Chronik 2004 bis 2012Einführung und Abschaffung der Studiengebühren in Hamburg
2004 / 2005
Der Lange Weg durch die Gerichtsbarkeiten & die Einführung der Campus-Maut
Rund 8 Jahre ist es mittlerweile her, dass in Hamburg erste Studiengebühren eingeführt worden sind. 2004 führte der damalige CDU-FDP- Schill Senat die so genannten "Langzeitgebühren" ein. Schon damals gab es bundesweite Proteste, gefolgt von gesellschaftlichen Diskussionen um ewig Studierende und Studienkonten.
2005 klagte der Hamburger Senat zusammen mit den Bundesländern Baden-Würtenberg, Sachsen, Sachsen Anhalt, Hessen, Bayern und dem Saarland gegen einen Teil des zu diesem Zeitpunkt gültigen Hochschulrahmengesetzes, dass Studiengebühren bundesweit verboten hatte. Die damalige rot-grüne Schröder-Fischer Bundesregierung hatte diese Klausel im Hochschulrahmengesetz verankern lassen, weil sie einer Erhebung von Studiengebühren in einzelnen Ländern hatte vorbeugen wollen. Am 26.01.2005 entschied das Bundesverfassungsgericht dann, dass Studiengebühren Ländersache seien. Dadurch wurde es der jeweiligen Politik in den einzelnen Bundesländern möglich, allgemeine Studiengebühren einzuführen.1
2005 / 2006
Summer of Resistance
Daraufhin begann in Hamburg der "Summer of Resistance". Der Widerstand richtete sich gegen mangelnde Mitsprachemöglichkeiten in hochschulpolitischen Angelegenheiten. Dabei ging es neben Hochschuletat-Kürzungen gegen die geplante Einführung des BA-MA-Systems und die drohende Einführung von allgemeinen Studiengebühren. An der Universität trugen auf einmal zahlreiche Studierende leuchtend gelbe T-Shirts, die mit "summer of Resistance" bedruckt waren. So auch am 16. Juni 2005, an dem es in Hamburg eine große Bündnis-Demonstration mit 10.000 Studierenden, Schüler_innen und Lehrenden gab, die sich gegen die Kürzungen im Bildungsbereich richtete.2 Ende dieser Aktionsphase bildete der Tag X am 29.11.2005. Eine lautstarke Demonstration mit 2000 Teilnehmenden zog gegen Studiengebühren in die Innenstadt und störte die Menschen im Vorweihnachtsrummel.
Ein Jahr später, 2006, gab es den "Summer of Resistance reloaded". Die politisch aktiven Studierenden versuchten so, die Studierendenschaft zusammenzuhalten. Die Proteste weiteten sich von Hamburg, Freiburg und NRW ausgehend nach Hessen aus.2a Es gab bundesweite Demonstrationen, wie am 06.07.2006 in Frankfurt am Main.3
Ungeachtet der Proteste beschloss die Bürgerschaft schon am 28.06.2006 das Studiengebührengesetz, Gebührenpflicht trat mit dem Sommersemester 2007 ein.3a
2007
In Hamburg werden allgemeine Studiengebühren eingeführt
500,-€ sollten nun alle – gleich welcher Herkunft, gleich welchen Lebensstandes, gleich welches hochschulpolitischen Postens ab sofort berappen. Auch wenn sie schon vor dem Sommersemester 2007 zu ganz anderen Bedingungen, nämlich in dem Glauben ihr Studium unentgeltlich abschließen zu können, damit begonnen hatten. Das Vertrauensschutzprinzip, welches bei Änderungen in staatlicher beihelfender Finanzierung immer eine Schonfrist als Übergangslösung vorsieht (wie z.B. bei der Kürzung der Kindergeldzahlungen von bis zu 27 Jahren auf 25), wurde hier nicht angewandt.
Nur für einige wenige Studierende wurden Befreiungstatbestände eingeführt. Für Menschen, die Kinder unter 14 erziehen und für chronisch Kranke. Außerdem für so genannte Begabte, die vermeintlich zukünftigen Leistungsträger. Nominiert von Professor_innen der jeweiligen Hochschulen.
Die Stadt Hamburg versuchte den Studierenden das Bezahlstudium mit einer Broschüre "Studiengebühren in Hamburg – ein Beitrag zu einem besseren Studium" schmackhaft zu machen.
Bis zu 45 Millionen Mehreinnahmen hätten die Hochschulen danach für so genannte zusätzliche Aufgaben in Studium und Lehre gehabt. Finanzieren sollten sich die mittellosen Studierenden das Ganze über so genannte zinsgünstige Kredite mit maximal 7,5% Zinsen bei der KfW (Kreditanstalt für Wiederaufbau). BAföG-Berechtigte wurden damit beworben, dass die Rückzahlungspflicht der Studienfinanzierung auf Pump bei Überschreiten einer Höchstgrenze von 17.000€ - zusammengesetzt aus BAföG-Schulden und Studiengebührenfinanzierungsschulden - enden würde.
