Kampagne zur BundestagswahlMacht die Bildungsrepublik wahr!
... eine Menge Unterstützung!
Studis Online: Als ich "Bildung braucht" zum ersten Mal gehört habe, dachte ich gleich: Da fehlt doch was. Dann erst hat es bei mir Klick gemacht, und ich begriff, dass es genau darum geht, nämlich die Worte zu einem Satz zu ergänzen. Haben Sie keine Sorge, dass sich die Leute über den Titel Ihrer Kampagne wundern?
Steffen Regis: Sorge nicht, denn genau was Sie beschreiben war unser Ziel: Die Leute dazu anregen, darüber nachzudenken, was für sie persönlich Bildung braucht. Das funktioniert auch ganz hervorragend, denn innerhalb kürzester Zeit bekamen wir sehr viel Resonanz auf diese offene "Frage". Von "Bildung braucht Chancengleichheit" bis "Bildung braucht leider immer noch die richtigen Eltern" war da viel dabei, was wir gerne aufgegriffen haben.
Und was steht für Sie ganz oben auf der Prioritätenliste? Was meinen Sie, "braucht Bildung" heutzutage ganz besonders?
Bildung braucht Priorität! So haben wir letztendlich auch unsere Petition betitelt, da wir glauben, dass die Bildungspolitik nicht weiter so kümmerlich behandelt werden darf, wie es momentan geschieht. Vor allem brauchen wir mediale Aufmerksamkeit und Druck für das Thema und eine ernsthafte politische Diskussion ohne die üblichen Lippenbekenntnisse. Jeder Mensch soll die bestmöglichen Bildungschancen bekommen, weshalb wir ein frei zugängliches, sozial gerechtes Bildungssystem brauchen. Oder anders ausgedrückt: Wer studieren will, soll das auch tun können und nicht erst auf den Geldbeutel der Eltern schauen müssen. Wir brauchen aber auch eine gute Infrastruktur für die Bildungslandschaft. Denn momentan fehlt es doch an allem: an Kita-Plätzen, Ausstattung in den Schulen, Plätzen in Seminarräumen usw. Daneben ist über Jahrzehnte die soziale Infrastruktur wie beispielsweise genügend Wohnheimplätze gänzlich vernachlässigt worden. Das ist auch so ein Missstand, der beseitigt werden muss. Und wenn wir, wie die Bundeskanzlerin behauptet, in der "Bildungsrepublik" leben, dann kann es doch auch nicht sein, dass Menschen, die in dieser arbeiten, seien es Erzieherinnen oder wissenschaftliche Mitarbeiter, nicht von ihrem Gehalt leben können und nur befristete Arbeitsverträge erhalten. Diese Formen prekärer Beschäftigung müssen endlich unterbunden werden.
Um all das zu realisieren, bräuchte es wohl vor allem eines: Mehr Geld. Können Sie beziffern, um wie viele Milliarden Euro das deutsche Bildungssystem unterfinanziert ist?
Steffen Regis studiert Geographie und Rechtswissenschaften an der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel und ist dort Vorstandsmitglied im Allgemeinen Studierendenausschuss (AStA). Er ist einer der beiden Sprecher der bundesweiten Kampagne "Bildung braucht …". Diese setzt sich aus Anlass der bevorstehenden Bundestagswahl für ein besseres und gerechteres Bildungssystem in Deutschland ein.
