Rückkehr nach 35 JahrenBaden-Württemberg führt Verfasste Studierendenschaft (wieder) ein
Studis Online berichtete bereits über die Debatten während des Gesetzgebungsverfahrens. Die neue baden-württembergische Regierung hatte vor einigen Monaten die Initiative ergriffen und einen Gesetzentwurf zur Wiedereinführung der Verfassten Studierendenschaft in diesem Bundesland in den Landtag eingebracht. Heute wurde das entsprechende Gesetz schließlich verabschiedet. Worum geht es dabei?
Erik Marquardt ist 24 Jahre alt, studiert Politik, Verwaltung und Soziologie an der FernUni Hagen und Chemie an der TU Berlin.
Er ist im Vorstand des freien zusammenschlusses von studentInnenschaften (fzs), dem Dachverband der Studierendenschaften in der Bundesrepublik.
Erik Marquardt: Ende der 70er-Jahre wurde die Verfasste Studierendenschaft (VS) – eine besondere Rechtsstruktur, die studentische Interessenvertretung und Selbstverwaltung ermöglicht – durch die damalige Landesregierung Baden-Württembergs abgeschafft. Über 30 Jahre lang wurden die Studierenden seitdem offiziell von einem "AStA" (Allgemeiner Studierendenausschuss) vertreten, der sich nicht (hochschul-)politisch äußern durfte und kein eigenes Geld zur Verfügung gestellt bekam. Von wirklicher Interessenvertretung kann dabei allerdings keine Rede sein. Die aktiven Studierenden haben sich viel Mühe gegeben, konnten aber auf keine unabhängige Struktur zurückgreifen.
Die neue Regierung hat durch das verabschiedete Gesetz die Verfasste Studierendenschaft wieder eingeführt, womit es diese nun in immerhin 15 der 16 Bundesländer wieder gibt. Nur Bayern hat – ebenfalls seit den 1970ern – keine.
Der zum Thema ursprünglich eingebrachte Gesetzentwurf war aber unter anderem von den Studierenden vor Ort und von Euch als Bundesstudierendenvertretung noch deutlich kritisiert worden. Heute ist das Gesetz nun in geänderter Form (vgl. hier verabschiedet worden. Was war Eure Kritik am ursprünglichen Gesetzentwurf – und ist diese nun berücksichtigt und im verabschiedeten Gesetz umgesetzt worden?
Wir sind natürlich erfreut, dass die Studierenden in Baden-Württemberg nun mit der Verfassten Studierendenschaft endlich wieder eine starke Interessenvertretung haben werden. Allerdings droht die VS durch manche Regelungen mit angezogener Handbremse eingeführt werden zu müssen.
Der Hauptkritikpunkt ist die Einführung eines sogenannten Haushaltsbeauftragten. Diese Person soll dann neben der üblichen Rechtsaufsicht durch die Hochschulen, den Landesrechnungshof und den Angestellten oder ehrenamtlich Aktiven der Studierendenschaft den Haushalt kontrollieren. Diese Beauftragte ist leider Ausdruck eines Generalverdachts gegenüber der Selbstverwaltung der Studierenden, aber auch gegenüber den üblichen Kontrollinstanzen. Natürlich muss die entsprechende Person dann entsprechend qualifiziert sein und von Geldern der Studierenden bezahlt werden. In kleineren Studierendenschaften werden die Kosten dafür einen erheblichen Teil der Beiträge ausmachen, die von den Studierenden sicherlich lieber für inhaltliche Arbeit oder Serviceangebote verwendet werden würden. Im beschlossenen Gesetz wurde die Kritik insoweit aufgenommen, dass in Ausnahmefällen auf eine derartige Instanz verzichtet werden kann.
Leider wurde im Gesetz nicht geregelt, inwiefern die Studierendenschaften die Einrichtung ihrer Ersatzstrukturen weiter nutzen dürfen. Es drohen daher Streitigkeiten um angemessenen Raumbedarf, aber auch um Kompetenzen. Das Studierendenwerk muss beispielsweise nach den derzeitigen Regelungen zustimmen, wenn bereits vorhandene Angebote des Studierendenwerks durch die Studierendenschaft erweitert werden. Die Studierenden hatten sich auch gewünscht, dass sie auf Vollversammlungen zum Beispiel Vertreter*innen von Fachbereichen wählen können. Das ist leider ausgeschlossen. Auf einige Kritikpunkte wurde allerdings auch eingegangen.
Ist das Gesetz nun dennoch als Erfolg zu werten – und wie soll es weitergehen?
Auch wenn Details des Gesetzes noch besser hätten ausfallen können: Herzlich Willkommen Verfasste Studierendenschaft in Baden-Württemberg!