Verschiedene Hamburger Banken, wie die HASPA, nutzen diese Gelegenheit, um auf ihre Weise Kredite an die Studierenden zu vergeben. (vgl. Übersicht Studienkredite)
Bewegung in der Hamburger Studierendenschaft – Boykott 2007
An der HfBK war der Protest gegen die Gebühren durchgehend am stärksten
2007 organisierte eine gut vernetzte Boykottgruppe nach und nach an allen öffentlichen Hamburger Hochschulen (außer an der Bundeswehruniversität, an der es keine Gebühren gab) den Studiengebührenboykott 2007, angelehnt an den Boykott der Hörgelder, 19704, bei dem 6000 Hamburger Studierende durch Verweigerung der Zahlung die Abschaffung der bis dato erhobenen Hörgelder erreicht hatte.
Das Ergebnis war allerdings nicht wie erhofft. Die Boykottgruppen hatten nicht wie 1970 prinzipiell zur Verweigerung der Zahlung aufgerufen, sondern Treuhandkonten eingerichtet, von denen die Gebühren weiter überwiesen worden waren, nachdem die von der Boykottgruppe festgesetzten Beteiligungsquoren nur knapp nicht erreicht wurden. Daher blieb diese Art des Protestes symbolisch und fand ein jähes Ende, obwohl sich allein an der Universität Hamburg - genau wie in den 70igern - über 6000 Studierende, am Boykott beteiligt hatten. Dazu kamen weitere 5000, die nicht auf das Boykottkonto eingezahlt hatten. Das zuvor festgesetzte Quorum von 10.000 wäre somit eigentlich erreicht gewesen. An der Hochschule für angewandte Wissenschaften (HAW) wurde das Quorum mit 90% Beteiligung fast erreicht. Auch an der technischen Universität (TU) hatte es eine hohe Beteiligung am Boykott gegeben. Doch die Studiengebühren wurden, weil im Boykottaufruf zuvor so angekündigt, fristgerecht an die Hochschulen weiter überwiesen.
Nur an der Hochschule für bildende Künste (HfbK) und im Anschluss daran zunächst auch an der Theaterakademie, einem Dekanat der Hochschule für Musik und Theater, wurde auf schnell einberufenen Vollversammlungen Beschlüsse über die Weiterführung des Boykotts getroffen4a.
Die Studierenden der Theaterakademie, die sich erst kurz vor Ende des allgemeinen Boykottaufrufes ganz ohne Treuhandkonto beteiligt hatten, beendeten ihren Boykott kurze Zeit später auch. Ihr Hochschulpräsident Elmar Lampson hatte sie erfolgreich damit eingeschüchtert, sie alle zu exmatrikulieren und bei einem Einlenken bzw. einer späteren Bezahlung der Studiengebühren, nicht wieder ohne erneute Aufnahmeprüfung einschreiben zu lassen.
Die Exmatrikulationen zahlungsunfähiger Studierender sollten nach Ansage aus der Behörde für Wissenschaft und Forschung an allen Hamburger Hochschulen durchgeführt werden. Federführend für diese harte Linie war der damalige Wissenschaftssenator Jörg Dräger (seit 2008 Leiter des Centrums für Hochschulentwicklung und im Vorstand der Bertelsmann Stiftung).
Protest an der Hochschule für bildende Künste hält an
Der Präsident der HfbK, Martin Köttering, der, wie er sagte, "gegen keine Gesetze verstoßen wolle", folgte diesem Duktus. Die betroffenen Studierenden, finanziell unterstützt vom AStA der HfbK und juristisch von den Rechtsanwälten Joachim Schaller, Martin Klingner und Mark Nerlinger, klagten.
Nachdem die Klagen gewonnen worden waren, da der Zeitpunkt der Exmatrikulationen formal zu früh, nämlich vor Ablauf der Rückmeldefrist zum nächsten Semester und damit rechtswidrig gewesen war, zog die Hochschule die Exmatrikulationen zurück. Im Anschluss drohte sie sogleich mit erneuten, zeitlich rechtmäßigen, Exmatrikulationen. Außerdem führte sie Prüfungsgebühren in Höhe von 500,- € für exmatrikulierte Diplomanden ein. Hintergrund hierzu war, dass im Sommer 2007 viele exmatrikulierte Studierende, die an der HfbK mögliche externe Prüfung wählten und somit um die Zahlung der Studiengebühren herumgekommen wären.