Ja, das ist richtig, wir brauchen mehr Geld im Bildungssystem! In einer Studie der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW) wurde 2011 festgestellt, dass rund 57 Milliarden Euro zusätzlich gebraucht werden, um einen optimalen Standard herzustellen. Und wir reden hier von 57 Milliarden Euro pro Jahr. Hinzu kämen einmalig rund 45 Milliarden Euro, allein nur um die Mängel in der Infrastruktur abzubauen. Da kann einem schon mulmig werden, wenn man hier lesen muss, dass zum Beispiel für ein gutes Betreuungsverhältnis und ausreichend Plätze in Kindertagesstätten rund neun Milliarden Euro mehr benötigt werden. Für die Verkleinerung von Klassen, eine gute Ganztagsbetreuung und funktionierende Inklusion wären 27 Milliarden Euro nötig, für die Verbesserung der beruflichen Bildung und Weiterbildungsangebote rund 9,5 Milliarden Euro. Das alles wohlgemerkt pro Jahr. Im Hochschulbereich, der uns besonders betrifft, wären rund 14 Milliarden Euro pro Jahr mehr erforderlich, um eine gesicherte Studienfinanzierung für alle Studieninteressierten und die Zahl an Studienplätzen zu schaffen, die benötigt werden. Dabei muss man sagen, dass es bundesweit mehr als eine Hochschule gibt, die kurz vor der Baufälligkeit steht. Wenn man sich all diese Zahlen anschaut, kann einem schon schwindlig werden, aber das ist eben der momentane Stand in Deutschland.
Ihre Kampagne soll die letzten hundert Tage des Bundestagswahlkampfes begleiten. Machen Sie sich Illusionen, irgendeiner der konkurrierenden Parteien jährlich 60 Milliarden Euro aus dem Kreuz zu leiern zu können?
Vor allem wollen wir erst einmal die Wählerinnen und Wähler darüber informieren, dass die von Angela Merkel 2008 ausgerufene "Bildungsrepublik" nicht in die Realität umgesetzt wurde und wir stattdessen kumulierende Mängelverwaltung betreiben. Vor allem im Bereich der Infrastruktur erleben wir, wie es von Jahr zu Jahr schlimmer wird. Dabei muss man erwähnen, dass die Unterfinanzierung ein Problem ist, welches ungefähr seit den 1970er Jahren existent ist.
Die Politik muss sich überlegen, ob man den Bildungsbereich – den Kern eines demokratischen Staates – weiterhin so verkommen lassen will oder jetzt investiert. Die Sonntagsreden, die man bislang hierzu anhören musste, sind unerträglich. Wir müssen alle gemeinsam darauf drängen, dass nicht nur Versprechen gemacht werden. Es müssen auch konkrete Maßnahmen getroffen werden, welche nicht nur "Leuchttürme" fördern, sondern der Finanzierung des gesamten Bildungssystems dienen. Bildung braucht Planbarkeit und Sicherheit – vor allem aber ein radikales Umdenken.
Nimmt man Anspruch und Wirklichkeit der Bildungspolitik der vergangenen Jahrzehnte, dann dürfte man doch eigentlich gar keine Partei wählen, oder?
Nicht wählen ist sicherlich immer die schlechteste Lösung, aber die Bildungspolitik der vergangenen 40 Jahre hat uns in die jetzige Misere geführt und es darf einfach kein "Weiter so" geben.
Aber gibt es nicht doch eine Partei, bei der Sie sich mit Ihren Forderungen noch am ehesten aufgehoben fühlen?
Wir haben von Anfang an klargemacht, dass wir eine überparteiliche Kampagne initiieren wollen, die unmittelbar von den Betroffenen ausgeht. Dabei bleiben wir auch.
Wer sitzt dabei alles mit im Boot?
Wir haben eine große Zahl an unterstützenden Studierendenvertretungen aus der ganzen Republik mit im Boot, dazu Landesstudierendenvertretungen und den bundesweiten studentischen Dachverband fzs als Unterstützer. Aber auch von vielen Einzelpersonen haben wir durchaus Unterstützung bekommen, seien es ein Uni-Präsident, Schülerinnen und Schüler, Dozenten oder Eltern, die keinen Platz für ihr Kind in der Kita gefunden haben.
Auf Ihrer Webseite sind neben dem "freien zusammenschluss von studentInnenschaften" (fzs) rund 15 Asten und dazu ein paar wenige Landeastenvertretungen namentlich aufgeführt. Was ist mit dem großen Rest?
