15 Jahre Bologna-ProzessNichts für Akademiker?
Im Studium herrschen Verschulung und Prüfungsstress und von der verheißenen Auslandsmobilität können viele nur träumen.
Für die Gewerkschaft GEW besteht deshalb auch „kein Grund zum Feiern“. Zwar wären mit dem sogenannten Bologna-Prozess „viele richtige Ziele“ gesetzt worden, äußerte sich Andreas Keller von der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW) am Mittwoch. „Bei der Umsetzung der Reformen wurden in Deutschland aber viele Probleme nicht gelöst, sondern verschärft.“ Die Mängelliste des GEW-Vizechefs hat es in sich: So ließen sich bei einem beabsichtigen Hochschulwechsel die Grenzen der Bundesländer häufig nicht überwinden, Studierende beklagten zu viele Pflichtveranstaltungen und Prüfungen und der Übergang vom Bachelor- zum Master-Studium gleiche einem „Lotteriespiel“. Auch viele Lehrende fühlten sich alleingelassen: „Reform der Curricula, Akkreditierung von Studiengängen, Evaluation der Lehre – den Dozentinnen und Dozenten werden immer mehr Aufgaben aufgehalst, ohne dass sie eine entsprechende Unterstützung bekommen.“
Klagen der Wirtschaft
Vielfach Realität an den Hochschulen: Jagd nach ECTS-Punkten
Kritik kommt jedoch keinesfalls nur aus dem linken Spektrum, Rüffel setzt es auch aus der Wirtschaft. „Wir appellieren an die Hochschulen, bei Bachelor-Studenten intensiver für den direkten Weg in den Beruf zu werben und die Beschäftigungsfähigkeit der Studenten zu stärken, statt Vorbehalte zu schüren“, monierte dieser Tage der stellvertretende Präsident der Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände (BDA) Gerhard Baum. Er verwies auf Umfragen, nach denen sich gerade einmal 28 Prozent der Studenten an Universitäten auf ihre spätere Berufstätigkeit gut vorbereitet fühlten, an Fachhochschulen knapp die Hälfte – woraus der Verbandsvize schloss: „Wir brauchen mehr Praxisbezug im Studium.“
Ins gleiche Horn stieß der Verband der Familienunternehmer (ASU). Viele Hochschulen hätten die „Chance auf einen Neustart mit entschlackten Strukturen verpasst und stattdessen nur veraltete Inhalte ins neue Bachelor/Master-Format gegossen“, erklärte ASU-Präsident Lutz Goebel und weiter: „Als Unternehmer stehe ich hinter dem Bachelor/Master-System, aber nicht immer hinter seiner Ausgestaltung.“
Reform für die Industrie?
Hintergrund: Bologna-Reform
Erklärtes Ziel der Bologna-Reform ist die Schaffung eines einheitlichen europäischen Hochschulraums. Im Zentrum stehen die Harmonisierung von Studiengängen und -abschlüssen sowie der Ausbau der Mobilität von Studierenden über Ländergrenzen hinweg. Seinen Anfang nahm der Prozess vor 15 Jahren mit der Unterzeichnung der Bologna-Erklärung durch 29 europäische Bildungsminister. Mittlerweile umfasst der Verbund 47 Mitgliedsstaaten.
Derlei Töne klingen einigermaßen befremdlich. Bologna-Gegner der ersten Stunde erachteten das ganze politische Vorhaben, Studium und Lehre europaweit zu vereinheitlichen, schließlich von Beginn an als eine Auftragsarbeit für die Industrie. Die hat vor allem ein Interesse an passgenauem Personal, das sich reibungslos und kostengünstig in ihre Produktions- und Verwertungsmaschinerie einfügt. Dafür erschien Bologna wie geschaffen. Wäre alles nach Plan gelaufen, hätte sich mit den Bachelor-Absolventen ein schier unerschöpfliches Reservoir an auf die eigenen Bedürfnisse zugeschnittenen Arbeitskräften aufgetan und der viel beklagte, sogenannte Fachkräftemangel wäre wohl bald vergessen gewesen.