Tatsächlich hatten sich an der HfbK nach der Einführung der Studiengebühren von 860 Studierenden nur noch 720 zurückgemeldet.
Um erneute Exmatrikulationen zu vermeiden, handelten die Rechtsanwälte Martin Klingner, Mark Nerlinger und Joachim Schaller im Auftrag des allgemeinen Studierendenausschusses mit dem Hochschulpräsidenten der HfbK, Martin Köttering, eine zinsfreie Stundungsmöglichkeit der Studiengebühren aus, die es so an keiner anderen Hamburger Hochschule gab. Diese gilt für das gesamte Studium und eine Karenzzeit von 2 weiteren Semestern. Die ausgehandelte Rückzahlungspflicht in Höhe von 50,-€ im Monat beginnt ab einem Einkommen nach § 18a Abs. 1 BAfög zuzüglich 100,-€. Das Einkommen muss der Hochschule nach Ablauf der Karenzzeit jährlich nachgewiesen werden.
Im Sommer 2007 gipfelte der zentrale Protest an der HfbK in den Boykott der Jahresausstellung, an der stets hunderte von Besucher_innen durch die Hochschulräumlichkeiten pilgern, um die Kunst der Studierenden zu begutachten. Mit dem Boykott dieser Ausstellung wollten die Studierenden darauf aufmerksam machen, was passieren würde, wenn es auf Grund von Studiengebühren keine Kunst-Studierenden mehr geben würde.
Da sich die Boykottgruppe zuvor wohl nicht einig geworden war, stellten trotz Aufruf zum Boykott, einige Studierende dennoch aus und versuchten mit kreativem Protest auf ihr Anliegen aufmerksam zu machen. So stellten sie z.B. eingerahmte Exmatrikulationsschreiben aus und schafften es damals mit einer Bilderserie von ihrem Protest in die ZEIT zu gelangen.5
Der Hochschulpräsident bedankte sich mit seiner Eröffnungsrede draußen vor der Tür - da diese von einer Gruppe Studierender für die Dauer seiner Rede symbolisch blockiert wurde - bei den an der Ausstellung Teilnehmenden. Diese Rede wurde durch eine Rauchbombe und zahlreiche Zwischenrufe, sowie das lärmende Hupen vorbeifahrender Autos gestört.
Um den Wunsch nach Selbstbestimmtheit im Studium Ausdruck zu verleihen, gab es mitten in den Semesterferien ein dreiwöchiges autonomes Trimester mit vielfältigen, selbst organisierten Vorträgen, Seminaren und Workshops.6
Zum Ende der Rückmeldefrist für das nächste Semester, am 30.09.2007, gab es dann eine spontane Kunstaktion an der Hochschule, bei der sämtliche Wände, Türen und Fußleisten mit Graffities und Bildern bemalt wurden. Sie richtete sich hauptsächlich gegen das Weiß der Wände einer immer bürokratischer werdenden Institution und ließ den Macher_innen Raum für ihre Angst vor der Exmatrikulation.
Nachdem der Präsident, der den Urheber_innen der Aktion das Künstlerische abgesprochen hatte, Strafanzeige wegen Sachbeschädigung gestellt hatte und ein Sachschaden in Höhe von 10.000,-€ im Raum stand, wurden die Wände 2 Wochen später in einer erneuten Kunstaktion wieder von den Akteur_innen selbst geweißt.7 Die Strafanzeige wurde fallen gelassen.
2007/2008
Ebbe in der studentischen Protestbeteiligung – nur an der HfBK geht's weiter
Zum Wintersemester 2007/2008 rief die Boykottgruppe an der HfbK – gestärkt durch den gerichtlichen Sieg - gleich zum erneuten Boykott auf. Inspiriert von dem Erfolg an der HfbK und im Hinblick auf die anstehenden Hamburger Wahlen, startete auch die Boykottgruppe an der Universität einen erneuten Aufruf. Die HfbK verzichtete diesmal in Anlehnung an den Boykott der Theaterakademie 2007 auf ein Treuhandkonto. Die Uni-Boykottgruppe räumte den Boykottierenden die Möglichkeit ein, durch ein Codewort auf der Überweisung zum Boykottkonto, die Weiterzahlung an die Universität zu verwehren.
Parallel dazu gab es am Ende des Jahres an der HfbK einen Boykottweihnachtskalender und schließlich, an das Trimester im Sommer angelehnt, das Wintertrimester.
Der Boykott an der Universität scheiterte deutlich. Nur die Hälfte der benötigten Studierenden beteiligte sich an der Zahlung auf das Boykottkonto.7a Auch an der HfbK wurden die der Boykott-AG bekannten Beteiligungszahlen geringer. Durch den Verzicht auf das Treuhandkonto an der HfbK bestand allerdings keine Kontrolle mehr über die Teilnehmenden. Die Hochschulverwaltung der HfbK gab keine Zahlen bekannt. Die Uni-Boykottgruppe brach den Boykott ab.
