Zur Kritik eines reaktionären StereotypsElitenzucht statt Bildungspolitik
Eliten gibt es – und diese bleiben gerne unter sich.
Der französische Soziologe Pierre Bourdieu sprach einmal in einem gleichnamigen Aufsatz aus dem Jahre 1978 von einem »Rassismus der Intelligenz«.1 Diese Tendenz läge dann vor, wenn gehobene soziale Positionen, denen de facto ein systematischer Privilegierungsprozess durch die Weitergabe sogenannten kulturellen Kapitals zugrunde liege, mit quasi-natürlichen Eigenschaften der jeweiligen Personen, ihrer Begabung oder überdurchschnittlichen Intelligenz begründet würde. In diesem Kontext gewinnt das Bildungssystem einer Gesellschaft zentrale Bedeutung für die Legitimation von Herrschaftsverhältnissen. Ihm wird die Rolle einer – scheinbar objektiven – Elitenauswahl zugewiesen.
Revision des Gleichheitsversprechens
Dieses politische Motiv taucht allerdings in der Geschichte der bürgerlichen Gesellschaft erst vergleichsweise spät, etwa im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts, auf. In der Epoche der bürgerlichen Revolutionen trat das Bürgertum mit seiner zentralen Forderung gegen den Adel an, das Geburtsprivileg durch das Leistungsprinzip als ausschlaggebend für den sozialen Status zu ersetzen. Partizipation durch Leistung hatte die Annahme einer Gleichheit aller Bürger2 zur Voraussetzung. Im Zuge des inneren Ausbaus der bürgerlichen Nationalstaaten und als Konsequenz der Industrialisierung wurde dann ein neuartiges staatliches Bildungssystem entwickelt. Damit war zugleich ein sehr effizienter Mechanismus zur Legitimation eines modernisierten Ungleichheitsregimes geschaffen. Eine zentrale Funktion der öffentlichen Schule ist es schließlich, soziale Ungleichheit zu legitimieren, indem diese mit Bildungsunterschieden begründet und diese wiederum auf amtlich zertifizierte Unterschiede an Begabung und Eignung zurückgeführt werden. Dies ist zugleich ein Prozess der Individualisierung und Naturalisierung, welcher die sozialökonomischen Strukturen, über welche sich gesellschaftliche Ungleichheit reproduziert, entpolitisiert. Die Entfaltung dieses Prozesses hatte allerdings ein politisches Bedürfnis zur Voraussetzung. Dieses war geprägt vom Drängen der sozialen Massen, insbesondere der erstarkenden politischen Arbeiterbewegung, nach materieller und politischer Gleichheit. Angesichts der elenden Lebensbedingungen dieser Massen kann sich das Bürgertum nicht mehr mit einem auf die ganze Gesellschaft bezogenen Leistungsbegriff, d.h. mit dem Anspruch, ein Allgemeininteresse zu repräsentieren, rechtfertigen. Es geht zunehmend dazu über, seinen sozialen Status als Begabungs- bzw. Bildungselite zu legitimieren und sich so gleichzeitig von der sozialen Masse der ›Ungebildeten‹ abzugrenzen, deren soziale Lage wiederum als Ausdruck ihrer inferioren Intelligenz begründet wird. Hiermit wird einerseits die gesellschaftliche Hierarchie modernisiert, indem der Anspruch der Chancengleichheit aufgegriffen und zumindest rhetorisch anerkannt wird, gleichzeitig aber faktisch das Gleichheitsversprechen der bürgerlichen Revolutionen durch eine neue Legitimierung der Ungleichheit aufgekündigt. Ein so interpretierter Elitebegriff erfüllt daher die Funktion einer »Entnennung« der Klassenfrage mit der Folge, dass »Herrschaft als gesellschaftliches Strukturmoment … in unterschiedlichen Eigenschaften von Menschen [verschwindet].«3
Dieser Artikel erschien zuerst im BdWi Studienheft 9: Wissenschaft von Rechts, herausgegeben vom Bund demokratischer Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler (BdWi), fzs, GEW, ÖH und StuRa Uni Jena. Wir danken dem BdWi und dem Autoren für die Genehmigung, den Artikel auch bei Studis Online publizieren zu dürfen.
