Aufstand wider die MenschenverwertungKampagne „Lernfabriken …meutern!“
Lernfabriken meutern?
Studis Online: Am Mittwoch haben in Hannover Studierende gegen Leistungsdruck, soziale Ausgrenzung und undemokratische Verhältnisse im deutschen Bildungssystem protestiert. Ihr Motto „Lernfabriken …meutern!“ ist zugleich der Name einer aktuellen bundesweiten Kampagne. Laut einem Pressebericht waren in der niedersächsischen Landeshauptstadt gerade einmal 100 Demonstranten unterwegs. Für eine echte Meuterei bräuchte es deutlich mehr, oder?
Sandro Philippi: Ja, absolut. Die überschaubare Teilnehmerzahl liegt darin begründet, dass dies eine Auftaktveranstaltung war. Es war nicht richtig und geradezu verwirrend, diese Demo als bundesweite Veranstaltung anzukündigen. Das basierte wohl auf einem kleinen Missverständnis innerhalb der Öffentlichkeits-AG der Kampagne. Das Bündnis ist tatsächlich dezentral angelegt und entsprechend hatte die Demo in Hannover eher lokale und regionale Bezüge. Im Zentrum standen die niedersächsischen Verhältnisse an Schulen und Hochschulen. Dass dafür nicht Leute aus Bayern, Baden-Württemberg oder Österreich vorbeischauen, war von vornherein klar.
Aber Ihr Anliegen ist schon eines von bundesweiter Relevanz?
Unser Interviewpartner Sandro Philippi ist Vorstandsmitglied beim freien zusammenschluss für studentInnenschaften (fzs), dem bundesweiten Dachverband von Studierendenvertretungen, und engagiert sich in der Kampagne „Lernfabriken …meutern!“.
Nicht nur das. Wenn man so will, richtet sich unser Protest gegen alles, was in unter den Vorzeichen eines marktwirtschaftlich organisierten Bildungssystems schiefläuft. So gesehen, lässt sich unsere Kritik in vielen Fällen auch auf die Bildungssysteme anderer Länder anwenden. Gegenwärtig machen ja ganz viele Staaten Süd-, Mittel- und Osteuropas ähnliche neoliberale Reformen durch. Nicht zufällig arbeiten wir deshalb momentan sehr stark mit Leuten aus Wien zusammen. Dort haben Schüler*innen, Student*inn*en und Beschäftigte – zwar mit graduellen Unterschieden – unter praktisch identischen Problemen zu leiden, wie ihre Kolleg*inn*en in Deutschland, Spanien, Griechenland und anderswo. Von daher ist unser Ansatz international.
Gemäß Selbstdarstellung wendet sich Ihre Kampagne gegen eine ganze Menge: Turboabitur, Notenwahn, Regelstudienzeit, Gebühren, zu große Klassen, zunehmende Wirtschaftsnähe, Unterfinanzierung. Wäre weniger nicht vielleicht mehr?
Bei unseren lokalen Aktionen gehen wir ganz konkret auf die lokalen Bezüge und Probleme ein, lassen dabei das Große und Ganze aber nicht aus den Augen. Es gibt ein paar wenige zentrale Kernthemen, ob und wie sehr darauf eingegangen wird, bleibt den Gruppen vor Ort überlassen.
Welche Punkte wären das?
Erstens das, was wir soziale Ausschlüsse nennen, also die Tendenz, wachsende Teile der Bevölkerung von Bildung auszuschließen, sei es durch das Turboabitur oder Kita- und Studiengebühren. Bei uns ist es beispielsweise Konsens, die die Schulzeitverkürzung abzulehnen. Aber deshalb muss das Turboabi nicht überall, wo man in Aktion tritt, zum Thema gemacht werden.
Zweitens: Die undemokratischen Strukturen an den Hochschulen, also die mangelnden Mitbestimmungsmöglichkeiten von Studierenden. Auch daraus ergeben sich verschiedene Lösungsansätze, etwa die Forderung nach der Viertelparität in den Gremien oder die Abschaffung der Hochschulräte, in denen Industrielobbyisten sitzen. Andere denken vielleicht in größeren historischen Schritten und sagen, nach der Überwindung des Kapitalismus würden die Hochschulen auf einem viel höheren Level demokratisiert.
Drittens: Die Unterfinanzierung des Bildungssystems. Es wird viel zu wenig Geld in Kitas, Schulen und Hochschulen investiert, um dem Anspruch „Bildung für alle“ gerecht zu werden. Jeder einzelne muss die Gelegenheit erhalten, sich frei zu entfalten und sich zu einem selbstbestimmten Individuum zu entwickeln. Gleichzeitig muss jedem ein Höchstmaß an gesellschaftlicher Teilhabe ermöglicht werden.
Viertens wenden wir uns gegen prekäre Beschäftigungsverhältnisse in den Bildungseinrichtungen. An den Hochschulen muss der Befristungswahn ein Ende haben. Erzieher*innen und Lehrer*inn*en müssen besser bezahlt werden. Kitas, Schulen und Hochschulen müssen personell vier besser ausgestattet werden.
Fünftens: Wir wollen keine Rüstungsforschung an den Hochschulen.
Wie anschlussfähig sind diese Themen in der Studierendenschaft?
