Vier Jahrzehnte NC-Urteil40 Jahre Verfassungsbruch
Studis Online: Am Mittwoch jährt sich das berühmte "Numerus-Clausus-Urteil" (NC-Urteil) des Bundesverfassungsgerichts vom 18. Juli 1972 zum vierzigsten Mal. Von welcher Tragweite war die Entscheidung seinerzeit und wie wirkt sie bis heute fort?
Numerus Clausus: Von einer "vorübergehenden Notmaßnahme" faktisch zur Dauereinrichtung geworden
Wilhelm Achelpöhler: Das Urteil ist so etwas wie die "Magna Carta" für das Bildungsrecht. Es formuliert den Anspruch praktisch jedes Abiturienten darauf, dass sämtliche an den Hochschulen vorhandenen Kapazitäten auszuschöpfen sind, um so viele Bewerber als möglich mit einem Studienplatz im Wunschfach zu versorgen. Es erlegt dem Gesetzgeber außerdem die Verpflichtung auf, für den Fall eines bestehenden Mangels an Studienplätzen diesen doch im mindesten gerecht zu verwalten, so dass jeder Interessent eine Zulassungschance hat. Für die damalige Zeit markierten beide Klarstellungen einen riesigen Fortschritt. Bis dahin gab es so gut wie keine gesetzliche Norm, wie die wenigen vorhandenen Studienplätze zu verteilen sind. Denn es herrschte wie heute ein regelrechtes Zulassungschaos ...
... in welcher Größenordnung?
1967 gab es rund 50.000 Studienanfänger. Das war für die damalige Zeit immens viel und Ausdruck des erklärten politischen Willens, die Studierendenzahlen deutlich zu erhöhen. Ende der 1970er Jahre studierten doppelt so viele Menschen wie 20 Jahre zuvor. Allerdings hielt der Hochschulausbau mit der Entwicklung nicht mit, was zur Einführung des NC führte, vor allem für die kostenintensiven Studienplätze. Die Folge war, dass beispielsweise in der Medizin die Anfängerzahlen zwischen 1962 und 1969 auf die Hälfte einbrachen. 1970/71 wurden 70 Prozent der Bewerber abgelehnt, 11.000 Bewerbern standen nur 3.000 Studienplätze gegenüber. Angesichts solcher Zustände wurde der NC allmählich als Missstand empfunden, den man überwinden müsse.
Was aber faktisch bis heute nicht gelungen ist.
Leider ja. 40 Jahre danach ist das Chaos eigentlich nicht sehr viel kleiner geworden. In den harten NC-Fächern gibt es heute nur für jeden fünften Bewerber einen Studienplatz, während damals immerhin jeder vierte versorgt wurde. Heute wie damals braucht man beste Schulnoten, um überhaupt eine Chance zu haben, genommen zu werden. Und heute wie damals gibt es skandalös lange Wartezeiten. Aktuell muss man mitunter sechseinhalb Jahre warten, bis man einen Medizinplatz bekommt. Deshalb hat jüngst das Verwaltungsgericht Gelsenkirchen festgestellt, das sei verfassungsrechtlich nicht mehr hinnehmbar.
Darauf kommen wir später noch zurück. Zunächst zurück zum NC-Urteil. Karlsruhe entschied vor 40 Jahren, dass aus dem per Grundgesetz gewährleisteten Grundrecht der Berufsfreiheit in Verbindung mit dem allgemeinen Gleichheitssatz und dem Sozialstaatsprinzip ein Recht auf Zulassung zum Hochschulstudium folgt. Wie konnte auf dieser Grundlage überhaupt ein NC weiterbestehen?
Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts lassen immer auch entscheidende Fragen offen – auch beim NC-Urteil war das nicht anders
Weil die Verfassungsrichter eine Frage offen ließen, nämlich die, ob es auch eine Verpflichtung des Staates zur Schaffung zusätzlicher Studienplätze geben muss. Nach Auffassung des Gerichts sollte dies dem Haushaltsgesetzgeber überlassen bleiben – auch vor dem Hintergrund, dass es in den behandelten Fällen um die sehr teuren Studiengänge handelte. Zurückhaltung übten die Richter auch in einem zweiten Punkt: Anders als etwa das Verwaltungsgericht Hamburg– und später auch die westdeutsche Rektorenkonferenz – hielten sie den NC nicht nur als vorübergehende Notmaßnahme für statthaft. Zwar bewege sich der am Rande des verfassungsrechtlich Hinnehmbaren, befanden sie. Die eigens aufgeworfene Frage, ob sich daraus ein "objektiver sozialstaatlicher Verfassungsauftrag zur Bereitstellung ausreichender Ausbildungskapazitäten" ergibt, ließen sie aber unbeantwortet.
Soll heißen: Ein Recht auf Ausbildung gibt es, aber keines auf einen Ausbildungsplatz. Das erscheint einigermaßen schizophren, oder?
