„Vom Arbeiterkind zum Akademiker“Wie Bildungsaufstieg gelingt und was ihn erschwert
Von Jens Wernicke
Herr El-Mafaalani, Sie haben für Ihre Studie 40 so genannte „Extremaufsteiger“ interviewt und deren Werdegänge genauer untersucht. Was war Ihr Ziel; worum ging es genau?
„Extremaufsteiger“ sind selten – was sind die Gründe und wann gelingt der Aufstieg?
Ich habe extreme Kontraste fokussiert, also die Biographien von Menschen analysiert, die in einem bildungsfernen Elternhaus aufgewachsen sind und sich selbst über akademische Bildung in einer beruflichen Spitzenposition etabliert haben. Es geht also um soziale Ungleichheit, aber aus einer anderen Perspektive: Nicht die Barrieren werden analysiert, sondern die Bedingungen ihrer Durchlässigkeit.
Wir wissen aus zahlreichen Studien, dass es einen nachhaltigen Herkunftseffekt gibt, der über alle biographischen Etappen wirksam bleibt. Beispielsweise entscheiden sich Arbeiterkinder mit Abitur häufiger gegen ein Studium als Vergleichsgruppen und selbst nach erfolgreich abgeschlossenem Studium haben sie häufiger keine qualifikationsadäquaten Arbeitsplätze und Einkommen. Die seltenen Fälle, in denen all diese Hürden bewältigt wurden, standen im Zentrum meiner Analyse. Unter den betrachteten Biographien waren dabei sowohl Männer als auch Frauen mit und ohne Migrationshintergrund.
Was macht den „Bildungsaufstieg“ von Kindern aus einem Arbeiterelternhaus denn so unwahrscheinlich?
Zunächst sind es die offensichtlichen Aspekte: Privilegierte Kinder wachsen in einem Milieu auf, in dem es weder an Geld noch an relevantem Wissen fehlt. Es ist selbstverständlich, dass man über die Eltern zahlreiche Akademikerfamilien kennt, was zum einen dazu führt, dass sich eine gewisse Selbstverständlichkeit manifestiert, so etwas auch zu können, und was zum anderen bedeutet, dass man Informationen aus erster Hand erhält, wenn man sie benötigt.
Benachteiligt Aufwachsenden fehlt nicht nur ein solches Netzwerk im engeren Sinne, sie erleben Ärzte, Anwälte, Unternehmer, Journalisten oder Künstler zudem, wenn überhaupt, dann nur in ihrer Funktion und nicht aber als „normale“ Freunde der Familie. Dementsprechend fehlt es an Zutrauen und Selbstverständlichkeit, an Erfahrungen und Informationen aus erster Hand, an materiellen und immateriellen Unterstützungsleistungen. Das alles sind relevante Ressourcen. Aber neben diesen offensichtlichen Aspekten gibt es auch Probleme, die durch den Aufstieg überhaupt erst entstehen: Es gibt Risiken und Nebenwirkungen beim Aufstieg – man könnte auch sagen, man gewinnt nicht nur, man verliert auch etwas.
Was verliert man denn?
Während des Aufstiegsprozesses wechselt man nahezu das gesamte soziale Umfeld, verbringt viel Zeit in Institutionen höherer Bildung und erlebt praktisch permanent Neues, auf das die familiäre Sozialisation nicht vorbereiten konnte. Das erfordert Selbstdisziplin und Anpassungsfähigkeit, aber auch Trennungskompetenz. Man verändert sich grundlegend, verliert Kontakte zu Menschen aus dem Herkunftsmilieu.
Überhaupt wird vieles, was in der Kindheit und Jugend wertvoll war, durch den Aufstiegsprozess entwertet. Schon recht früh ist man den eigenen Eltern gegenüber überlegen, die Eltern können sogar als hilfsbedürftig und schwach wahrgenommen werden. Man entwickelt andere Interessen, andere Vorstellungen vom guten Leben, Denk- und Handlungsmuster verändern sich grundlegend. Die Herkunftsfamilie kann kaum noch nachvollziehen, womit man sich beschäftigt.
Die Verständigung fällt also immer schwerer und man distanziert sich nicht nur äußerlich, sondern auch innerlich vom Herkunftsmilieu – ich bezeichne das als Habitustransformation. Diese Entfremdung kann insbesondere dann, wenn man „da oben“ nicht aufgenommen wird bzw. sich nicht aufgenommen fühlt, zu Rückzugsgedanken führen. Wenn das in dieser Intensität erlebt wird, dann ist das ein deutlicher Hinweis auf starke – wenn auch unsichtbare – sozialstrukturelle Grenzen.