Es ist nie so, dass auf einmal alle Studierenden ein politisches Thema anpacken. Bis eine Debatte von der Mehrzahl wahrgenommen und mitgestaltet wird, dauert es immer eine gewisse Zeit. In einer Welt, in der alles zum Konsumobjekt degradiert wird, ist auch Werbung omnipräsent. Daneben mit einem inhaltlichen Anliegen wahrgenommen zu werden, das keine kurzweilige, stumpfe Vergnügtheit verspricht, ist gar nicht so leicht. Um an die Menschen ranzukommen, muss man deshalb wirklich, also leibhaftig an sie herantreten. Ich kann mit zehn Mitstreitern in einer Schule oder einem Fachbereich für eine Demo mobilisieren. Aber ich kann nicht eine ganze Hochschule, geschweige denn eine ganze Stadt zusammentrommeln. Es kostet einfach viel Zeit und Ausdauer, bis man eine größere Menge an Menschen erreicht und die sich dann auch politisch organisieren. Wir stehen mit unserer Kampagne noch am Anfang. Bis mehr daraus wird, werden noch Monate vergehen. Aber das ist uns bewusst und entmutigt uns nicht.
Im Sommer 2009 waren im Rahmen des „bundesweiten Bildungsstreiks“ an einem Tag 230.000 Schüler und Studierende gegen die Bildungsmisere auf die Straße gegangen. Warum ist das heute schwerlich denkbar? Haben Studierende einfach zu wenig mit Politik am Hut oder fehlt ihnen einfach die Zeit, weil der Leistungsdruck im Studium so hoch ist?
Ich glaube schon, dass man Studierende auch heute noch für Politik auf die Straße bringen kann, zumal es ja um ihre eigenen Interessen geht. Ich glaube sogar, dass man mehr von ihnen erreichen kann, wenn man Zusammenhänge aufzeigt und nicht nur brüllt: Der Bachelor oder das Turboabi sind Mist. Man muss deutlich machen, dass und wie beides zusammengehört, dass dahinter ein Gesellschaftsentwurf steht, der Menschen allein auf ihre ökonomische Verwertbarkeit reduziert.
Haben Sie keine Sorge, dass man mit derlei Überlegungen Studierende überfordern könnte und man Ihnen den Stempel „hoffnungsloser Weltverbesserer“ verpasst?
Und wenn das so ist, halte ich deswegen nicht mit meiner Meinung hinterm Berg. Wenn Geflüchtete in Deutschland nicht studieren dürfen, dann steht dahinter eine Ideologie, nämlich Rassismus. Und wenn nur jede fünfte Professur von einer Frau besetzt wird, dann hat das selbstverständlich etwas mit dem Patriarchat zu tun. Das sind große Begriffe, die aber ihre Berechtigung haben und daher thematisiert werden müssen. Doch sie werden sicherlich nicht als erste erwähnt, wenn wir konkrete Ausgrenzungs-, Leid- und Ungerechtigkeitserfahrungen ansprechen.
Wie stark ist die Kampagne „Lernfabriken …meutern!“ konkret?
Es gibt Aktive in Niedersachsen, Göttingen, Hildesheim, Hannover, Vechta, Oldenburg, Bremen, Berlin, Hamburg, Freiburg, Konstanz, Augsburg, Regensburg, Passau, Magdeburg, Regensburg, Marburg und Frankfurt (Main). In Frankfurt ist man schon so weit, dass man relativ schnell 200 Leute für eine Aktion oder einen Streik aktivieren kann. Das liegt daran, dass dort schon länger Basisarbeit geleistet wird und man sich zunächst nicht mit Vernetzung befasst hat.
Sprechen Sie nur von den Hochschulen …
Zumindest in Niedersachsen und NRW wollen die Schülervertretungen unter dem Label arbeiten. Wir stehen sowohl mit den Landesschülervertretungen, wie auch mit aktiven Bezirksschülervertretungen, etwa aus Essen, Dortmund oder Düsseldorf, in Kontakt. Auch in Rheinland-Pfalz schmieden die Schüler bereits subversive Pläne. Ich bin zuversichtlich, dass noch viele weitere Schülergruppen aus anderen Ländern hinzukommen werden.
Wir sprachen über den „bundesweiten Bildungsstreik“. Schreiben Sie sich auf die Fahnen, die Bewegung wiederzubeleben. Entsprechende Versuche waren in den Vorjahren ja doch ziemlich kläglich gescheitert ...
Das lag aus meiner Sicht daran, dass die Forderungen zu kurz griffen und zu sehr auf hochschulpolitische Aspekte zugespitzt waren. Für weitergehende Gesellschaftskritik war praktisch kein Raum. Ich halte es für nötig, sich inhaltlich breiter aufzustellen und Hochschule und Schule in einen Bezug zu setzen mit der allgemeinen Kürzungs- und Verarmungspolitik im Sozial- und Kulturbereich und dem anhaltenden Trend hin zu immer mehr Privatisierung, Deregulierung und Entstaatlichung. Es ist unabdingbar, die Missstände im Bildungswesen vor dem Hintergrund der Funktionsweise dieser Gesellschaft zu betrachten. Die Ausschlüsse im Bildungssystem reproduzieren soziale Herrschaftsverhältnisse, sie hängen mit Ideologien zusammen, die wir kritisieren müssen.
Letztlich wollen wir soziale Kämpfe zusammenführen und bündeln. Daher haben wir schon bei den letzten Aktionen unsere Solidarität mit den Streiks der Lokführergewerkschaft GDL oder im Sozial- und Erziehungsdienst bekundet.
Also kein aufgewärmter „Bildungsstreik“ …
Nein, wir wollen wirklich kein Bildungsstreik 2.0 sein, sondern etwas Neues. Vor allem wollen wir dauerhafte politische Organisationsmöglichkeiten schaffen. So schnell wird man uns nicht wieder los. (rw)