Von der schönen Ausbildungsfreiheit kann man sich natürlich solange nichts kaufen, wie man keinen Studienplatz hat. Das Bundesverfassungsgericht hat hier keine Farbe bekannt. Es drückte sich davor festzustellen, dass alle ihr Recht auf Ausbildung wahrnehmen können, und stellte statt dessen die Verantwortung des Staates unter den "Vorbehalt des Möglichen", also des Finanzierbaren. Diese Crux verfolgt uns bis heute.
An anderer Stelle haben Sie gleichwohl gewürdigt, die Entscheidung hätte "dem planerischen Ermessen der Universitätsbürokratie erhebliche Grenzen" gesetzt und "Tausende Studierende" verdankten ihr einen Studienplatz. War das Urteil nicht immerhin ein Impulsgeber für den Hochschulausbau der folgenden Jahrzehnte?
Unser Interviewpartner Wilhelm Achelpöhler ist Fachanwalt für Verwaltungsrecht und Spezialist für Hochschulrecht. Während seines Studiums war er Studentenvertreter im Allgemeinen Studierendenausschuss (AStA), nach seinem Studium und Referendariat Wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Uni Münster. Er ist Partner der Sozietät Meisterernst Düsing Manstetten in Münster, die seit den 70er Jahren mehrere hundert Studierende "eingeklagt" hat.
Das politische Programm, die Hochschulen auszubauen, war ja schon vor dem Urteil auf den Weg gebracht worden. Nach dem Entscheid wurden die vorhandenen Ausbildungskapazitäten an den Hochschulen allerdings effektiver ausgeschöpft. Einem Professor konnten in der Folge zum Beispiel nicht einfach Abstriche von seiner Lehrverpflichtung genehmigt werden. Will er etwa von neun auf sechs Pflichtstunden reduzieren, dann muss das gerechtfertigt sein, worüber schlussendlich juristisch zu entscheiden ist. Genauso können ohne Prüfung der Erforderlichkeiten nicht mal eben alte Behandlungsstühle für Zahnärzte ausrangiert werden. Der Einsatz der Kapazitäten an den Hochschulen wird von den Gerichten seit nunmehr 40 Jahren immer wieder neu überprüft. Jedes Jahr werden zum Beispiel in den harten NC-Fächern allein 400 zusätzliche Studienplätze verteilt, weil Kläger sich erfolgreich dagegen wehren, dass vorhandene Studienplätze nicht von vornherein voll besetzt werden. Dazu kommt eine Reihe an Verbesserungen, die aus Folgeurteilen des Verfassungsgerichts resultieren: Die Teilzulassung in der Humanmedizin beispielsweise oder die Möglichkeit des Quereinstiegs in ein NC-Fach.
Ursprünglich war der NC als "vorübergehende Notmaßnahme", eben als Ausnahme von der Regel, konzipiert. Ist er heute nicht fast schon der Normalfall?
Noch einmal: Heute stehen die Chancen auf einen Medizinplatz schlechter als vor 40 Jahren. Die Lage hat sich also faktisch weiter verschärft, und die Einlösung des vom Bundesverfassungsgericht formulierten Grundrechts steht leider nach wie vor in der Sternen.
Gehen wir mal weg von den harten NC-Fächern. Inzwischen sind fast sämtliche Studiengänge mit örtlichen Zulassungsbeschränkungen belegt. In Berlin zum Beispiel gibt es den NC nahezu flächendeckend. Wie bewerten Sie das?
Der NC ist in der Tat zu einer Dauereinrichtung geworden. Inzwischen wird die Zulassungsgrenze, also die erforderliche Note, quasi als Gütesiegel eines Studiengangs gehandelt. Eigentlich drückt der NC ja einen Missstand aus, nämlich den, dass die Zahl der Studienplätze den Bedarf nicht deckt. Heute lautet das Motto der Hochschulen dagegen: "Wir nehmen nicht jeden."
Welche Rolle in der Entwicklung spielt dabei die Umstellung auf Master und Bachelor im Rahmen der Bologna-Studienstrukturreform?
Die Situation hat sich weiter zugespitzt. Wollte man jedem Bachelor-Absolventen einen Master-Studienplatz zur Verfügung stellen, müssten die Kapazitäten deutlich ausgebaut werden. Nach den Plänen der Bologna-Reformer soll aber eigentlich nur eine Minderheit im Master weiterstudieren und der große Rest mit dem Bachelor ins Berufsleben einsteigen. Weil die Studierenden diesem Kalkül allerdings nicht Folge leisten und in der Mehrheit auf den Master orientieren, zeichnet sich schon jetzt ein gewaltiger Mangel an Master-Plätzen ab.
Gleichwohl werden die Kapazitäten im Rahmen des Hochschulpakts gerade ausgebaut, um dem Bedarf von momentan über zwei Millionen Studierenden irgendwie gerecht zu werden. Ihnen reicht das nicht?
Das ist erstens zu wenig, und zweitens werden die Mittel nicht richtig eingesetzt. Es werden vor allem Studienplätze geschaffen, die billig sind, beispielsweise in Jura oder den Geisteswissenschaften. In den harten NC-Fächern, wo Mehrkapazitäten richtig ins Geld gehen, herrscht entweder Stagnation oder die Entwicklung geht sogar dahin, Plätze abzubauen. Mancherorts ist der Kahlschlag sogar politisches Programm.