Auf dem Reißbrett war der Bachelor die Idealbesetzung: Geistig, fach- und leistungsspezifisch sollte er sich im Personaltableau oberhalb des einfachen Facharbeiters, aber noch deutlich unterhalb von Führungskräften bewegen. Weil er – so die Wunschvorstellung – „fertiggebacken“ nach nur drei Jahren oder sechs Semestern von der Hochschule kommt, sollte er zugleich billiger zu haben sein als ein Abgänger mit Diplom, Magister oder Staatsexamen. Und die 'intellektuellen Flausen', die sich die teure Konkurrenz in fünf und mehr Jahren Studium mitunter aneignet, sollten einem Bachelor erst gar nicht in den Sinn kommen können. Dafür bleibt in der Kürze der Zeit und bei all dem Stress mit Prüfungen, Hausarbeiten und Credit Points ja auch kaum Zeit.
„Akademische Tellerwäscher“
Dass derlei Motive bei der Bologna-Reform eine Rolle spielten, wenn nicht die entscheidende, ist durchaus keine Spinnerei ihrer linken Widersacher. Selbst die staatstragende Süddeutsche Zeitung (SZ) macht daraus keinen Hehl: Anlässlich des 15jährigen Jubiläums kommentiert das Blatt unter dem Titel „Akademische Tellerwäscher“: Der Bachelor sei in erster Linie eben eine Verknappung des Studiums und seiner Inhalte“ und der „Hauptfehler“ der Reform sei „die Unehrlichkeit“. Studenten im Bachelor machten „nur eine Art wissenschaftlich angehauchte Lehre“, heißt es weiter und beim Rekordansturm auf die Hochschulen werde „auf Masse statt auf Klasse“ gesetzt. Der Text gipfelt gar in der These, der „Hochschule“ wäre die „Silbe Hoch gestrichen“ worden, denn „für jeden Atemzug im Hörsaal gab es fortan Noten und Regeln“.
Daraus folgt dann auch: Wenn heutzutage die Wirtschaft eine „bessere Umsetzung“ von Bologna anmahnt, dann sollte man das aus Sicht der Studierenden als Drohung verstehen. Deren Exponenten stören sich nämlich durchaus nicht an den dünnen Inhalten und der Verschulung des Bachelor, sondern in Wahrheit daran, dass die Betroffenen das Spiel durchschauen. Wie zuletzt erst wieder eine Umfrage des Allensbach-Instituts für Demoskopie (IfD) ergab, will weiterhin eine übergroße Mehrheit von bis zu 80 Prozent der Bachelor-Studierenden einen Master draufsatteln. Gründe dafür sind die vergleichsweise schlechteren Karrierechancen und Verdienstmöglichkeiten, die ein Bachelor-Abschluss mit sich bringt.
Karrierebremse Bachelor
Tatsächlich liefert eine Reihe von Studien Belege dafür, dass man mit dem Bachelor schlechtere Karten auf dem Arbeitsmarkt hat als Leute mit Master oder Diplom in der Tasche. Und selbst vom Präsidenten der Hochschulrektorenkonferenz (HRK), Horst Hippler, ist der Ausspruch überliefert, ein Bachelor in Physik „ist nie im Leben ein Physiker“. Ebenso gilt: Den Lehrer-Beruf an einer Regelschule kann man mit einem Bachelor nicht ausüben und mit einem Bachelor in Geschichte taugt man nicht zum Historiker. Wirtschaftsvertreter versuchen indes weiszumachen, das alles sei Einbildung und das schlechte Image des Abschlusses schulde sich zuvorderst einem Vermittlungsproblem. Der Vorwurf an die Politik lautet denn auch vor allem, nicht genügend für das neue Modell zu werben.
