Interview zum SemesterstartMasterplan gegen den (Master-)Mangel?
Studis Online: Fest steht zum Start des Wintersemesters 2013/14 schon mal eines: Es bleibt eng an Deutschlands Hochschulen. Während es zuletzt bereits über 2,5 Millionen Studierende gab, hat nun auch noch Nordrhein-Westfalen (NRW), das einwohnerstärkste Bundesland, einen doppelten Abiturjahrgang ins Rennen geschickt. Wird es jetzt noch voller als voll?
Erik Marquardt ist Vorstandsmitglied beim freien zusammenschluss von studentInnenschaften (fzs), der Dachorganisation der verfassten Studierendenschaften und anderer Studierendenvertretungen in Deutschland. Der Verband vertritt die politischen, sozialen und wirtschaftlichen Belange von über einer Million Studierenden an bundesweit 88 Mitgliedshochschulen.
Erik Marquardt: Voll sind die Hochschulen ohne Frage, und das bringt für die Studierenden Unannehmlichkeiten mit sich. Das ist das eine, nur wird dabei gerne etwas anderes aus den Augen verloren. Weil die Kapazitäten der Hochschulen längst nicht mit dem Bedarf mithalten, werden heutzutage viel mehr Bewerber abgelehnt, als dies früher der Fall war. Es ist schade, in der Vorlesung auf der Treppe sitzen zu müssen. Aber viel trauriger ist es, wenn man gar keinen Studienplatz erhalten hat, weil der Numerus Clausus zu niedrig war oder andere Zugangshürden nicht zu überwinden waren. Die größten Leidtragenden des unterfinanzierten Hochschulsystems sind immer noch die, die beim Gerangel um die knappen Plätze auf der Strecke bleiben. Das sollte man nicht vergessen.
2011 und 2012 strömten jeweils rund 500.000 Studienneulinge an die Hochschulen. Gibt es Anzeichen, dass es diesmal noch mehr werden könnten?
Das muss man abwarten. Die Hochschulrektorenkonferenz (HRK) liefert ihre endgültigen Zahlen ziemlich spät, und auch die ersten Zahlen des Statistischen Bundesamtes gibt es in der Regel erst Ende November. Das komplizierte und leidige Zulassungsverfahren führt ja auch dazu, dass viele Bewerber noch gar nicht immatrikuliert sind, obwohl das Semester schon angefangen hat, und Tausende erst im Nachrückverfahren einen Platz ergattern. Ich denke aber schon, dass es in etwa bei der Größenordnung der beiden Vorjahre bleiben wird. Auf keinen Fall wird es einen Aufwuchs wie 2011 geben, der ja vor allem durch die plötzliche Aussetzung der Wehrpflicht verursacht war. Die Hochschulen haben allerlei Maßnahmen ergriffen, um den Zustrom zu steuern. Viele Studiengänge wurden regelrecht zugemauert – mit den besagten Folgen.
Sie studieren selbst in Berlin. Wie haben Sie die ersten Tage im neuen Semester erlebt?
Es geht auch diesmal eng zu, ohne Zweifel. Dass Vorlesungen und Seminare am Anfang auch mal übervoll sind und man stehen oder auf Fensterbänken sitzen muss, halte ich aber für gar nicht so dramatisch. Das legt sich in der Regel nach ein paar Wochen, sobald die Orientierungsphase zu Ende ist. Natürlich ist es voll an den Hochschulen, ich würde nur die Konnotation "zu voll" vermeiden.
Warum?
Weil damit viel Missbrauch betrieben wird. Da sind zum Beispiel die selbsternannten forschungsstarken Universitäten, die in der Lobbyorganisation "German U15" gemeinsame Sache machen. Die tun so, als wären Studierende nicht einmal mehr schmückendes Beiwerk, sondern ein Störfaktor. Die schreiben dann zum Beispiel in ihr Grundsatzprogramm, dass die Zahl der Studierenden eine "gefährliche Größe" erreicht habe. Ich finde aber, es sollte Konsens darüber bestehen, dass Studierende keine Bedrohung, sondern die Grundlage einer Hochschule sind. Das geht in der laufenden Debatte leider immer öfter unter. Die HRK und andere hochschulpolitische Akteure verlangen etwa, die Kapazitätsverordnung anzupassen. Das würde aber mit einem mal zum Wegfall von Zehntausenden Studienplätzen führen. Das deutsche Bildungs- und Hochschulsystem ist schon heute eines der sozial undurchlässigsten weltweit. Soll man es jetzt noch exklusiver gestalten, sollen noch mehr Menschen gar nicht studieren dürfen, soll noch mehr Bachelor-Absolventen der Weg zum Master versperrt werden? Das wäre ein schlimmer Irrweg. Und deshalb darf der Fokus eben nicht auf bedingungslose Qualität, auf Elite, auf auserlesene Grüppchen und Sonderwünsche von Rektoren gelegt werden. Vielmehr muss dafür Sorge getragen werden, den Interessen der Allgemeinheit der Studierenden und Studienanwärter am besten zu genügen. Wem das nicht passt, sollte mal einen Blick in die Verfassung werfen, darin ist nämlich Bildung als allgemeines Grundrecht verankert.