Verstehe ich recht: Wer „hoch“ will, muss sich ändern und ein wenig auch auf seine eigene Herkunft „herunterschauen“ um oben überhaupt dazugehören zu dürfen?
Das ist zu scharf formuliert. Es ist aber klar, dass der Anpassungsdruck umso größer ist, je undurchlässiger die Gesellschaft ist. Wenn Sie der einzige Fremde sind, der zu einer etablierten Gruppe hinzustößt, werden Sie sich anpassen müssen. Kommen viele hinzu, wird sich auch die Gruppe verändern. Würde es deutlich mehr Aufsteiger geben, würden sich auch die Eliten ändern. Dafür müsste man den Kreis derjenigen, die es überhaupt schaffen können, erweitern. Und hierfür sind die institutionellen Barrieren im Bildungssystem zentral…
Wo könnte man ansetzen, um diese Barrieren zu überwinden?
Da geht es vor allem um zwei Aspekte von Chancengleichheit, die sich wechselseitig befruchten und ergänzen.
Zum einen sollte man in Kindheit und Jugend natürlich präventiv fördern. Ideal wäre es, wenn Schulen mehr Verantwortung übernehmen würden und das Scheitern eines Kindes als eigenes Scheitern verstünden. Krisen in der Familie, aber auch adoleszenztypische Krisen sollten also nicht mehr die Bildungslaufbahn und damit die gesamte Biographie beeinträchtigen dürfen. Damit eine solche Haltung im Schulsystem verankert werden kann, bedarf es selbstverständlich weitreichender Reformen und Investitionen.
Zum anderen müsste man es schaffen, diejenigen, die bereits auf einem vielversprechenden Weg sind, zu unterstützen. Beispielsweise jene, die bereits über die Hochschulreife verfügen, sich aber nicht zutrauen, nun zu studieren.
In beiden Bereichen sind allerdings bereits gute Entwicklungen zu verzeichnen.
Woran liegt es denn, dass ein Studium selbst mit Hochschulreife in ärmeren Familien eher als „Risiko“ angesehen wird?
Aladin El-Mafaalani ist Professor für Politische Soziologie an der Fachhochschule Münster. Seine Studie über Bildungsaufsteiger ist mehrfach ausgezeichnet worden.
Nun, ein Studium ist schlichtweg eine Investition. Es entstehen Kosten. Man muss in der Regel in eine andere Stadt ziehen, im Studium sind deutlich weniger Dinge kostenfrei als in der Schulzeit. Zudem fehlen Einnahmen, die beispielsweise bei einer dualen Ausbildung generiert würden. Man muss in Vorleistung treten und steht deutlich später auf eigenen Beinen. Darüber hinaus trauen es Eltern ihrem Kind unter Umständen auch schlicht nicht zu oder haben Sorgen, da sie ihrem Kind während eines Studiums schließlich gar nicht mehr helfen könnten. Vielleicht haben sie auch von Bekannten mitbekommen, dass andere, die diesen Weg einschlugen, das Studium vorzeitig abbrechen mussten.
Früher war es auch so, dass geistige Arbeit in manchen Milieus ein schlechtes Image hatte – das lässt sich heute jedoch immer weniger feststellen. Vielmehr können die beschriebene Entfremdungsgefahr und eine starke Sicherheitsorientierung zu Skepsis führen. Wer wenig hat, der geht halt ungern Risiken ein. Und da Aufsteiger eher unsicher und selbstkritisch sind, können sie sich schlechter durchsetzen, wenn bereits das eigene soziale Umfeld einem Studium skeptisch gegenüber steht.
Wie meinen Sie das, Bildungsaufsteiger seien eher unsicher und selbstkritisch?
Die Unsicherheit der Betroffenen zieht sich praktisch durch den gesamten Aufstiegsprozess hindurch. Es lässt sich daher auch kein biographisches Motiv des Aufstiegs als solches rekonstruieren, sondern immer nur kleinere Ziele. In den Biographien taucht insofern nicht die soziale Leiter, die man hochgeklettert ist, auf, sondern stets nur die nächste Sprosse, weil sich die Akteure gar nicht sicher sein konnten, dass sie diese Herausforderung überhaupt bewältigen würden.