Es gibt bundesweit großes Wohlwollen für die Kampagne, insbesondere für die Betonung des bestehenden Finanzierungsdefizits. Viele Studierendenvertretungen haben da auch ideelle Unterstützung signalisiert, haben aber zum Teil keine Leute, die die Kampagne aktiv unterstützen könnten. Zudem decken die Landesstudierendenvertretungen etliche Strukturen ab, die nicht noch extra genannt werden. Wir suchen aber weiterhin nach Unterstützern und freuen uns über neue, auch nichtstudentische Interessierte.
Könnte manch einem womöglich Ihr umfassender bildungspolitischer Ansatz zu weit gehen? Anders gefragt: Sollten Studierende nicht zu allererst die Hochschulen in den Blick nehmen?
Das mag manch einen vielleicht irritieren. Aber tatsächlich ist es ein bekanntes Problem, dass von Seiten der Politik gerne ein Bereich gegen einen anderen ausgespielt wird. Das wollen wir verhindern, denn es darf nicht sein, dass die Hochschulen jetzt eine Finanzspritze bekommen, dafür aber in den Schulen der Putz von den Wänden bröckelt. Zudem kann kein Teil des Bildungssystems ohne die anderen sinnvoll funktionieren. Gute Hochschulen brauchen gute Schulen, und wenn wir allen Kindern die bestmöglichen Bildungschancen geben wollen, dann muss dafür in der frühkindlichen Bildung der Grundstein gelegt werden. Genauso war es uns wichtig, etwa die prekären Beschäftigungsverhältnisse an Bildungseinrichtungen anzuprangern, da auch diese für den Status des gesamten Systems symptomatisch sind. Genau für unseren umfassenden Ansatz wird uns auch viel Unterstützung bekundet, etwa von Hochschulmitarbeitern.
Für echtes bundesweites Aufsehen haben Studierende zuletzt vor vier, fünf Jahren mit der sogenannten Bildungsstreikbewegung gesorgt. Warum lässt sich daran heute nicht anknüpfen?
In der Zwischenzeit gab es – abgesehen von den erfolgreichen Protesten gegen Studiengebühren in Bayern – tatsächlich wenige öffentlichkeitswirksame Aktionen. Das liegt wohl zum einen daran, dass insbesondere Schüler und Studierende inzwischen in höchstem Maße über die ewig wiederkehrenden Ausreden von Seiten der Politik verdrossen sind. Da steckt der Frust schon tief, wenn man seit Jahren immer wieder auf zu wenig Personal, marode Infrastruktur und strukturelle Problem hinweist und immer wieder die gleichen Antworten bekommt.
Faktisch haben sich die Probleme doch sogar noch verschärft: Die Hochschulen sind überlaufen wie nie und unzureichend ausgestattet, der Bachelor ist bei vielen verrufen, es gibt zu wenige Master-Plätze, dazu plagen die Studierenden Wohnungsnöte. Es wirkt so, als ginge es umso stiller an den Unis zu, je größer der Leidensdruck ist. Ist da was dran?
Allerdings – den Eindruck kann man gewinnen. Schüler und Studierende stehen unter immer höherem Leistungsdruck, sei es wegen des Bachelor-Master-Systems oder des achtjährigen Gymnasiums G8. Hierunter leidet natürlich das ehrenamtliche Engagement, was wir in der studentischen Interessenvertretung jeden Tag spüren. Mancherorts hat man inzwischen wohl gemerkt, dass immer mehr Prüfungen und Leistungsdruck keine Allheilmittel sind, um die sogenannte Wettbewerbsfähigkeit zu erreichen. Hier müssen aber strukturelle Verbesserungen erfolgen, die es ermöglichen, dass jeder ein Studium wieder sinnvoll absolvieren kann. Aber vielfach lassen sich auch solche strukturellen Probleme auf das Finanzierungsdefizit herunterbrechen. Denn was ist eine Multiple-Choice-Klausur anderes als eine Sparmaßnahme, weil zu viele Studierende auf zu wenigen Studienplätzen studieren. Die Personalkapazitäten sind ja über Jahrzehnte mangels finanzieller Mittel nicht mit den immer steigenden Studierendenzahlen mitgewachsen.