Ja. Das Gesetz ist ein Erfolg jahrzehntelangen Engagements verschiedener Studierendengenerationen.
Es bietet eine tolle Möglichkeit starke Interessenvertretungen aufzubauen. Diese Möglichkeiten müssen nun genutzt werden. Das funktioniert nur, wenn die Studierenden, die Hochschulen, aber auch die Politik den Prozess aktiv unterstützen. In den kommenden Monaten müssen Vorschläge für die zukünftigen Strukturen an den jeweiligen Hochschulen erstellt werden, über die dann unter allen Studierenden abgestimmt wird. Wenn die Struktur dann festgelegt ist, wird sehr viel Arbeit anfallen: Die Studierenden müssen motiviert und informiert, die jeweiligen Studierendenvertretungen gewählt, Räume bereitgestellt, Einrichtung angeschafft, Arbeitskreise gegründet, Beratungen eingerichtet und Veranstaltungen geplant werden. Danach muss dafür gesorgt werden, dass Studierende an den Hochschulen und in der Politik ernst genommen werden. Wir versuchen die Studierendenvertretungen in Baden-Württemberg beispielsweise durch ein Tandemprojekt zu unterstützen. Dadurch sollen Studierendenschaften aus anderen Bundesländern die Einführung der VS in BaWü Hochschulen unterstützen, Erfahrungen weitergeben und auch selbst viel dazulernen. Perspektivisch müssen wir uns dann gemeinsam dafür einsetzen, dass auch in Bayern Verfasste Studierendenschaften eingeführt werden und dass die Hochschulgremien demokratisch von allen Hochschulangehörigen bestimmt werden.
Was haben die Studierenden vor Ort nach der Verabschiedung dieses Gesetzes denn nun konkret zu erwarten; was genau verbessert sich für diese denn nun im Studienalltag durch diese Stärkung ihrer Interessenvertretung?
Viele Studierende merken in ihrem Studienalltag viel zu selten, wie sehr studentische Hochschulpolitik ihnen das Studium und das Leben erleichtert. Ob Abschaffung von Anwesenheitspflichten, Erleichterung von Zugangshürden, Mittelverteilung für die Lehre oder Verbesserung der Kinderbetreuungssituation. Engagierte Studierende versuchen dafür zu sorgen, dass das Studium studierbar bleibt und setzen sich für die Mitmenschen ein. Der Bolognaprozess beziehungsweise die neoliberale Hochschulreform hat vielerorts zu Verschlechterungen geführt, denen entgegengewirkt werden muss.
Durch die VS wäre aber zum Beispiel auch ein gemeinsames Semesterticket für ganz Baden-Württemberg möglich, es können unabhängige Beratungsangebote eingerichtet werden und es können viele Projekte von Studierenden unterstützt werden. Die Studierenden können sich politisch für ihre und andere Interessen einsetzen und sich auch im gesellschaftspolitischen Rahmen einbringen. Das ist eine tolle Erfahrung und wird auch dafür sorgen können, dass die Hochschulen mehr gesellschaftliche Verantwortung übernehmen können.
…politisch dürfen Sich diese Interessenvertretungen aber nicht äußern? Das heißt, für besseres Mensaessen darf man streiten, die Prekarisierung im Akademikerarbeitsmarkt zu kritisieren bleibt aber Tabu?
Im Hochschulgesetz sind die Aufgaben der Verfassten Studierendenschaft festgelegt und die Studierenden dürfen sich nur zu Themen äußern, die diese Aufgaben betreffen. Obwohl die Aufgaben in Baden-Württemberg recht weit gefasst sind, ist diese Einschränkung nicht zu verstehen.
Wenn man sagen darf, dass die Hochschulen unterfinanziert sind, muss man auch sagen können, wo das Geld herkommen kann. Außerdem muss es doch die Aufgabe von Studierenden sein, beispielsweise für Verbesserungen von Arbeitsbedingungen zu streiten. Schließlich kann man gute Lehre auch nur dort erwarten, wo es auch gute Arbeitsbedingungen gibt. Ich verstehe auch nicht, warum man die Studierenden nicht eher dazu motiviert, sich für politische Debatten zu interessieren und sich auch im gesamtgesellschaftlichen Bereich einzusetzen. Stattdessen werden Studierendenvertretungen verklagt und abgeschreckt, wenn sie sich zu allgemeinpolitischen Themen äußern. Das ist natürlich absurd. Wenn die Politik Angst vor der Artikulation von Meinungen hat und sie verbietet, macht sie ja nicht gerade Demokratiewerbung.
Ich hoffe, dass die Studierenden sich von derlei Maulkörben in Zukunft einfach nicht mehr beeindrucken lassen werden.
Vielen Dank für das Gespräch.