Mangelverwaltung trotz Riesennachfrage14 Wartesemester für Medizinanwärter
Studis Online: Wer keine absolute Spitzennote im Abitur mit 1,0 und knapp darüber hat und Humanmedizin studieren will, muss inzwischen mitunter sieben Jahre lang warten, bis er endlich zum Zug kommt. Wie die Stiftung für Hochschulzulassung in der Vorwoche bekanntgab, wurde mit aktuell 14 fälligen Wartesemestern ein neuer historischer Höchststand erreicht. Wie konnte es soweit kommen?
Unser Interviewpartner Wilhelm Achelpöhler ist Fachanwalt für Verwaltungsrecht und Spezialist für Hochschulrecht.
Wilhelm Achelpöhler: Das liegt vor allen Dingen daran, dass es in diesem Bereich ganz erheblich an Studienplätzen mangelt. Mittlerweile gibt es in der Humanmedizin in Gesamtdeutschland weniger Kapazitäten als in den 1990er Jahren auf dem Gebiet der alten Bundesrepublik. Zugleich nimmt aber die Nachfrage nach Studienplätzen kontinuierlich zu und das mit gutem Grund. Wegen der notwendigen Umsetzung der europarechtlichen Vorgaben bei der Arbeitszeit von Ärzten müssten eigentlich haufenweise neue Ärztinnen und Ärzte in den Krankenhäusern in Dienst gestellt werden ...
… Hintergrund ist ein Urteil des Europäischen Gerichtshof (EuGH) aus dem Jahr 2000, wonach Bereitschaftsdienste als reguläre Arbeitszeit zu gelten haben.
Richtig. Faktisch verlangen die Bestimmungen, dass das, was früher zwei Mediziner an Arbeit zu leisten hatten, jetzt von dreien zu bewältigen ist. Zugleich geht der Trend an den Kliniken immer mehr zu Teilzeitarbeitsverhältnissen, wodurch der Bedarf an Nachwuchskräften noch einmal größer wird. Die Krux an der Sache ist nur: Obwohl der Markt schier nach mehr Personal schreit, verlassen immer weniger ausgebildete Mediziner die Hochschulen.
Dazu passt auch, dass auf dem Land reihenweise Praxen dicht machen, weil sich niemand findet, der den Laden übernimmt. Auch da täte Abhilfe not, oder?
Gäbe es mehr ausgebildete Ärztinnen und Ärzte, hätten wir sicherlich auch mehr von diesen auf dem Land.
Wer ist schuld an der Misere? Der Bund, die Länder, die Hochschulen?
In erster Linie stehen natürlich die Bundesländer in der Verantwortung. Sie wären gefordert, die Kapazitäten für eine qualifizierte Medizinerausbildung massiv auszubauen. Allerdings passiert praktisch nichts dergleichen, weil die nötigen Mittel nicht bereitgestellt werden. Wir haben inzwischen die groteske Situation, dass Mediziner aus Entwicklungsländern in Deutschland angeworben werden, weil der hiesige Arbeitsmarkt nichts hergibt. Der reiche deutsche Staat spart sich auf diesem Wege die Medizinerausbildung.
Es gibt einige Bundesländer, wie beispielsweise Sachsen und Sachsen-Anhalt oder in der Vergangenheit auch Nordrhein-Westfalen, die die Kapazitäten in der Medizin deutlich abgebaut haben.
Das heißt, es geht einmal mehr darum, die Kosten zu drücken?
Das zuallererst, aber nicht nur. Denn selbst dort, wo Geld in die Hand genommen wird, geschieht das oft nicht optimal. Nehmen wir zum Beispiel das klinische Studium in zweiten Studienabschnitt. Hier hapert es gar nicht mal daran, dass es zu wenige Professoren geben würde. Engpässe ergeben sich vielmehr durch die fehlenden Kooperationen zwischen den Unikliniken und anderen Krankenhäusern, um Studierende direkt am Patienten auszubilden. Würde man hier besser zusammenarbeiten, hätten wir automatisch deutlich mehr Studienplätze. Stattdessen erlebt man Dinge wie die, dass eine deutsche Klinik eine Partnerschaft mit einer ausländischen Universität unterhält und die dortigen Studierenden, die meist aus Deutschland stammen, hierzulande eine klinische Ausbildung erhalten, für die sie viel Geld bezahlen müssen.