In der Wahlperiode setzte die Hamburger Studierendenschaft große Hoffnung in eine grüne Regierungsbeteiligung. Die GAL (grün-alternative Liste) hatte vor der Wahl versprochen, die Gebühren abzuschaffen7b. Doch dann kam alles anders.
Mit der Koalitionsbildung des schwarz-grünen Senates Anfang 2008 wurden die Studiengebühren in Hamburg zum Wintersemester 2008/2009 zwar auf 375,- € für alle – gleich welcher Herkunft, welchen Lebensstandes, welcher gesundheitlichen Verfassung, welches hochschulpolitischen Standes herabgesetzt. Doch Befreiungstatbestände sollten nun nur noch dann geltend gemacht werden können, wenn Studierende auf Grund einer chronischen Erkrankung (respektive einer so genannten Behinderung) oder der Erziehung eines Kindes unter 14 Jahren, für ihr Studium länger als die Regelstudienzeit + 2 Semester gebraucht hatten, also für eine kleine Auswahl von Langzeitstudierenden.
Neben diesen Änderungen des Gesetztes wurde auch die Finanzierung der Gebühren geändert. Die Studierenden haben seitdem die Möglichkeit die Studiengebühren direkt bei den Hochschulen stunden zu lassen. Allerdings müssen sie dafür eine Stundungserklärung unterschreiben, die es den Hochschulen erlaubt, die Daten der Studierenden an die Wohnungsbaukreditanstalt weiterzuleiten, die nach dem Studium auf die Studierenden zukommt, um die Gebühren einzutreiben. Die Zinsen liegen bei dieser Art von versteckten Krediten bei 2% über dem Basiszinssatz und werden veranschlagt, sobald das Jahreseinkommen 30.000,- € brutto beträgt (ca. 1.600,- € netto im Monat).
Für viele ehemalige BAföG-Empfänger_innen bedeutet dies, dass sie nach ihrem Studium weiter am Existenzminimum leben oder sich weiter verschulden müssen. Da zur Vermeidung der Verzinsung die gestundeten Studiengebühren in einer Summe fällig werden, zu der die Rückzahlung des BaföGs dazukommt. Dieses muss ab einem Netto-Einkommen von 1.175,- € mit monatlichen Raten in Höhe von 105,- € beglichen werden. Zum Leben bleibt dann nicht viel mehr übrig als das pfändungssichere Existenzminimum in Höhe von 1. 029,99- €. Einziger Vorteil des neuen Gesetztes war, dass auf Initiative der GAL nicht mehr exmatrikuliert werden sollte.
An der HfbK wurde der Boykott auch im Sommer 2008 weitergeführt. Mediale Aufmerksamkeit dafür sollte die AKTION PiNK8 schaffen. Eine Gruppe Studierender begab sich in Pink gekleidet mit einem pinken Papp-Panzer im Schlepptau in die Hamburger Innenstadt. Diese Kunstperformance wurde durch das Zuhilferufen der Polizei von Betreuer_innen eines CDU- Standes auf dem Rathausmarkt beendet.
Seitdem boykottierte jedes Semester von Neuem eine kleine Gruppe Zahlungsunwilliger.8a
Erstaunlicherweise schafften es wohl zahlreiche von ihnen bis heute um das Zahlen der Gebühren herumzukommen. Da eine Exmatrikulation zahlungssäumiger Studierender seit der schwarz-grünen Koalition nicht mehr gängig ist, können sich die boykotterprobten Studierenden auf der sicheren Seite fühlen, wenn es um ihren Studierendenstatus geht.
Allerdings geben die Hamburger Hochschulen die Daten der boykottierenden Studierenden an die Kasse Hamburg weiter, um auf diese Weise die Studiengebühren einzutreiben.