Dabei ging es bei weitem nicht nur um Bildungspolitik. Die Vorstellungen naturwüchsiger Ungleichheit mündeten in normative Elitenförderungskonzepte, die sich in komplette politisch-philosophisch begründete Staats- und Gesellschaftsmodelle einbauen ließen. Einer der Protagonisten war hier der deutsche Philosoph Friedrich Nietzsche (1844–1900). Für diesen konnten Höchstleistungen in Kultur und Kunst, im Staatswesen – und im Krieg – nur durch kleine Minderheiten von – später so bezeichneten – ›Herrenmenschen‹ (Nietzsche selbst verwendete ständig die Begriffe »Führer der Herde« oder auch »Raubtiere«) hervorgebracht werden. Die funktionale Voraussetzung für deren Wirksamkeit war die – ggf. auch in brutaler Form legitimierte – Unterwerfung und Niederhaltung der sozialen Massen. Die Erfolge der Arbeiterbewegung wurden daher von Nietzsche als gesellschaftszerstörende und kulturgefährdende Bedrohung eingestuft.4 Im Umkreis der Konservativen Revolution der 20er Jahre des vorigen Jahrhunderts5 wurden Elemente dieser Überlieferung dann im Sinne anti-demokratischer, autoritärer und putschistischer Staatsmodelle umgebaut.
Bürgertum gegen Bürgertum
Generell entfalten Elitekonzeptionen eine bestimmte politische Wirkung, die man auch als Lockangebote an die akademische Intelligenz bezeichnen könnte, der in Aussicht gestellt wird, eine privilegierte gesellschaftliche Sonderstellung über den sozialen Massen einzunehmen. Im Grunde gilt dies bis heute. Wenn in Deutschland aktuell knapp 50 Prozent eines Altersjahrganges studieren, welche fraglos nicht alle »Elite« sein können, dienen Elitemodelle vor allem der politischen Spaltung der wissenschaftlich-technischen Intelligenz bzw. der Behinderung solidarischen Handelns etwa der Studierendenschaft.
Es bedarf der Erwähnung, dass die herrschende Klasse in ihren unterschiedlichen Konjunkturen und Konstellationen nicht politisch homogen aufgestellt ist. Die zwangsläufige Folge der Industrialisierung und der ständigen ökonomischen Modernisierung seit dem späten 19. Jahrhundert bis in unsere Gegenwart war eine sukzessive Verlängerung von Bildungszeiten und eine Erhöhung des durchschnittlichen gesellschaftlichen Qualifikationsniveaus, wodurch zeitweise auch eine soziale Öffnung privilegierter Bildungswege (Gymnasium, Universitäten) erforderlich war. Dagegen stemmte sich eine sich im späten 19. Jahrhundert in Deutschland herausbildende ›Gymnasialpartei‹, die hierzulande bis in die Gegenwart identifizierbar und politisch wirkungsmächtig ist.6 Sie tritt für die strikte ›begabungstheoretisch‹ begründete Begrenzung des Zugangs zu Gymnasien und Universitäten ein. Das zugrunde liegende Motiv der Reproduktion des eigenen privilegierten sozialen (Minderheits-)Status durch das Bildungssystem kann sich zuweilen gegen die sich aus der ökonomischen Modernisierung ergebenden Qualifikationsbedarfe, wie sie etwa von den Interessen der unmittelbaren Industriebourgeoisie repräsentiert werden, verselbständigen. In der Bildungsreform seit den 60er Jahren des vorigen Jahrhunderts brach dieser Konflikt offen aus.