Haben Sie dafür ein Beispiel parat?
Das Evangelische Krankenhaus Bielefeld kooperiert mit der Universität Pécs in Ungarn. An der Klinik werden also nicht Studierende der Uni Münster oder der Uni Bochum ausgebildet, sondern solche aus Pécs, die freilich auch aus Deutschland kommen. Allerdings tun sie das nicht kostenlos – wie in Münster oder Bochum –, sondern müssen dafür 1.000 Euro an Studiengebühren pro Semester hinlegen. Ein anderer Fall: In Hamburg wurden die städtischen Kliniken zum Teil privatisiert und die neuen Eigentümer gingen eine Partnerschaft mit der Semmelweis-Universität in Budapest ein. Jetzt kostet die Ausbildung dort 7.500 Euro je Semester.
Was erleben wir also? Erstens: Privatisierung des Krankenhaussektors. Zweitens: Privatisierung der Medizinerausbildung. Und drittens die Folge: Professoren der staatlichen Hochschulen können ihrer Lehrverpflichtung gar nicht nachkommen, weil es zu wenige verfügbare Patienten gibt, an denen sich lernen ließe.
Erik Bodendieck, Präsident der Sächsischen Landesärztekammer, hat dieser Tage gefordert, die Zahl der Studienplätze in der Humanmedizin um mindestens zehn Prozent zu erhöhen. Wäre das genug?
Das wäre angesichts der Lage auf alle Fälle ein guter Anfang, aber eben bei weitem nicht ausreichend, um die Nachfrage zu bedienen, geschweige denn den Bedarf zu decken. Allerdings fehlt es selbst für diesen ersten Schritt aktuell am politischen Willen. Für Sachsen wünschte man sich ja schon, dass dort wenigstens der Abbau an Ausbildungskapazitäten beendet wird. Wobei sich auch dort, etwa für die Zahnmedizin in Dresden und Leipzig, sagen lässt: Hätte man dort einfach mehr Behandlungsstühle, ließen sich auf einen Schlag viel mehr Zahnärzte ausbilden.
Mir fällt noch ein anderer Lösungsansatz ein: Hunderte Studienplätze ließen sich auch dadurch schaffen, dass weniger Stellen für wissenschaftliche Mitarbeiter befristet werden, weil Mitarbeiter auf Zeit eine geringere Lehrverpflichtung haben. Das kostet keinen Cent, aber bedeutete natürlich einen Abschied von neoliberaler Deregulierung.
„Natürlich muss es auch darum gehen, den bestehenden Mangel gerechter zu verteilen“
Zurück zum Problem der langen Wartezeiten. Nur jeder fünfte Studienplatz in der Humanmedizin wird über Wartesemester vergeben. Ein Fünftel wird anhand der Abiturnote ausgewählt und die übrigen 60 Prozent der Erstsemester durchlaufen hochschuleigene Auswahlverfahren. Müsste nicht auch bei der Methodik der Studienplatzvergabe angesetzt werden?
„Mit aktuell 14 Semestern wird mittlerweile sogar die Dauer eines Medizinstudiums deutlich überschritten. Die Regelstudienzeit liegt derzeit bei etwas mehr als zwölf Semestern. Man muss also länger warten, als man später studiert.“
Natürlich muss es auch darum gehen, den bestehenden Mangel gerechter zu verteilen. Dazu müssten vor allem diejenigen besser gestellt werden, die tatsächlich auf einen Studienplatz gewartet haben. „Wartezeit“ nach der geltenden Rechtslage bemisst sich ja nur daran, wie viel Zeit nach dem Abiturabschluss verstrichen ist. Wer also nach seiner Banklehre mit 30 Jahren plötzlich die Idee hat, seinem Leben eine neue Wendung zu geben und Arzt zu werden, der bekommt sofort einen Studienplatz und sticht denjenigen aus, der sich jahrelang immer wieder erfolglos beworben hat.