Das wiederum kann man der Bundesregierung wirklich nicht ankreiden. Wenn Werbung Augenwischerei meint, muss sie sich nämlich nichts vormachen lassen. Bildungsministerin Johanna Wanka (CDU) schwärmte am Mittwoch in einer Stellungnahme zum Bologna-Jubiläum über eine „gewaltige Leistung der Hochschulen“ und davon, dass inzwischen 87 Prozent aller Studiengänge auf die neue Struktur umgestellt seien. „Bachelor-Absolventen sind in der Wirtschaft willkommen. Wichtig ist aber, dass die Wirtschaft den Absolventen immer wieder deutlich macht, wie viele Karrieremöglichkeiten ihnen offen stehen.“ Damit wäre der Ball dann wieder bei der Industrie, die sich angeblich zu wenig für den Bachelor ins Zeug legt.
Ausland bleibt Ausnahme
Besondere Freude bekundete die Ministerin ob des einen Drittels an Studierenden, die einen „studienbezogenen Aufenthalt im Ausland“ verbracht hätten. Erklärtes Ziel war es einmal, dass die Hälfte aller Hochschüler im Ausland Erfahrungen sammeln. Ein echtes Auslandstudium in Form eines Auslandssemesters haben laut genannter Allensbach-Studie gerade einmal 17 Prozent der Studierenden zwischen 18 und 29 Jahren absolviert. Gleichwohl sagt Wanka: „Der Bologna-Prozess hat dazu geführt, dass Bildung ganz selbstverständlich international gelebt und erfahren wird. Hochschulen sind heute internationale Orte und bereiten ihre Studierenden auf die Globalisierung vor, die sie in ihrem gesamten Berufsleben begleiten wird.“
Unis als Berufsschulen
Einer, der wirklich weiß, was an den Hochschulen läuft, ist Dieter Lenzen, Präsident der Universität Hamburg. Er lieferte unlängst in einem Gastbeitrag für die Zeitung Die Welt einen veritablen Verriss der Bologna-Reform, den er auch in einem Buch niederschrieb, Titel: „Bildung statt Bologna“. Mit dem zweiphasigen Bachelor-Master-System nach angloamerikanischem Vorbild sei der „Bildungsauftrag der Universität und damit das kontinentaleuropäische Konzept zerstört“ worden, moniert er. Die deutschen Hochschulen drohten „zu Berufsschulen zu werden, das duale System zum Kollaps zu bringen und der bedauernswerten nachwachsenden Generation zu suggerieren, dass ihre Einkommensaussichten nach dem Besuch einer Hochschule besser seien als nach einer Ausbildung im dualen System (…)“.
Weiter wettert Lenzen über „Standardisierung“, „Wissensakkumulation“, „akademisierte Banalitäten“ und „fachlichen Etikettenschwindel“. „Sicher kann man das Studium mit unterschiedlichen Theorien der Thomas-Mann-Rezeption auch als berufsqualifizierend für Buchhandelsgehilfen ausgeben“, polemisiert er und folgert: „Mit akademischer Bildung hat das alles nichts zu tun.“
„Gewaltiges Sparprogramm“
Für die linke Tageszeitung Neues Deutschland war Bologna von Anfang an „tatsächlich nur ein gewaltiges Sparprogramm“. Und obwohl Politik und Wirtschaft so gern von „Fachkräftemangel“ und „Wissensgesellschaft“ sprächen, „hat sich an der Unterfinanzierung der Hochschulen seither nichts geändert“. Gegen die unhaltbaren Zustände – überfüllte Hörsäle, bröckelnde Wände, Verschulung, Master-Engpässe u. s. w. – waren 2009 bundesweit Studierende zu Hunderttausenden auf die Straße gegangen. Viel geändert hat sich seither nicht und zum Protestieren bleibt im Studienalltag für viele kaum oder gar keine Zeit mehr. Auch insofern wirke Bologna, befindet das ND – „und zwar ganz im Sinne der Erfinder?“ (rw)