Wo ist das so?
In Nordrhein-Westfalen wurden zwischenzeitlich 40 Prozent der Medizinstudienplätze abgebaut. Auch in Sachsen geht es jedes Jahr vor den Gerichten um die Frage, ob an den Universitäten Dresden und Leipzig die Zahl der planmäßigen Studienplätze reduziert wird oder nicht.
Demnächst wird sich das Bundesverfassungsgericht einmal mehr mit der Materie befassen müssen. Das Verwaltungsgericht (VG) Gelsenkirchen hat im April den Fall eines Klägers, der nach über sechs Jahren Wartezeit noch keinen Medizin-Studienplatz erhielt, nach Karlsruhe verwiesen.
Das VG Gelsenkirchen ist bundesweit zuständig für alle Verfahren gegen die Stiftung für Hochschulzulassung, die Nachfolgeorganisation der ZVS. Das Gericht hat im April gleich mehrere Verfahren ausgesetzt und dem Bundsverfassungsgericht zur Prüfung auf Grundlage seines NC-Urteils vor 40 Jahren vorgelegt. Nach Auffassung der Verwaltungsrichter wird den damals formulierten Vorgaben heute nicht mehr genügt.
Was konkret wurde beanstandet?
Weder hat jeder eine realistische Chance auf einen Studienplatz, noch geht es beim Verteilungsverfahren gerecht zu. Wir haben damals wie heute exorbitante Anforderungen an die Note und nicht mehr hinnehmbare Wartezeiten. Über die Abiturbestenquote werden heute 20 Prozent der Studienplätze verteilt. In neun Bundesländern braucht man dafür eine Note von 1,0, in fünf weiteren von 1,1 und in zweien von 1,2. Solche Noten haben bestenfalls drei Prozent aller Studierenden. Auch im Hochschulauswahlverfahren kommt man nur mit einer überdurchschnittlichen Note zum Zug. Laut Verwaltungsgericht haben über 60 Prozent der Abiturienten eines Jahrgangs überhaupt keine Chance, über ihre Note einen Studienplatz zu erhalten. Und bei der Zulassung über die Wartezeit bestehen inzwischen Wartzeiten, die länger gehen als das ganze Medizinstudium. Das ist schlicht nicht zumutbar – und die Verwaltungsrichter sehen das genauso.
Wann ist mit einer Entscheidung in Karlsruhe zu rechnen?
Weil es um ein Hauptsacheverfahren geht, kann es bestimmt noch ein Jahr und länger dauern, bis sich das Gericht mit der Sache befasst. Aber es wird dies tun müssen, denn es gibt immer mehr Betroffene, die sich gegen Wartezeiten von sechs und mehr Jahren juristisch zur Wehr setzen. Nach Berechungen der Kultusminister haben wir es noch lange mit wachsenden Abiturjahrgängen zu tun. Erst 2025 soll das Niveau wieder auf dem des Jahres 2009 liegen. Der Mangel wird also noch größer werden, und es spricht sehr viel dafür, dass das NC-Urteil von vor 40 Jahren noch in den nächsten ein, zwei Jahrzehnten seine Aktualität behält.
Wie hoffnungsfroh blicken sie auf den bevorstehenden Entscheid?
Ich rechne schon mit einem positiven Ausgang. Wir erleben heute eine massive Ungleichbehandlung. Ein paar wenige landen mit ihrem herausragenden Schulabschluss sofort in ihrem Wunschstudium, während sehr viele andere jahrelang gar nichts haben. Diese Ungerechtigkeit schreit geradezu nach Gegenmaßnahmen. Meine Befürchtung ist allerdings die, dass die Diskussion dahin geht, die Ausgangsthese des Bundesverfassungsgerichts aufzulösen, wonach jeder Abiturient grundsätzlich für jedes Studium geeignet ist. Wir erleben schon heute Versuche in einigen Bundesländern, das Abitur zu entwerten. Beispielsweise gibt es mancherorts Überlegungen, die Hochschulen zu ermächtigen, die Notwendigkeit von Zusatzqualifikationen wie etwa spezieller Fremdsprachenkenntnisse als neue Hürde hochzuziehen. Das ist eine sehr bedenkliche Entwicklung.
Wie schätzen Sie die Aussicht ein, dass die Gerichte den Staat in absehbarer Zeit dazu verdonnern, die Ausbildungskapazitäten an den Hochschulen an den tatsächlichen Bedarf anpassen?
Darauf werden wir leider noch sehr lange warten müssen. Das würde auch eine bestimmte Auffassung von Sozialstaatlichkeit voraussetzen, die der gegenwärtigen neoliberalen Epoche viel mehr abgeht als etwa den 1970er Jahren. Ich wäre schon sehr dankbar, wenn die Gerichte den Abbau von Studienplätzen stärker kontrollieren würden.
(rw)
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