Tabuisierung und Wiederbelebung des Elitebegriffs
Bis in unsere Gegenwart erhalten blieb auch die Vorstellung ungleicher Begabungen in Form unterschiedlicher – vermeintlich angeborener – Eigenschaften von Menschen.7 Der Elitebegriff korreliert hier mit dem Begriff der ›Hochbegabung‹.8 Diese Vorstellung ist ein zäher Bestandteil des Alltagsbewusstseins – und wird zudem von der Politik und von Teilen der Wissenschaft, etwa der psychometrischen Intelligenzforschung (s.u.), gezielt gefördert. Allein die Aussage etwa, eine Person XY hätte einen bestimmten (bezifferbaren) Intelligenzquotienten, wodurch der betreffende Mensch zugleich in ein hierarchisches Personenranking eingereiht wird, verwandelt eine individualisierte soziale Qualität wie Intelligenz, die gefördert und entwickelt – aber eben auch durch gesellschaftliche Umstände behindert – werden kann, in eine statische personale Eigenschaft9, quasi als ›natürliche‹ Grenze von Bildungspolitik. Da wir in dem Zusammenhang bereits den Begriff »Rassismus« eingeführt haben, bedarf das an dieser Stelle einer Erläuterung. Die – häufig spontane – Reproduktion des Ressentiments ungleicher Begabungen ist nicht identisch mit praktiziertem Rassismus. Der implizite Biologismus dieser Vorstellung stärkt allerdings nolens volens die gesellschaftliche Resonanzfähigkeit von rassistischen Diskursen, die auf der Behauptung nicht aufhebbarer ›natürlicher‹ Ungleichheit (gleich ob explizit biologistisch oder kulturalistisch begründet) beruhen, also auf »vorgeblich unbeeinflussbare[n] biologische[n] Tatsachen als Legitimation für unterschiedliche Bewertungen von Menschen und sozialen Gruppen…«10 Aufgabe emanzipatorischer Politik ist daher vor allem die Förderung einer politischen Reflexion des auf Begabungsungleichheit zielenden Ressentiments – nicht hingegen dessen Etikettierung als unmittelbar rassistisch.
Nach dem zweiten Weltkrieg war das explizite Hantieren mit dem Elitebegriff tabuisiert, dieser war quasi ›politisch verbrannt‹. Das schloss natürlich nie aus, Elitekonzeptionen unter einer anderen Bezeichnung politisch zu verfolgen. Den Grund für dieses Tabu nennt Oskar Negt: »Selektion und Menschenzüchtungen, die auf Rasseeliten gerichtet waren, bezeichnen Wundmale der deutschen Geschichte, die es verbieten, bestimmte Begriffe wieder hoffähig zu machen…« (Frankfurter Rundschau 26.1.2004). Anlass von Negts Artikel ist sein Erstaunen darüber, dass im gleichen Monat ausgerechnet die SPD versuchte, den Elitebegriff hochschulpolitisch zu reaktivieren, indem ihre Bundestagsfraktion die Bildung von »Eliteuniversitäten« empfahl – aus diesem Ansatz wurde dann 2005 die »Exzellenzinitiative«, wobei »Exzellenz« ausdrücklich ein synthetischer Ersatzbegriff für »Elite« sein sollte. Dennoch hat sich für die Sieger dieses Wettbewerbes in der Öffentlichkeit der Begriff »Eliteuniversitäten« durchgesetzt: mit dem Effekt, dass die dort Forschenden und Studierenden sich für etwas ganz Besonderes halten können. Oskar Negt beschreibt auch den gemeinsamen Nenner aller Elitekonzeptionen: »Immer geht das erkenntnisleitende Interesse auf den Prozess der Auslese und auf die wertenden Urteile über diese neusortierten Menschen« (ebd.).