Dies ist insbesondere auch deshalb der Fall, weil das eigene Handeln stets und ständig kontrolliert werden muss. Man bewegt sich in den höheren Milieus eben nicht wie ein „Fisch im Wasser“, hier fehlt es an „Natürlichkeit“ und gewöhnt man sich gegebenenfalls dadurch sogar ab, der eigenen Intuition zu trauen, ist zumindest aber häufiger gezwungen, sich selbst zu reflektiert. Dies wird dann zum Teil damit kompensiert, dass man sich nach außen hin sehr selbstbewusst darstellt ohne es wirklich zu sein.
Auch ist feststellbar, dass die Aufsteiger auf „soziale Paten“, also auf die Unterstützung Dritter angewiesen sind. Ihnen gegenüber sind sie dann nachvollziehbarerweise sehr loyal. Die Gefahr besteht dann aber auch immer, dass diese Loyalität ausgenutzt wird. Oder aber sie erleben kein neues Zugehörigkeitsgefühl, was die Gefahr birgt, dass sie sich bestimmten Gruppen anbiedern. Daher kann es insgesamt sinnvoll sein, die Risiken und Nebenwirkungen des Aufstiegs zu kommunizieren. Zu wissen und zu verstehen, dass es sich beispielsweise bei der Entfremdung von der eigenen Familie nicht lediglich um ein individuelles Schicksal handelt, sondern zu weiten Teilen um strukturelle bzw. typische Problemstellungen sozialer Mobilität, kann immens befreiend sein, da man sich oder die eigenen Eltern weniger mit Schuld belastet. Vielleicht wäre es gar nicht so weit gekommen, wenn man von diesen Gefahren vorher gewusst hätte.
Für mich klingt das alles ein wenig danach, als wäre Aufstieg zwar immens schwer, mittels individueller Anstrengungen jedoch in aller Regel für mehr oder minder jeden und jede möglich, da es vor allem von individueller Leistungs- und Anpassungsbereitschaft abhängig ist. Wird die Rolle der Schule in der Diskussion um Bildungsgerechtigkeit also überschätzt?
Da sind nun mehrere Aspekte relevant. Zum ersten: Ich glaube nicht, dass jeder Mensch mit derselben Qualität jede Spitzenposition besetzen kann. Aber ich sehe keinen legitimen Grund, warum die soziale Herkunft ausschlaggebend sein soll. Legitim wäre in unserer Gesellschaft eine Selektion nach Leistungsfähigkeit. Zum einen deutet vieles darauf hin, dass Leistung allein nicht das Selektionskriterium ist. Zum anderen ist Leistungsfähigkeit nicht einfach gottgegeben, sondern weitgehend Resultat von Förderung.
Und damit wären wir beim zweiten Aspekt: Es gibt für jeden Mensch genau zwei Akteure, die seine Förderung maßgeblich bestimmen: Familie und Schule. Je stärker die Familie für die Förderung verantwortlich ist, desto stärker der Herkunftseffekt. Die Schule ist also unheimlich wichtig. Und wir erleben es heute schon: Dadurch, dass heute viel mehr Menschen die Hochschulzugangsberechtigung bekommen, sind die Hochschulen gezwungen, sich zu verändern. Allerdings birgt jede Veränderung auch Gefahren: Wenn immer mehr Menschen einen Hochschulabschluss erlangen, dann sinkt der Wert dieses Abschlusses. Und dadurch wird es für diejenigen, die keinen Hochschulabschluss haben, umso schwerer. Die Minderung sozialer Ungleichheit ist ein überaus komplexes Thema, das nicht nur über Bildungspolitik zu bewältigen ist.…
Vielen Dank für das Gespräch.
Hinweis: Die aktuell durch die Konrad-Adenauer-Stiftung veröffentlichte Studie "Vom Arbeiterkind zum Akademiker – Über die Mühen des Aufstiegs durch Bildung" (im Interview als "Extremaufsteiger"-Studie bezeichnet) ist eine Weiterführung und teilweise Zusammenfassung folgender Arbeit:
El-Mafaalani, Aladin (2012): BildungsausfsteigerInnen aus benachteiligten Milieus. Habitustransformation und soziale Mobilität bei Einheimischen und Türkeistämmigen (http://www.springer.com/springer+vs/soziologie/book/978-3-531-19319-9). Wiesbaden.