Im Fall eines Studierenden an der HfbK, der die Hochschule schon im Wintersemester 2008/2009 mit seinem Diplom verlassen hatte, wurden die Gebühren sogar 2010 noch in Berlin von den dortigen Behörden eingetrieben. So musste Martin (Name von der Redaktion geändert) eines Tages feststellen, dass sein Konto gesperrt und 500,- € weniger drauf waren, obwohl er zu diesem Zeitpunkt Arbeitslosengeld II-Empfänger gewesen ist.9
2009
Eine soziale Bewegung festigt sich: Der legendäre Bildungsstreik 2009 und das Scheitern der Hamburger Kampagne "gebührenfreie Bildung für eine erfreuliche Entwicklung für alle"
Im Sommersemester 2009 gab es vom 15.-19. Juni einen bundesweiten Bündnis-Bildungsstreik, der von Gewerkschaften und Elternverbänden unterstützt wurde. Daran beteiligten sich folglich nicht nur Studierende, sondern auch Schüler_innen. Das Bündnis setzte den Streik in seinem Aufruf in den Kontext zu weltweit stattfindenden Protesten gegen die Wirtschafts- und Finanzkrise. In diesem Zusammenhang kam es zu bundesweiten Demonstrationen, die am 17. Juni 2009 im bundesweiten Aktionstag mit einer Beteiligung von zusammen 270.000 Menschen in 100 Städten mündeten. Allein in Hamburg waren 11.000 Menschen auf der Straße.10
Ausgehend von diesem Streik wurde ein weiterer Streik im Winter 2009/2010 organisiert. Daran schloss sich in Hamburg die Kampagne "gebührenfreie Bildung für eine erfreuliche Entwicklung für Alle" an. Diese Kampagne wurde unterstützt von einem breiten Bündnis aus Gewerkschaften, Hochschulasten, dem Elternverein, der SPD, der LINKEN, einigen Jugendparteiverbänden und anderen Jugendorganisationen. Sie hatte zum Ziel 60.000 Unterschriften zu sammeln und diese dann dem Senat zu übergeben. Diese Zahl ist zur Begründung eines Volksentscheides notwendig, welcher allerdings nicht Ziel der Kampagne gewesen ist. Dem Bündnis ging es darum, Menschen ohne Wahlberechtigung, wie Jugendliche oder Menschen ohne deutschen Pass, nicht auszuschließen - deshalb durften alle unterschreiben. Die Kampagne endete mit einer Demonstration am 12. Dezember 2009. Da die Zahl der angepeilten Unterschriften bis dahin nicht erreicht worden war, wurde die Kampagne bis zum Sommersemester 2010 verlängert. Doch auch da hatten gerade mal etwas mehr als die Hälfte der angepeilten 60.000, nämlich gerade mal 31.378 Personen unterschrieben.
Derweil boykottierten viele Studierende der HfbK auch im Sommersemester und Wintersemester 2009 weiter. In der medialen Öffentlichkeit war das allerdings kaum noch wahrnehmbar, obwohl aus einer schriftlichen kleinen Anfrage der Partei DIE LINKE an den Senat hervorgeht, dass im Sommersemester 2009 allein 126 von 498 zahlungspflichtigen Studierenden Widerspruch gegen die Studiengebühren eingelegt hatten.11 Der AStA der HfbK gab in einer Pressemitteilungen an, dass rund ein Drittel der Studierenden boykottiere.12
Hamburg brennt – die Proteste erfahren Aufwind
Zum Jahresende, am 11. November 2009, wurde, ausgehend von einer Besetzung des Audimax der Universität in Wien, die einen Flächenbrand an Hochschulbesetzungen in ganz Europa und teilweise darüber hinaus bewirkte, neben 80 Besetzungen von Bildungseinrichtungen allein in Deutschland, auch das Hamburger Audimax besetzt.12a Danach folgten in Hamburg Raum- Besetzungen an der Hochschule für angewandte Wissenschaften (HAW), der ehemaligen Hochschule für Wirtschaft und Politik (HWP) und der Technischen Universität Hamburg Harburg (TUHH). Die Forderungen, die von Wien ausgingen richteten sich vor allem gegen das BA-MA-System, welches nun auch in Österreich, und auch an den Kunsthochschulen, eingeführt werden sollte. Daneben richteten sie sich gegen die Hochschulausrichtungen nach ökonomischen Prinzipien und pochten auf Selbstbestimmung. Die weltweiten Aktionen blieben nicht unberücksichtigt. So kündigte die CDU-Bildungsministerin Annette Schavan, die im Deutschlandfunk zum Bildungsstreik im Sommer 2009 noch gesagt hatte, "Die Proteste sind, was die Ziele angeht, zum Teil gestrig", "Wer fordert, die Bachelor- und Masterstudiengänge wieder abzuschaffen, "der nimmt nicht zur Kenntnis, dass Deutschland Teil des europäischen Bildungsraumes ist"13 nun immerhin, das BAföG zu erhöhen und räumte ein, dass das BA/MA-System zu reformieren sei.
2010
Bildungsstreik im Sommersemester 2010, das AUS der Primarschule & Kontenpfändungen Hamburger Studierender oder wie die Hamburger Bildung verliert...