Eliten und neoliberale Bildungsökonomie
Als Hauptgrund für die ›Normalisierung‹ von Elitekonzeptionen – ob diese nun unter diesem Etikett oder einem anderen segeln – sehe ich ihre neuartige Synthese mit bestimmten neoliberalen bildungsökonomischen Vorstellungen. Deren Hintergrund ist die – von niemandem bestrittene – strukturelle Unterfinanzierung des deutschen Hochschulsystems seit mehr als drei Jahrzehnten. Das ist der Nährboden für Denkweisen, die davon ausgehen, dass eine bessere Finanzierung weniger – Hochschuleinrichtungen, ForscherInnen oder Studierender – einen höheren gesellschaftlichen Nutzeffekt bewirken würde als eine bessere und angemessene Finanzierung aller, d.h. des ganzen Hochschulsystems. Dieser Ansatz steht m.E. auch hinter der »Exzellenzinitiative«. Das ist gleichbedeutend mit der Abkehr von der grundsätzlichen rechtlichen und materiellen Gleichbehandlung aller Hochschulen und Studierenden. Die angestrebte größere Ungleichheit soll durch den Übergang zu einer stärker wettbewerblichen Finanzierung bewirkt werden. Damit ist das Motiv der Auslese, von dem Oskar Negt spricht, auf die Tagesordnung gesetzt. Wenn etwa Bildungskosten bzw. die Finanzierung von Studienplätzen als »Investition« umdefiniert werden, die, wie jede andere Investition, von einer Spekulation auf zu erwartende Leistungen und Erträge geprägt ist, erhöht sich der Druck auf eine präzisere »Kalkulation« dieser Ausgaben; etwa durch möglichst frühzeitige Leistungsfähigkeitsprognosen (›Studierfähigkeitstest‹) und permanente Leistungskontrollen. Vermittels dieser werden dann wenige hochselektiert und viele aussortiert bzw. mit einem Billigstudienabschluss auf den Arbeitsmarkt geschickt. Die hauptberuflichen WissenschaftlerInnen unterliegen in der Konkurrenz gegeneinander ähnlichen Mechanismen. Zusätzlich wird der Schluss vom Umfang der Investition auf das Niveau der zu erwartenden ›Leistung‹ nahe gelegt und so dem Motiv der Extra- und Sonderförderung von (Eliten-)Höchstleistungen der Boden bereitet – Motto: überdurchschnittlich hohe Exzellenzfinanzen erzeugen auch ›exzellente‹ Forschungsergebnisse.
Intelligenzmessung und -sortierung
Mit der Naturalisierung von Bildungschancen und -ergebnissen wird zugleich ein neuer Markt der psychometrischen Prognostik und Intelligenzforschung erschlossen. Man könnte viele Probleme auch dadurch lösen, dass man – im Unterschied zum dominanten Trend in allen zivilisierten Ländern – die Studierquote senkt. In der Augustausgabe (2013) der Zeitschrift des Deutschen Hochschulverbandes plädieren zwei Professoren der Intelligenz- und Lernforschung für etwa 20 Prozent.11 Der Beitrag trägt den Untertitel »Warum eine Universität für alle niemandem nützt: Intelligenzunterschiede lassen sich nicht reduzieren«. Warum nicht? Die These lautet, dass unterschiedliche intellektuelle Leistungen durch unterschiedliche individuelle genetische Dispositionen determiniert seien: »So wie alle Menschen einen genetischen Bauplan zur Entwicklung einer Nase mitbringen, der aber Variationen unterliegt, die zu unterschiedlichen Größen und Formen dieses Organs führen, so unterliegt auch der Bauplan der Intelligenz individuellen Variationen…« (634) Die angeborene Form meiner Nase lässt sich in der Tat durch gesellschaftliche Anstrengungen nicht verändern (außer durch plastische Chirurgie oder zu viel Alkoholkonsum). Die Biologie markiert die Grenze der (Bildungs-)Politik. Zwar räumen die Autoren ein, dass die Gene, welche die Intelligenzentwicklung steuern, noch gar nicht identifiziert seien (636), sie vermuten aber, dass es sie geben müsse. Sie projizieren also die Ergebnisse ihrer IQ-Messungen auf eine vermeintliche Ursache zurück, die sie konkret aber gar nicht kennen. Warum sie diese spekulative monokausale Methode überhaupt wählen statt nach anderen – durchaus nahe liegenden – (gesellschaftlichen) Erklärungen für unterschiedliche Leistungen, die sie gemessen haben wollen, zu suchen, bleibt im Dunkeln.
