicht besser machen. (rw)
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