Außerdem wird der Abiturnote eine viel zu große Bedeutung zugestanden. Dagegen sprechen generelle Vorbehalte gegen Zensuren und insbesondere der Umstand, dass das Notenniveau von Bundesland zu Bundesland sehr unterschiedlich ausfällt. Über eine „gute Note“ entscheidet mithin auch der Wohnort. Bei der Auswahl nach der Abiturbestennote wird das dadurch berücksichtigt, dass zuerst die Studienplätze auf die Bundesländer verteilt werden, so dass der Schüler aus Niedersachsen nicht mit dem aus Thüringen konkurriert. Beim Auswahlverfahren der Hochschulen werden die deutlichen Notenunterschiede zwischen den Bundesländern aber nicht berücksichtigt und zwar auch dann nicht, wenn die Studienplätze wie in der Abiturbestenquote nur nach der Note vergeben werden. Hier werden aber dreimal so viele Studienplätze wie in der Abiturbestenquote vergeben! Obwohl der Gesetzgeber also erkennt, dass die Abiturnoten zwischen Ländern stark differieren, werden diese Unterschiede nur bei der Vergabe von 20 Prozent der Studienplätze berücksichtigt, beim Auswahlverfahren der Hochschulen aber nicht. Da werden aber 60 Prozent der Plätze vergeben. Daneben sollten andere Kriterien stärker betont werden, wie zum Beispiel eine Ausbildung zum Rettungsassistent.
Das Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe befasst sich derzeit mit der Frage, ob mit den langen Wartezeiten gegen Grundrechte verstoßen wird. Welche wären das?
Da ist einmal das Recht auf freie Berufswahl aus Artikel 12 Grundgesetz. Hier steht zwischen Wunsch und Verwirklichung der Engpass der Ausbildung. Das begründet einen Anspruch darauf, dass wenigstens der Mangel an Kapazitäten nach sachgerechten Kriterien verteilt wird. Zudem müssen die Verfassungsrichter klären, ob mit ungebührend langen Wartezeiten nicht der allgemeine Gleichheitsgrundsatz verletzt wird. Es geht hier ja um eine ganz brutale Entscheidung, bei dem der eine alles und der andere nichts bekommt.
„Ob man ein Medizinstudium aufnehmen kann, ist längst zu einer Frage der sozialen Herkunft geworden"
Das Verwaltungsgericht Gelsenkirchen hat bereits im Sinne eines Ihrer Mandanten entschieden und den Fall nach Karlsruhe weiterverwiesen. Dazu kommen weitere ähnlich gelagerte Fälle, die bis zu einer Entscheidung des höchsten deutschen Gerichts ausgesetzt wurden. Was ist der Kern der juristischen Auseinandersetzung?
Eigentlich hat die Wartezeitzulassung die Aufgabe, die Unverträglichkeiten, die es bei der Auswahl nach Abiturnote gibt, zu kompensieren. Nach der Rechtsprechung des Verfassungsgerichts muss nämlich jeder Abiturient die Chance auf einen Studienplatz haben. Das setzt aber voraus, dass man sich eine solche Wartezeit auch leisten kann. Um eine Lücke von sieben Jahren zu überbrücken, muss man schon ziemlich gut betucht sein. Ob man ein Medizinstudium aufnehmen kann, ist also längst zu einer Frage der sozialen Herkunft geworden. Das haben wir vor dem Gelsenkirchener Verwaltungsgericht vorgetragen und genau so haben es die Richter auch übernommen.
Bleibt die Frage, welche Wartezeit nicht sozial selektiv wirkt? Als Obergrenze steht die Regelstudienzeit zur Debatte.
Legt man die bisherige Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zugrunde, dann müsste die Länge eines normalen Studiums die Grenze bilden. Heute wären das bei einem Bachelor-Studium sechs Semester. Mit aktuell 14 Semestern wird mittlerweile sogar die Dauer eines Medizinstudiums deutlich überschritten. Die Regelstudienzeit liegt derzeit bei etwas mehr als zwölf Semestern. Man muss also länger warten, als man später studiert.
