Licht und SchattenNationaler Bildungsbericht
Angesichts der für Deutschlands Hochschulen ermittelten Befunde des am vergangenen Freitag vorgestellten vierten Berichts "Bildung in Deutschland 2012" beklagte der Präsident des Deutschen Studentenwerks (DSW), Dieter Timmermann in einer Presseerklärung: "Hochschulbildung droht zu einer Art Statusvererbung von Akademikern zu werden, die sich weitgehend selbst reproduzieren." Man brauche aber "alle begabten jungen Menschen aus allen sozialen Schichten". Ob jemand studiere oder nicht, "darf nicht davon abhängig sein, ob seine Eltern schon studiert haben".
Absoluter Stillstand herrscht zwar nicht – aber mit dem Abbau der sozialen Selektivität tut sich Deutschland im Bildungsbereich sehr schwer
Genau dies ist hierzulande aber die Regel. Die von Bund und Ländern beauftragten Forscher unter Leitung des Deutschen Instituts für Internationale Pädagogische Forschung (DIPF) haben errechnet, dass im Jahr 2009 von 100 Kindern, deren Eltern einen Hochschulabschluss haben, 77 den Weg an die Hochschulen fanden. Dagegen studierten gerade einmal 13 von Hundert Kindern, deren Mütter und Väter lediglich die Hauptschule abgeschlossen hatten. Auch wenn Jugendliche eine Hochschulzugangsberechtigung erreicht hätten, "variiert die Studierwahrscheinlichkeit mit dem Bildungshintergrund im Elternhaus – selbst bei gleicher Schulleistung«, konstatieren die Autoren der Studie. Studienberechtigte Kinder, deren Eltern eine Lehre bzw. keine berufliche Ausbildung vorweisen können, studierten 2010 zu 62 Prozent. Akademikerkinder mit Hochschulticket taten dies zu 81 Prozent.
Jeder fünfte ist Bildungsverlierer
Die soziale Schieflage im deutschen Bildungswesen ist ein stets wiederkehrendes Thema seit der ersten PISA-Veröffentlichung im Jahr 2000. Die Politik hat in der Folge immer wieder Besserung gelobt, wirklich passiert ist aber nichts. Vielmehr hat sich die Situation weiter verschärft. Nach Ansicht der Wissenschaftler existiert inzwischen ein harter Kern von "Bildungsverlierern", der bis zu 20 Prozent der nachwachsenden Generationen umfasst. Betroffene Kinder und Jugendliche können nicht richtig lesen oder Texte verstehen, brechen die Schule vorzeitig ab, finden selten eine Lehrstelle, schließen ihre Ausbildung nicht ab, nehmen nicht an Weiterbildungskursen teil und bleiben auf dem Arbeitsmarkt praktisch chancenlos. Ein Drittel der jährlich rund eine Million Schulabgänger ohne Abitur bleibt in Warteschleifen oder Ersatzmaßnahmen hängen. "Es gibt eine Gruppe, die unten hängt und da nicht mehr rauskommt«, meinte dazu Thomas Rauschenbach vom Deutschen Jugendinstitut (DIJ) bei der Vorstellung des Berichts.
Opposition, Gewerkschaften und Bildungsverbände haben die Ergebnisse mit heftiger Kritik bedacht. "Die Schere zwischen Bildungsgewinnern und -verlierern geht weiter auf", bemängelte die Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW) in einer Pressemitteilung. "Ein Bildungssystem, das alle Kinder mitnimmt und bestmöglich fördert, wird zur Schicksalsfrage der Entwicklung unserer Gesellschaft", erklärte GEW-Chef Ulrich Thöne. Kai Gehring von der Bundestagfraktion der Grünen sprach von einem "Skandal" und einer "großen Verschwendung" von Fachkräftepotenzial. "In einer demografisch schrumpfenden Wissensgesellschaft darf Zukunft nicht von Herkunft abhängen und muss sozialer Aufstieg durch Bildung für alle ermöglicht werden." Rosemarie Hein von der Fraktion Die Linke monierte, die "schwache Antwort der Bundesregierung auf den diesen Zustand sind aktionistisch jährlich neuaufgelegte Bildungsprogramme".