Das Bildungsstreikbündnis aus dem Sommer 2009 und Winter 2009/2010 war mit den Ergebnissen aus dem Bildungsstreik 2009/2010 nicht zufrieden und mobilisierte für Juni 2010 erneut zum Streik. In dem Aufruf 2010, der auch von der Piratenhochschulgruppe Hamburg unterstützt wurde, schrieb das Bündnis, dass es darum geht, die Auseinandersetzungen im Bildungsbereich gerade in Zeiten der anhaltenden Wirtschaftskrise als einen gesamtgesellschaftlichen Konflikt zu verstehen und zuzuspitzen. Die Forderungen richteten sich in Bezug auf alle Bildungseinrichtungen auf ein selbstbestimmtes Lernen ohne Zeitdruck, einen freien Bildungszugang, eine öffentliche Finanzierung ohne Einflussnahme der Wirtschaft und eine radikale Demokratisierung.14
In Hamburg unterstützten die Proteste auch das Vorhaben des Hamburger CDU-GAL (grün-alternative-Liste)-Senates zur Einführung der Primarschule. Eine Schulform, die das 3-gliedrige Schulsystem bestehend aus Haupt- Realschule und Gymnasium ersetzt hätte.
Im Rahmen dieses Bildungsstreikes kam es am 8. Juni 2010 in Hamburg zu einer spontanen Besetzung des gesamten Fakultätsgebäudes des Fachbereiches Sozialökonomie der ehemaligen Hochschule für Wirtschaft und Politik (HWP). Die Besetzung richtete sich vor allem gegen Studiengebühren und deren intransparente Verwendung und forderte mehr Geld für Tutorien.15
Am 9.6.2010 gab es einen bundesweiten Aktionstag mit Demonstrationen in 70 Städten. Die Beteiligung war mit bundesweit immerhin etwa 70.000 Teilnehmenden im Vergleich zum Sommer 2009 nur noch gering.16 Eine Demonstration in Hamburg, die am Campus der Universität begann, richtete sich vor allem gegen den aktuell geplanten Umzug der Universität von Eimsbüttel in die Hafen-City und endete mit einer Satire-Aktion zur Primarschule auf dem Rathausmarkt.
An der Hochschule für bildende Künste (HfbK) standen derweil laut einer Pressemitteilung des AStA über 50 Studierende, die noch immer am Boykott der Studiengebühren festhielten, vor der Pfändung ihrer Konten. Die Boykottierenden forderten die Hamburger Politik auf, nun endlich dem bundesweiten Trend zu folgen, die Studiengebühren wieder abzuschaffen. Till Wolfer, damaliger Pressesprecher des AStA der HfbK, unterstrich dies: "Einerseits wirbt der Hamburger Senat für eine Schulreform, die das Schulsystem gerechter machen soll – und andererseits befördert er durch die Beibehaltung des Studiengebühren-Systems den Ausschluss finanziell schlechter gestellter Menschen von einem Hochschul-Studium, schickt sogar die Vollstreckungsbeamten. Das ist doch paradox!"17
Am 18.07.2010 wurde die Primarschule dann durch Volksentscheid, den die Initiative "wir wollen lernen" herbeigeführt hatte, Geschichte.18 In Folge dessen trat CDU-Bürgermeister Ole von Beust, der sich für die Schulreform persönlich stark gemacht hatte, zurück, während die GAL (grün-alternative-Liste) zunächst an der Koalition unter dem Diktum des als rechts geltenden neuen Bürgermeisters Christoph Ahlhaus (CDU) festhielt, bevor sie dann doch Neuwahlen vorzog.
Ungeachtet dessen boykottierten auch im Wintersemester 2010/2011 noch rund ein Viertel der HfbK-Studierenden weiter. Sie forderten die Koalition auf nun endlich die Wahlversprechen aus 2008 in die Tat umzusetzen und die Hamburger Parteien, sich dem Antrag der Partei DIE LINKE auf Abschaffung der Studiengebühren anzuschließen oder eigene Anträge zu stellen.19
2011
Neue Protestwellen in Hamburg
Anfang 2011 gewann die SPD nach 10 Jahren in der Opposition mit ihrem Bürgermeisterkandidaten Olaf Scholz die Neuwahlen.20 Nun erhofften sich Hamburger Studierende, gemäß der Wahlversprechen, wieder einmal die Abschaffung der Studiengebühren. Doch diese ließ zunächst noch auf sich warten. Erst zum Wintersemester 2012/2013 werden die Studiengebühren nach jahrelangen Protesten und immer höherschlagenden Wellen endlich auch in Hamburg Geschichte sein.20a
Derweil kündigte der Senat erst mal Hochschuletatkürzungen von 6-10% an, die einen massiven Stellenabbau zur Folge gehabt hätte. Diese lösten eine erneute Welle des Protestes aus. Diesmal kam es am 07. Juni 2011 zu einer Demonstration mit 10.000 Teilnehmer_innen zum Rathausmarkt. Neu war, dass zahlreiche Professor_innen und wissenschaftliche Mitarbeiter_innen mit dabei waren - darunter auch der unter Protestler_inn_en eher unbeliebte Universitätspräsident, Dieter Lenzen20b.