Karlsruhe wird voraussichtlich noch in diesem Jahr in der Frage entscheiden. Was rechnen Sie sich aus?
Die Chancen stehen in meinen Augen gut. Allerdings haben sich die Zeiten seit dem wegweisenden Karlsruher Numerus-Clausus-Urteil von 1972 stark gewandelt. Heutzutage wird jungen Menschen, die einen Ausbildungsplatz nicht annehmen, zur Strafe mitunter das Lebensnotwendige nach Hartz-IV gestrichen – und das ist politisch ausdrücklich so gewollt. In den 1970er Jahren hatte die Freiheit der Berufswahl dagegen einen ganz anderen Stellenwert, es ging dabei um Dinge wie Selbst- und Persönlichkeitsverwirklichung. Es bleibt deshalb abzuwarten, ob der Zeitgeist von damals, der durch das NC-Urteil und die folgenden Entscheidungen zum Ausdruck kam, bei den Richtern auch heute noch handlungsweisend ist.
Was raten Sie Betroffenen?
Es wäre fahrlässig, auf eine Zulassung über die Wartezeit zu setzen. Dieses System kann und muss eigentlich bald geändert werden. Da bleiben eigentlich dann nur zwei Wege: Klagen oder ins Ausland.
Würde eine Entscheidung nur für den Fall des Medizinstudiums gelten oder generell alle Studiengänge betreffen, also auch die örtlich zulassungsbeschränkten?
Der getroffene Beschluss hätte gewiss Gültigkeit für alle Studiengänge. Das Problem der örtlichen Zugangshürden ist allerdings nicht ganz so gravierend wie im Bereich der Human-, Tier- und Zahnmedizin sowie der Pharmazie mit dem flächendeckenden NC. Natürlich gibt es zum Teil sehr restriktive Regelungen und an manchen Hochschulen skandalös lange Wartezeiten. Aber das wird ja immerhin dadurch kompensiert, dass man an anderen Unis eine Chance hat. Trotzdem, selbst in Fächern wie „Soziale Arbeit“ muss heute geklagt werden.
„Früher war so eine Note ein Zeichen des Mangels, heute soll sie ein Beweis der Exzellenz des Studiengangs sein"
Nach einer aktuellen Studie sind derzeit vier von zehn Studiengängen mit einem NC versperrt.
Vor allem muss man sehen, was da zulassungsfrei ist. Statt „irgendwas mit Medien“ muss man dann halt „irgendwas mit Gott“ studieren. Zu allem Überfluss werden dann auch noch in Bereichen, wo eigentlich gar kein Mangel besteht, trotzdem Grenzen eingezogen. Bei immer mehr Master-Studiengängen heißt es zwar, man hätte eigentlich Studienplätze für alle, man nehme aber nur Studenten mit der Note 2,5 und besser. Das ist ein künstlicher Numerus Clausus. Früher war so eine Note ein Zeichen des Mangels, heute soll sie ein Beweis der Exzellenz des Studiengangs sein. Auf der Strecke bleiben dann Studierende, die den Master dringend brauchen, um Lehrer, Psychologie oder Chemiker zu werden. Oder manche Hochschulen verzichten gleich ganz auf eine Wartezeitzulassung und andere halten die Quoten so klein, dass 15 und mehr Semester ins Land gehen, bis man seinen Wunschstudiengang ergattert.
Sie werden auch in solchen Fällen juristisch aktiv?
Aber klar. Als ich studiert habe, war der Regelabschluss in Chemie die Promotion. Heutzutage kann wegen der aufgebauten Hürden längst nicht jeder einen Master-Abschluss machen. Dabei kann man als Bachelor-Absolvent weniger als chemisch-technischer Assistent. Genauso ist ein Bachelor im Lehramt oder Psychologie auf dem Arbeitsmarkt praktisch wertlos und wer trotzdem etwas findet, wird entsprechend bezahlt. Weil die Leute das wissen und es sich nicht bieten lassen, geringqualifiziert aussortiert zu werden, liegen die Übergangsquoten zwischen Bachelor und Master heute insgesamt bei über 70 Prozent. Politisch gewollt waren einmal maximal 50 Prozent.
(rw)