Vollen Hochschulen lässt sich auf zweierlei Weise begegnen: Entweder macht man die Schotten dicht oder passt die Ausstattung den Gegebenheiten an. Wohin geht die Reise der letzten zwei, drei Semester?
Es gibt im Wesentlichen drei Reaktionen auf den starken Studierendenzulauf: Die eigenen Absolventen werden bevorteilt, indem man beispielsweise besondere Zugangshürden für Master-Studiengänge hochzieht. Da werden etwa besondere Mathekurse vorausgesetzt oder bestimmte Leistungspunkte in ganz speziellen Themenbereichen verlangt. Die Regeln sind "zufälligerweise" genauso gestrickt, dass die eigenen Bachelor-Absolventen deutlich bessere Karten in den Auswahlverfahren haben als auswärtige Bewerber. Oft schafft es sogar mehr als die Hälfte der Anwärter gar nicht ins Zulassungsverfahren, weil sie von vornherein als ungeeignete Kandidaten durchfallen.
Dazu kommt, dass Noten immer mehr als Steuerungsinstrument genutzt werden und immer weniger eine Feedbackfunktion erfüllen. Es geht kaum noch darum, an den Zensuren abzulesen, wo der Lernende leistungsmäßig steht bzw. was der Lehrende wie gut oder schlecht vermittelt hat. Noten sind fast nur noch dazu da, in Richtung Studienabschluss zu selektieren und Studierende zum Aufgeben oder Studiengangwechsel zu bewegen. Es ist heute keine Seltenheit, wenn 70 Prozent durch die Klausur rasseln. Die Leute werden teilweise systematisch rausgeprüft, und das schreckt natürlich entsprechende Studienfachinteressierte ab.
Und Steuerung findet auch auf politischer Ebene statt, indem beispielsweise die Mittelvergabe an die Hochschulen immer mehr über Wettbewerbe organisiert wird – etwa die Exzellenzinitiative – oder andere Programme, die nur befristet aufgelegt werden. Das alles hat nichts Nachhaltiges und Verlässliches und wirkt so, als wollte man die Zuwendungen nach Möglichkeit schnellstens einstellen, sobald "eines schönen Tages" endlich wieder weniger Menschen studieren gehen. Die Situation wird nicht als Chance erachtet, sondern mehr wie ein lästiger Betriebsunfall.
Eigentlich geht all das Gesagte in die Richtung "Schotten dicht machen". Gibt es nichts, womit die Hochschulen erkennen ließen, dass sie sich über die vielen Studierenden freuen?
Im Einzelfall gibt es das schon. Mir fällt zum Beispiel für Berlin ein, dass sich dort die Landeshochschulen untereinander absprechen, bestimmte Studiengänge flächendeckend wieder zulassungsfrei zu gestalten. Ähnliche Absprachen zwischen Hochschulen gibt es auch darüber, welche Inhalte in einem Studienfach zu vermitteln sind, so dass nicht überall etwas anderes gelehrt wird. Positiv sind auch die vielerorts in Gang gesetzten Diskussionen, wie man mit der zunehmenden Heterogenität der Studierendenschaft – etwa durch unkonventionelle Zugänge zur Hochschule abseits vom Abitur – am besten umgeht und wie man die Entwicklung als Chance begreift. Leider gibt es aber immer noch zu viele Professoren, die das nicht tun und die Neuankömmlinge in Schubladen stecken, in die sie nicht gehören.
Ein Studierenden-freundlicher Masterplan für die weitere Hochschulentwicklung – den gibt es bisher leider nicht
Ihr Verband hat sich zum Semesterstart mit einem Thema zu Wort gemeldet, das in der Öffentlichkeit seit längerem kaum noch diskutiert wird. In einer Pressemitteilung beklagen Sie die nach wie vor bestehenden Defizite der Bologna-Studienstrukturreform. Was genau passt Ihnen nicht?