Im Zuge dieser Demonstration kam es zu einer zeitweiligen Besetzung des Rathausmarktes, die am gleichen Tag unter dem Einsatz von Pfefferspray durch die Polizei geräumt wurde. Die Protestler_innen zogen hierauf zum Jungfernstieg an der Binnenalster, wo sie ein dreitägiges Camp unter dem Motto der "alternativen Universität" aufbauten. Hier gab es neben Volksküche und Musik alternative Vorlesungen.21
Schlagzeilen brachten den Camper_innen eine fortwährende illegale Videoüberwachung durch eine Verkehrskamera, die durch die Rechtsanwältin Cornelia Ganten-Lange per Klage unterbunden worden war und auf Grund derer die Studierenden ihr Camp um einige Tage verlängert hatten.22
Verhandlungen über Stundung der Studiengebühren an der Hochschule für bildende Künste
Im Zeichen der Abschaffung der Studiengebühren zum Wintersemester 2012/2013, gab es an der HfbK auf Grund des Boykotts erneut interne Verhandlungen zwischen dem AStA, dem Rechtsanwalt der Studierenden, Joachim Schaller und der Hochschulleitung über Stundung der Studiengebühren nach Landeshaushaltsordnung. Die Hochschulen haben schon immer die Möglichkeit auf Grund unbilliger Härte, deren Definition im Ermessensspielraum der Hochschulen liegt, Studiengebührenforderungen zu unterlassen. Für diese Fälle besteht die Möglichkeit zur Stundung nach der Landeshaushaltsordnung. Die Hamburger Hochschulen ließen diese Möglichkeit bisher jedoch nur wenigen Studierenden offen, z.B. welchen die nach dem HmbHG (§ 6c und § 6d) nicht berechtigt waren, eine Stundung in Anspruch zu nehmen.
Die Hochschulleitung der HfbK hat nun eingelenkt, bei allen Boykotteur_innen, welche noch offene Zahlungsaufforderungen seitens der HfbK haben, die länger als ein Semester zurückliegen, die Möglichkeit zu gewähren, die Studiengebühren nach der Landeshaushaltsordnung (§ 59 LHO) zu stunden. Auf diese Weise muss bei einem Jahreseinkommen ab 30.000-€ brutto zurückgezahlt werden. Nachteil gegenüber der Stundung nach HmbHG ist, dass die Zinserhebung, mit 2% über dem Basiszins, direkt nach dem Studium beginnt. Der Vorteil ist, dass diese Möglichkeit zur Stundung ohne Frist jederzeit in Anspruch genommen werden kann und direkt bei der HfbK erfolgt, die zugesagt hat, die Forderungen nach 10 Jahren niederzuschlagen.20 Der AStA der Hfbk hat auf seiner Homepage angekündigt, dass er den Boykott trotz dieses Verhandlungsergebnisses weiterhin unterstützt.23
2012
Der Lange Weg durch die Gerichtsbarkeiten - Studiengebühren sind unter Umständen doch rechtswidrig
Aus dem Anfangsjahr des Boykotts (2007) sind derzeit an der HfbK noch 4 Widersprüche gegen allgemeine Studiengebühren offen, von denen bisher nur einer abgelehnt wurde. Daraufhin war am 03.04. 2008 Klage erhoben worden. Diese richtete sich gegen die allgemeinen Studiengebühren und berief sich im speziellen auf das Vertrauensschutzprinzip. Nach dem hätte der klagende Student sein Studium zu den Bedingungen zu Ende bringen dürfen, zu denen er es begonnen hatte. Im Januar 2011 kam es zu einem Vergleich. Danach wurde der Student für die Semester (WS 2007/2008 – SS 2008), in denen er an der HfbK in Hochschulgremien aktiv war, von den Studiengebühren befreit. Dieser Fall dürfte zumindest für andere hochschulpolitisch aktive Studierende an der Hochschule für bildende Künste relevant sein. Denn sie könnten sich auf diesen Vergleich beziehen und für ihr Hochschulengagement nach Einführung der allgemeinen Studiengebühren befreit werden.24
Neben diesem Fall läuft noch ein Verfahren eines Studenten der Universität Hamburg. Dieser hatte sein Studium im Sommersemester 2005 begonnen. Damals gab es zwar schon Langzeitgebühren, nicht aber allgemeine Studiengebühren. Bei den Langzeitgebühren hatte es die Möglichkeit gegeben, sich auf Grund von Gremienarbeit befreien zu lassen. Der Student war im Fachschaftsrat der Universität engagiert und ging nun bei der Einführung der allgemeinen Studiengebühren davon aus, dass er befreit werden würde.25