Mehr Abiturienten und Studierende
Gleichwohl ist nicht alles schlecht, was die Bildungsberichterstatter herausgefunden haben. Immer mehr Jugendliche legen das Abitur ab, fast die Hälfte der Schüler erlangt inzwischen die Hochschulreife. Überhaupt spiegelt sie die wachsende Bildungsbeteiligung besonders augenfällig an den Hochschulen wider. 2011 haben über eine halbe Million junge Menschen ein Studium aufgenommen. Das waren so viel wie nie zuvor, gegenüber 2005 ist das ein Zuwachs um 45 Prozent.
Die Studienanfängerquote, das heißt der Anteil der Studienneulinge an der gleichaltrigen Bevölkerung, betrug im Vorjahr 55 Prozent. Damit wurde die beim "Bildungsgipfel 2008" in Dresden vereinbarte Zielmarke von 40 Prozent deutlich übersprungen, wenngleich der Durchschnittswert der in der OECD zusammengefassten Industriestaaten damit noch nicht erreicht ist. Begünstigt wird die Entwicklung auch durch den hohen Anteil an sogenannten Bildungsausländern. Jeder siebte Studierende an hiesigen Hochschulen ist nichtdeutscher Nationalität.
Allerdings hat die massenhafte Nachfrage nach höherer Bildung auch ihre Kehrseiten. Das geht los mit den Mehrkosten. Während die Bundesregierung von einem deutlichen Rückgang der Studierendenzahlen ab 2015 ausgeht, rechnen die Forscher mit einer anhaltend hohen Auslastung der Hochschulen bis 2025. Sie warnen deshalb vor einer "Unterdeckung der Zielzahlen des Hochschulpakts" die sich auf "etwa 300.000 Studienanfängerzahlen" summiere. Desgleichen "scheinen die Ausbauziele des Hochschulpakts 2020 schon bis 2015 unterdimensioniert zu sein", geben die Experten zu bedenken.
Abbrecherquote steigt weiter
Dass es sich in "Zeiten der Überfüllung" nicht gerade bestens studieren lässt, zeigt sich an der Zahl der Abbrecher. Vor allem Studierende im Bachelor schmeißen immer öfter die Brocken hin. 2010 waren es 28 Prozent gegenüber 25 Prozent im Jahr 2008. Bei den Diplom- und Magister-Studenten ging die Abbrecherquote dagegen von 27 Prozent (2008) auf 23 Prozent (2010) zurück. An den Universitäten führt der Bachelor übermäßig häufig nicht zum Ziel, hier steckten 35 Prozent der Betroffenen vorzeitig auf. In den Ingenieurwissenschaften und der Mathematik (MINT-Fächer) lag die Quote gar bei über 50 Prozent. Den Schwund dokumentiert auch die nach wie vor mäßige Absolventenquote, die beschreibt, wie viele Angehörige eine Jahrgangs in einem Prüfungsjahr ein Erststudium abschließen. Mit 29,9 Prozent lag diese 2010 weit hinter dem OECD-Mittel von 38 Prozent zurück.
Der "freie zusammenschluss von studentInnenschaften" (fzs) nannte es angesichts dieser Kennzahlen "erschütternd", dass Bundesregierung und Ländervertreter ihre Hochschulpolitik als Erfolg verkauften. Der Studierendendachverband wies in einer Medienmitteilung vor allem auf den Missstand künftig fehlender Master-Studienplätze hin. Laut Bildungsbericht nahmen 2010 mehr als drei Viertel der Bachelor-Absolventen ein weiterführendes Studium auf, zumeist ein Master-Studium. Engpässe in der Verfügbarkeit entsprechender Plätze bestünden "bislang noch nicht", schreiben die Forscher. Sollte das Streben nach einem Master aber "zum Grundmuster" werden, könnte es in den nächsten Jahren zu einem "deutlichen Nachfrageüberhang" kommen. In diesem Zusammenhang warnen die Autoren auch vor einer "weiteren Selektionsstufe in den Bildungsverläufen".