Wir fordern nichts weniger als einen Masterplan, um die Versäumnisse der Vergangenheit endlich zu beheben. Bologna war ja eine große und schöne Verheißung. Erklärtes Ziel war die Schaffung eines europaweiten Hochschulraums, in dem die Studierenden im Mittelpunkt stehen, die Studienstrukturen harmonisiert sind, kompetenzorientiert gelehrt wird, man problemlos Sprachen erlernen und Auslandserfahrungen sammeln kann. Nur was ist aus all diesen Versprechungen geworden? Hierzulande gibt es nicht einmal einen einheitlichen deutschen Hochschulraum, sondern 16 Landeshochschulgesetze. Mancherorts kann man noch auf Diplom oder Staatsexamen studieren, während anderswo nur noch Bachelor und Master möglich sind. Für Sprachkurse und Auslandssemester fehlt im überfrachteten Bachelor-Alltag die Zeit. An den Hochschulen herrscht immer mehr Ellenbogenmentalität, während Bologna doch eigentlich kooperatives Lernen befördern sollte. Der Bachelor ist nach wie vor hochgradig verschult, der Lern- und Prüfungsstress ist weiterhin immens hoch, flexible Studienverläufe werden erschwert. In vielen Studiengängen stehen demnächst große Kohorten an Bachelor-Absolventen auf dem Sprung zum Master und werden wahrscheinlich nicht zum Zug kommen. Es gibt verschiedene Szenarien, nach denen bald Zehntausende Master-Studienplätze fehlen werden.
Bleiben wir zunächst bei der Master-Frage. Der Mangel zeigt sich mancherorts ja bereits jetzt. Gerade gab es Proteste von Lehramts- und Psychologiestudenten in Hamburg, weil nicht genügend Master-Studienplätze für Bachelor-Absolventen vorhanden sind. Zuletzt hat selbst das von Bertelsmann gesponserte Centrum für Hochschulentwicklung (CHE) vor massiven Engpässen gewarnt. Die Kultusministerkonferenz (KMK) will aber von alle dem nichts hören. Wie können Wahrnehmungen so weit auseinander gehen?
Wenn die Bundesländer das Problem benennen würden, müssten sie sich ja an die eigene Nase fassen und Geld locker machen, das sie angeblich nicht haben. Die Länder sehen ohnehin den Bund in der Verantwortung. Zuvor müsste aber erst einmal das Kooperationsverbot in Bildungsfragen gelockert werden, worüber aber seit nun bald zwei Jahren ergebnislos gestritten wird. Auch wir meinen, dass sich der Bund stärker engagieren muss. Dabei wäre schon viel damit geholfen, das vorhandene Geld sinnvoller anzulegen, indem etwa die Exzellenzinitiative oder dieses unsinnige Deutschlandstipendium abgewickelt werden. Es gibt so viele drängende Probleme, die man mit den damit frei werdenden Mitteln angehen könnte: Die Studienfinanzierung, die Wohnsituation, Zugangs- und Mitbestimmungsfragen, curriculare Anforderungen, Prüfungsbelastung oder flexible Studienverläufe. All diese Dinge müsste der von uns empfohlene Masterplan aufgreifen und schrittweise einer Lösung zuführen. Nur was tut die Bundesregierung? Sie beschließt die Erhöhung des Büchergeldes für Stipendiaten und erklärt, dass sich weitere Bologna-Konferenzen erübrigen würden.
Zum Hintergrund: Eine eigentlich für Oktober 2012 geplante dritte Bologna-Konferenz wurde seinerzeit von Bildungsministerin Annette Schavan (CDU) kurzerhand und ohne Begründung abgesagt. Die ersten beiden Bologna-Gipfel stiegen 2010 und 2011. Beim zweiten hieß es seinerzeit, es seien bereits substanzielle Verbesserungen, vor allem im Hinblick auf die "Studierbarkeit" des Bachelor, umgesetzt oder auf den Weg gebracht worden. Seitdem ist es um das Thema ziemlich still geworden. Muss man das nicht auch so deuten, dass inzwischen alle zufrieden sind?
Dass das Thema nicht vom Tisch ist, zeigt sich schon daran, dass selbst die konservative HRK sich erst Ende 2012 bemüßigt sah, eine AG Europäische Studienreform einzurichten, in der auch ich als studentischer Vertreter sitze. Und der fzs wird im kommenden Sommer zum 15-jährigen Gründungsjubiläum eine eigene studentische Bologna-Konferenz ausrichten. Aber zurück zur Frage: Es gab tatsächlich Verbesserungen in den Strukturvorgaben zur Akkreditierung von Bachelor- und Master-Studiengängen der KMK. Zum Beispiel kann man neuerdings den Bachelor auch in acht Semestern abschließen. Allerdings mit der Vorgabe, dass man im Falle konsekutiver Studiengänge maximal zehn Semester studieren darf und damit den Master in nur zwei Semestern durchziehen muss. Faktisch läuft das darauf hinaus, dass fast die ganze Master-Studienzeit für die Prüfungsvorbereitung und die Prüfung draufgeht – was soll das für einen Sinn haben.