Da dies mit der Begründung, nur für Engagement im AStA, im Studierendenparlament, im Fakultätsrat oder im Hochschulsenat könnten Befreiungstatbestände geltend gemacht werden, vom Oberverwaltungsgericht abgelehnt wurde, reichte der Student eine Nicht-Zulassungsbeschwerde beim Bundesverwaltungsgericht ein, die ebenfalls abgelehnt wurde. Am 4. März 2011 reichte er deshalb beim Bundesverfassungsgericht eine Verfassungsbeschwerde ein. Diese bezieht sich auf das gesteigerte Vertrauensschutzprinzip, weil er seine Fachschaftratstätigkeit schon vor Inkrafttreten der allgemeinen Studiengebühren aufgenommen hatte. Außerdem richtet sich die Verfassungsbeschwerde auch gegen die Erhebung allgemeiner Studiengebühren an sich. Ob das Bundesverfassungsgericht noch im Laufe des Jahres 2012 entscheidet, ist bisher nicht bekannt.24
Die Studiengebühren in Hamburg sollen zwar im Wintersemester 2012/2013 endlich abgeschafft werden, da sich bis dahin aber politisch noch viel bewegen kann und ein allgemeingültiger Beschluss über die Unrechtsmäßigkeit allgemeiner Studiengebühren die Möglichkeit einer Wiedererhebung verhindern dürfte, bleibt es spannend.
Bericht von L.L.
Quellen und Hinweise
1 https://www.studis-online.de/HoPo/art-224-studiengebuehren_erlaubt.php
2 https://www.studis-online.de/HoPo/art-294-bildungsdemo.php
2a https://www.studis-online.de/HoPo/art-469-proteste_31mai.php
3 http://de.indymedia.org/2007/04/174005.shtml
3a https://www.studis-online.de/HoPo/art-484-proteste_hh_beschluss.php
4 https://www.studis-online.de/HoPo/Hintergrund/35jahre-ohne-studiengebuehren.php
4a https://www.studis-online.de/HoPo/art-619-hh-boykott-2007.php
5 http://www.zeit.de/online/2007/28/bg-hfbk-protest
6 http://www.freie-radios.net/portal/content.php?id=18951
7 http://www.thing-hamburg.de/index.php?id=720
7a https://www.studis-online.de/HoPo/art-701-ltw-hamburg2008-gal.php
7b https://www.studis-online.de/HoPo/art-701-ltw-hamburg2008-gal.php
8 http://www.youtube.com/watch?v=W3eHV1z9fdM
8a https://www.studis-online.de/HoPo/art-841-hfbk-boykottiert-2008-2009.php
9 http://jetzt.sueddeutsche.de/texte/anzeigen/506905 und https://www.studis-online.de/HoPo/art-1064-boykott_hfbk.php
10 http://www.bildungsstreik.net/aufruf-zum-bildungsstreik-fur-solidaritat-und-freie-bildung/aufruf/aufruf-2010/
11 http://www.buergerschaft-hh.de/parldok/Cache/E231F84125F484018D0107A0.pdf
12 http://www.hfbk.de/forum/viewtopic.php?f=19&t=4064
12a http://www.youtube.com/playlist?list=PL4B868EF35BD736CE&feature=plcp
13 http://www.rp-online.de/panorama/deutschland/200000-im-bildungsstreik-1.477712
14 http://www.bildungsstreik.net/aufruf-zum-bildungsstreik-fur-solidaritat-und-freie-bildung/aufruf/aufruf-2010/
15 http://de.indymedia.org/2010/06/283436.shtml
16 http://www.zeit.de/studium/hochschule/2010-06/bildungsstreik-fazit
17 http://www.hfbk.de/forum/viewtopic.php?t=4080
18 http://www.wir-wollen-lernen.de/
19 http://www.hfbk.de/forum/viewtopic.php?t=4091
20 http://www.welt.de/politik/wahl/hamburg-wahl/article12601421/Olaf-Scholz-die-SPD-hat-wieder-einen-Sieger.html
20a https://www.studis-online.de/HoPo/art-1272-hh-studiengebuehren-abschaff.php
20b https://www.studis-online.de/HoPo/art-985-hochschulmanager.php
21 http://www.taz.de/Hamburger-Uni-Protest/!72190/
22 http://www.taz.de/!72246/
23 http://www.hfbk.de/forum/viewtopic.php?f=2&t=392&p=5078#p5078
24 persönliche Informationen des Hamburger Rechtsanwaltes Joachim Schaler
25 https://www.studis-online.de/HoPo/art-1245-bverfg_hopo_engage.php