Schlecht bezahlter Bachelor
Die Politik rechnete bei der Umstellung auf das Bachelor-Master-System mit einer Übergangsrate von lediglich 30 bis 35 Prozent: Dass es ganz anders kam, hängt vor allem mit dem schlechten Ruf des Bachelor zusammen. Der gilt vielen als Schmalspurstudiengang, der auf dem Arbeitsmarkt nicht gefragt ist und schlecht vergütet wird. Auch hiefür liefert der Bildungsbericht Belege: Vor allem nach einem universitären Abschluss seien Bachelor-Absolventen "weniger gut bezahlt" als Berufseinsteiger mit traditionellem Studienabschluss. Zudem führte der Bachelor "öfter auf Positionen für qualifizierte Angestellte mit einer beruflichen Ausbildung oder in unterqualifizierte Tätigkeiten", heißt es weiter.
Der fzs zeigte sich zwar erfreut über den Anstieg der Studierendenzahlen, allerdings müsse dann auch die Infrastruktur mitwachsen. "Eine Verkürzung der Studienzeit kann nur über eine stärkere Betreuungsintensität, Studienberatung und qualitativ hochwertige Lehre erreicht werden." Leider liegt wohl auch hierbei noch vieles im Argen. Laut Bildungsbericht schätzen rund 40 Prozent der Studierenden die Studienbedingungen als "problematisch" ein. "Relativ kritisch gesehen werden Aufbau und Struktur der Studiengänge sowie die Unterstützungs- und Beratungsangebote an den Hochschulen, an den Universitäten insbesondere auch die hohen Studierendenzahlen in den Massenfächern."
Lehre unterfinanziert
Doch trotz der großen Herausforderungen – gerade durch den anhaltenden Massenandrang – spricht momentan wenig für die von Kritikern geforderte Offensive für die Lehre. Preisbereinigt sind die entsprechenden Ausgaben pro Studierendem von 2000 bis 2009 um magere 0,9 Prozent gestiegen. Dazu passt, dass sich laut Bildungsbericht eine Verschiebung in der Ressourcenausstattung der Hochschulen "zum Beispiel zugunsten drittmittelfinanzierter Forschung" vollzogen hat. Verglichen mit dem Jahr 2000 sind demnach die Ausgaben für Forschung um 45 Prozent und die für die Lehre nur um 35 Prozent gestiegen. Begünstigt worden sei dies vor allem durch den Anstieg der Drittmittelforschung durch die Exzellenzinitiative und die Ausweitung der öffentlichen Forschungsförderung (vgl. auch die Artikel Noch mehr Drittmittel, noch mehr ›Wettbewerb‹ und noch mehr Ungleichheit! – Förderranking 2012 der DFG und Elite contra Lehre: Kritik an Exzellenzinitiative). Die damit einhergehende "vertikale Differenzierung" in der Hochschullandschaft birgt nach Auffassung der Bildungsforscher Risiken, "wenn das Leitbild einer forschungsstarken Universität zum dominierenden Modell der Hochschulentwicklung wird." Eben darauf läuft heute vieles hinaus. (rw)
Quellen und weiteres zum Thema
- 4. Bildungsbericht (2012), Teil F: Hochschule (PDF-Datei)
- Bildungsbericht: Noch immer soziale Selektivität beim Hochschulzugang (Pressemitteilung des Deutschen Studentenwerk, 22.06.2012)
- Bildungsbericht 2012: Abbruchquoten seit Bologna deutlich höher und zukünftig großer Mastermangel (Pressemitteilung des freien Zusammenschluss von studentInnenschaften, 22.06.2012)
- GEW: "Die Schere geht weiter auf" (Pressemitteilung der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft, 22.06.2012)
- Nationaler Bildungsbericht: Mehr Kooperation wagen (Pressemitteilung von Kai Gehring, Sprecher für Bildungspolitik der Bundestagsfraktion Bündnis 90/DIE GRÜNEN, 22.06.2012)
- Bildungszusammenarbeit braucht neue Grundlagen (Pressemitteilung von Rosemarie Hein, bildungspolitische Sprecherin der Bundestagsfraktion DIE LINKE, 22.06.2012)
- Studieren in Zeiten der Überfüllung (Artikel bei Studis Online mit Tipps, was man tun kann; 20.10.2011)