Die Ergebnisse der IQ-Messung entsprechen trivialerweise dem, was dabei immer rauskommt: einer ›Normalverteilung‹ entsprechend der Gaußschen Glockenkurve: 70 Prozent der gemessenen IQs liegen im Bereich von 85 bis 115, zirkulieren also um den Mittelwert von 100, 15 Prozent verfügen über eine signifikant überdurchschnittliche Intelligenz, darin eingeschlossen die (angeblich) zwei Prozent ›Hochbegabten‹ (635). Alle quantitativen Leistungsmessungen unter Konkurrenzbedingungen, die folglich darauf angelegt sind, Leistungsabstände sichtbar zu machen, münden im Ergebnis immer in eine Gaußsche Glockenkurve: ob es sich um den Medallien-Spiegel bei den Olympischen Spielen, um die Verteilung der Notenskala in Schulklassen oder eben um IQ-Messungen handelt. Es gibt wenige Schwache, wenige Starke und ein breites Feld des Durchschnittlichen. Der nahe liegende Gedanke, dass die Ergebnisse des Messens durch Ziele und Methoden der Messverfahren determiniert sind, darf da schon aufkommen. Vor allem aber sagt die Platzierung in IQ-Tests nichts über die künftige Leistungsfähigkeit der jeweiligen Person im Verhältnis zur konkreten Testsituation aus, der diese einmal ausgesetzt war. Die Psychometrie suggeriert aber – ohne weitere Begründung –, dass der einmal gemessene Wert schicksalhaft die künftige Leistungsfähigkeit determiniere.
Vor dem Hintergrund derartiger Messergebnisse behaupten die Autoren nun, dass ein erheblicher Teil der aktuell Studierenden »für eine Auseinandersetzung mit abstrakten Ideen und Inhaltsbereichen, wie sie an der Universität gefordert werden, … nicht geschaffen« sei (636). »Erhalten sie dennoch Zugang zur Universität – was bei einer Quote von 50 Prozent zwangsläufig der Fall ist – muss die Universität durch ein verschultes Lehrprogramm darauf reagieren oder ganz massiv Qualitätsansprüche aufgeben.« (ebd.) Jetzt wissen wir also: Verschulung und Überreglementierung des Studiums sind keine Konsequenz der drastischen Unterfinanzierung – oder einer verfehlten Bologna-Reform –, sondern Ausdruck der Tatsache, dass sich an der Uni zu viele Menschen minderer Intelligenz aufhalten. Die Konsequenz daraus: ein Bildungsabbauprogramm durch drastische Beschränkung des Hochschulzugangs und folglich die Restaurierung des elitären Charakters eines Studiums. Das ist zudem äußerst praktisch, weil mehrere Schwierigkeiten gleichzeitig bewältigt werden: das Problem der Unterfinanzierung der Hochschulen ebenso wie das der Selbstrekrutierung der bildungsbürgerlichen ›Elite‹. Und für all dies bekommt man auch noch eine passende ›wissenschaftliche‹ Begründung.
Abnehmende Leistung durch Eliten(in)zucht
Wenn wir zum Abschluss einmal die letzten Jahrzehnte bildungspolitischer Entwicklung Revue passieren lassen, ergibt sich folgendes Bild: in den 50er Jahren des vorigen Jahrhunderts betrug die Studierquote in (West-)Deutschland etwa 5 Prozent. Bis Anfang der 70er Jahre stieg sie dann infolge der Hochschulreform auf 20 Prozent. Damals setzten auch die ersten – weithin ergebnislos verlaufenen – bildungskonservativen Kampagnen ein, an den neuen ›Massenuniversitäten‹ sei Elitenbildung nicht mehr möglich. Heute liegt die Studierquote bei 50 Prozent, in den skandinavischen Ländern bei etwa 70 Prozent. Der Trend ist folglich, dass im wissenschaftsbasierten High-Tech-Kapitalismus ein Studium zur Regelausbildung wird. ›Theoretisch‹ ist es durchaus denkbar, dass ein kompletter Altersjahrgang (100 Prozent) studiert. Das heißt keineswegs, dass man dies erzwingen sollte. Es bedeutet aber, dass jede administrative Begrenzung der Studierquote eine willkürliche politische Setzung ist. Elitenförderprogramme – und Hochschulzugangsbegrenzungsbestrebungen – lassen sich vor diesem Hintergrund einordnen als defensive Reaktion konservativer Kreise auf die Vergesellschaftung der Wissenschaft und auf die dadurch induzierte mögliche soziale Verallgemeinerung von Hochschulbeteiligung.