Was hat sich in Sachen Verschulung getan?
Es wurde zwar die Möglichkeit von Modulen eingeräumt, die nicht benotet werden. Das geschieht aber nur unzureichend. Es ist weiterhin so, dass ein Großteil der Module, auch die der ersten Semester, bewertet werden und in die Endnote eingehen. Dazu gibt es weiterhin sehr starre Grenzen, wie die, dass die Bachelor-Arbeit maximal zwölf Leistungspunkte groß sein darf, was umgerechnet 360 Arbeitsstunden entspricht. In vielen Fächern ist es schlicht unmöglich, in diesem Rahmen eine umfassende wissenschaftliche Arbeit zu verfassen. Das heißt: Es gab Erleichterungen, aber leider oft nur geringfügige, und vielfach werden vorhandene Spielräume in der Praxis nicht ausgeschöpft. Zum Teil sind seit 2010 sogar Fehlentwicklungen eingetreten, etwa die, dass in jedem Modul nun grundsätzlich am Semesterende eine Abschlussprüfung abzulegen ist. So wird das Studium zur reinen Paukerei.
Was wünschen Sie sich?
Es braucht wieder den Blick für die Realität, dafür, was wirklich los ist an den Hochschulen. Nehmen wir das BAföG, das seit 2010 nicht mehr erhöht wurde. Im Förderhöchstsatz ist eine Wohnraumpauschale von 224 Euro vorgesehen, im Durchschnitt kostet eine Unterkunft heute aber ein Drittel mehr. Wo ist die Vision der Verantwortlichen, das festgefahrene System mit neuer Dynamik zu beleben? Die neue Ministerin Johanna Wanka (CDU) hat seit ihrem Amtsantritt im Frühjahr vielleicht zwanzig Reisen unternommen, 200 Hände geschüttelt, ein paar Verträge abgeschlossen und drei Deutschlandstipendiaten geehrt. Hochschulpolitisch habe ich wenig mitbekommen. Warum meldet sie sich nicht mal mit einer Idee zu Wort, wo man merkt, hier werden Probleme angepackt mit dem Ziel, etwas zu ändern? Aber nichts passiert. Dabei gibt es Zündstoff ohne Ende: Was passiert mit der Exzellenzinitiative nach 2017? Wie will man den Befristungsmissbrauch an den Hochschulen beenden? Wie sollen die Hochschulen, wie soll Bildung in 20 Jahren aussehen?
Wegen all dieser Dinge gingen vor vier, fünf Jahren Studierende zu Zehntausenden auf die Straße. Heute tut sich dagegen nichts mehr in Sachen Proteste. Kein Wunder, dass sich die Politik zurücklehnt und sagt, alles ist gut, oder?
Im Sommer 2009 waren im Rahmen der bundesweiten Bildungsstreikaktivitäten an einem Tag 230.000 Studierende, Auszubildende und Schüler in über 70 Städten auf der Straße und über 100 Hörsäle besetzt. Nur das, was man am Ende an Verbesserungen erreicht hat, blieb rückblickend leider meilenweit hinter den Zielen zurück, die man damals artikuliert hatte. Ich denke, wir sollten versuchen, noch einmal eine solche Bewegung auf die Beine zu stellen und uns nicht mit ein paar halbseidenen Korrekturen abspeisen zu lassen. Man sollte sich dabei auch nicht scheuen, die Mittel der Studierendenschaften zu bündeln – Geld, Engagement und Kreativität gleichermaßen –, um noch einmal so viele Studierende wie damals oder mehr auf die Straße zu kriegen. Nur so kann man etwas verändern, und vielleicht auch wieder ein wenig mehr Politisierung an die Hochschulen bringen.
Angesichts der Grabesstille der letzten zwei, drei Jahre klingt das doch ziemlich blauäugig …
Es ist schon richtig: Im Bologna-Alltag bleibt leider wenig Zeit und Platz dafür, sich über die eigene Situation und die der Hochschulen und der Gesellschaft Gedanken zu machen. Ich glaube aber, dass im Zeitverlauf immer wieder ein kritischer Moment kommt, an dem die Menschen sich und andere aufrütteln und neue Energien und Ideen entwickeln, um sich zu organisieren. Ich glaube und hoffe, dass das in den nächsten Jahren passieren wird. (rw)