Bund und Länder haben sich in der Vorwoche darauf verständigt, den Hochschulpakt um 4,4 Milliarden Euro nachzubessern. Damit wird gerade noch rechtzeitig vor der Bundestagswahl Druck aus dem Kessel genommen. Macht es die Geldspritze für Sie nicht schwerer, zu argumentieren?
Nein, ganz im Gegenteil. Das zeigt doch nur, dass ein Bedarf da ist, der aber mit diesen Mitteln bei weitem nicht gedeckt wird. Die Fortsetzung des Hochschulpakts war geradezu zwingend notwendig, damit keine radikalen Streichungen an den Hochschulen vollzogen werden mussten. Aber der Hochschulpakt bedeutet eben auch nur Löcherstopfen, ohne das Problem ganzheitlich anzugehen. Der Bedarf ist immens viel höher als das, was von der Politik bereitgestellt wird. Es gibt ja immer noch keinen Konsens über die generelle Abschaffung des Kooperationsverbots, welches dem Bund die Finanzierung von Bildungseinrichtungen verbietet, und man versteckt sich hinter der sogenannten Schuldenbremse. Beide Konstrukte zusammen lähmen jeden Fortschritt in Sachen Finanzierung des Bildungssystems, und deshalb fordern wir sowohl die Abschaffung des Kooperationsverbots für alle Teile des Bildungssystems und auch die Entkopplung von Bildungsausgaben von der Schuldenbremse.
Warum nur für den Bildungsbereich? Die Schuldenbremse liefert den Regierenden doch inzwischen für alle Bereiche der öffentlichen Daseinsvorsorge einen willkommenen Vorwand, den Rotstift anzusetzen.
Nun, wir haben auch lange über diesen Punkt diskutiert, sind aber dann überein gekommen, dass wir uns auf den Bildungsbereich beschränken wollen. Auch wenn die anderen Bereiche nicht weniger wichtig sind!
Was alles beinhaltet Ihre Kampagne? Was ist für die kommenden Wochen und Monate geplant?
Kern unserer Kampagne ist eine Online-Petition, mit der wir viele Leute erreichen wollen und eine niederschwellige Möglichkeit zum Mitmachen bieten. Diese ist auch enorm erfolgreich gestartet. Wir hatten binnen drei Tagen über 500 Unterschriften gesammelt und freuen uns sehr, dass darunter neben Studierenden auch viele Personen sind, die jetzt Eltern sind, an Schulen arbeiten oder sonst Vorlesungen halten. Daneben haben wir einen Trailer produziert, der die Kampagne vorstellt, der aber auch die Probleme verdeutlicht und unsere Kernforderungen verdeutlicht. Dieser läuft bei Youtube und wird über Facebook usw. verbreitet. Überhaupt haben wir sehr viel für Facebook und Twitter geplant, weil wir glauben, dass hierüber Themen in die Öffentlichkeit gebracht werden können, die sonst eher schwer in den Medien zu platzieren sind. Aber Genaueres wird noch nicht verraten.
Wollen Sie auch den Parteien auf die Pelle rücken, um Ihre Forderungen und Ihre Sicht der Dinge vorzubringen?
Aber sicher! Diese sind es schließlich, die die Wahl gewinnen wollen, und diese sind es auch, die später für die Beseitigung der Finanzierungsmisere verantwortlich sind! Bildung braucht Verantwortliche in der Politik, die keine Wahlversprechen machen, sondern dafür sorgen, dass Bildung in Deutschland Priorität bekommt. (rw)