Zudem lösen diese Programme nicht ein, was sie versprechen, indem sie sich gesellschaftlich mit einer Hochleistungsrhetorik legitimieren. Im Gegenteil, sie schwächen die potentielle gesellschaftliche Leistungsfähigkeit des Bildungssystems. Der Mitbegründer der Kritischen Psychologie, Klaus Holzkamp, nennt das einen »bildungspolitisch induzierten Pygmalion-Effekt«: Man will durch politische Entscheidungen und unterschiedliche materielle Zuteilungen einen Leistungsabstand zwischen Normal- und Hochleistern produzieren. Die besseren Lernbedingungen an der Spitze der Bildungspyramide führen dann auch zu den erwarteten Mehrleistungen, was wiederum – tautologisch – als Begründung für die vorherige Auswahlentscheidung herangezogen wird. Der Effekt ist der einer sich selbst erfüllenden Prophezeiung, »durch die man Ressourcen an gesellschaftlich nutzbaren Leistungsmöglichkeiten nicht – wie beabsichtigt – fördert, sondern im Gegenteil durch Vernachlässigung und Entmutigung der Nichtauserwählten unterdrückt und verschleudert.«12
Torsten Bultmann ist Politischer Geschäftsführer des BdWi.
1 Diesen Hinweis entnehme ich einer Veröffentlichung von Erich Ribolits 2006: »Elite ist man eben – Warum in der Bildungspolitik neuerdings wieder so gerne mit Begabung und Elite argumentiert wird«, in: Elisabeth Hobl-Jahn/ Pater Malina/ Elke Renner (Hg.): MenschenHaltung: Biologismus – Sozialrassismus, Insbruck-Wien-Bozen: 35-45.
2 Für diese Frühphase ist die männliche Sprachform angemessen.
3 Morus Markard 2005: »›Elite‹: Ein anti-egalitaristischer Kampfbegriff«, in: UTOPIE kreativ 171, Januar 2005: 5-11 (hier: 6).
4 Die Entwicklung dieses Denkens von den Frühschriften bis zu den späten ›Theorien des Übermenschen‹ ist sehr gut nachgezeichnet bei: Rüdiger Safranski 2010: Nietzsche – Biographie seines Denkens (5.Auflg.), Frankfurt am Main. Zu seinen Lebzeiten war Nietzsche politisch völlig einflusslos. Er verkaufte höchstens 500 Exemplare seiner Bücher. Erst im 20. Jahrhundert erhielten seine Denkmuster Massenwirksamkeit in Teilen der akademischen Intelligenz und förderten die von diesen kultivierten sozialdarwinistischen und lebensphilosophisch-aktivistischen Mentalitäten.
5 Vgl. dazu den Beitrag von Helmut Kellershohn im Studienheft.
6 Ludwig von Friedeburg 1992: Geschichte der Bildungsreform in Deutschland, Frankfurt am Main: 179ff.
7 Zu grundsätzlicher Kritik daran: Morus Markard 1998: »Begabung. Motivation. Eignung. Leistung. – Schlüsselbegriffe der aktuellen Hochschulreform aus kritisch-psychologischer Sicht« in: Forum Wissenschaft 1/1998: 36-40.
8 Zur Kritik dieses Begriffs vgl. Klaus Holzkamp 1992: »›Hochbegabung‹: Wissenschaftlich verantwortbares Konzept oder Alltagsvorstellung?«, in: Forum Kritische Psychologie 29, Berlin: 5-29.
9 Diese Sichtweise wurde 1997 programmatisch durch eine der ›Ruck‹-Reden (Titel: »Aufbruch in die Bildungspolitik«) des damaligen Bundespräsidenten Roman Herzog gefördert:»Menschen sind Individuen. Sie haben unterschiedliche Begabungen. Wer das leugnet, vergißt einerseits die herausragenden Talente, die unser Bildungssystem oft genug behindert, und andererseits die weniger Begabten, denen unser Bildungswesen jeglichen Abschluß verweigert.« (Presse- und Informationsamt der Bundesregierung – Bulletin Nr. 87: 1001, Bonn, den 5. November 1997). Die Klage über die Behinderung der Hochtalentierten lässt sich auch als Plädoyer für künftige Elitenförderprogramme interpretieren.
10 Ribolits a.a.O.: 35.
11 Elsbeth Stern/Aljoscha Neubauer: »Nature via Nurture«; in: Forschung & Lehre 8/2013: 634-636 (die folgenden Seitenangaben im Text beziehen sich auf diese Veröffentlichung).
12 Holzkamp a. a. O.: 17.