Vier oder sechs Jahre?Umkämpfte Schulreform in Hamburg
Soziale Sortierfunktion Schulabschluss
In diesen Tagen beginnt in Hamburg ein Volksentscheid über die von der gesamten Hamburger Bürgerschaft beschlossene Schulreform. Kern der Schulreform ist die Einführung einer sechsjährigen Primarschule. Erst nach der 6.Klasse, und nicht mehr wie bisher nach der vierten Klasse, sollen die Schüler_innen dann auf die weiterführende Stadtteilschule oder das Gymnasium wechseln. An beiden Schularten besteht die Möglichkeit, das Abitur zu erwerben: an der Stadtteilschule nach sieben, am Gymnasium nach sechs Jahren. Doch an der Schulreform scheiden sich die Geister.
Spiel' nicht mit den Schmuddelkindern
Von konservativer Seite wird in Gestalt der Volksinitiative "Wir wollen lernen" - getreu der Devise "Spiel' nicht mit den Schmuddelkindern" - darauf beharrt, dass eine möglichst frühe Selektion das Beste für ihre[durchstreichen] alle Kinder sei. Von Bildungsforschern und in international vergleichenden Studien wird jedoch belegt, dass die Mehrgliedrigkeit und die frühe Selektion im deutschen Schulsystem maßgeblich für seine soziale Selektivität und mangelnde Durchlässigkeit verantwortlich und eine Reform dringend geboten ist.
Schüler mit niedriger sozialer Herkunft werden an jeder Schwelle stärker ausgesiebt: "Bildungstrichter" nach der 17. Sozialerhebung des Deutschen Studentenwerks, siehe Wikipedia
Auch der UN-Sonderberichterstatter für das Recht auf Bildung, Vernor Muñoz, kam 2007 in seinem Bericht über das deutsche Schulsystem zu dem Schluss, dass "bei dem Auswahlprozess, der im Sekundarbereich I stattfindet (das Durchschnittsalter der Schüler liegt abhängig von den Regelungen der einzelnen Länder bei 10 Jahren) die Schüler nicht angemessen beurteilt werden und dieser statt inklusiv zu sein exklusiv ist". Dieses Einordnungssystem wirke sich besonders auf die Chancen armer Kinder und Migrantenkinder negativ aus und sollte daher überdacht werden.1
Die Schulreform als Kompromiss
Nun ist der Beschluss zur Einführung der sechsjährigen Primarschule ursprünglich eindeutig ein Kompromiss innerhalb der schwarz-grünen Koalition. Während die GAL (Grüne Alternative Liste) mit der Forderung nach gemeinsamem Lernen bis zur neunten Klasse (siehe "9 macht klug") in die Bürgerschaftswahlen gegangen ist, stand die CDU was die Schulstruktur betrifft, für den Beibehalt der vierjährigen Grundschule.
Nach weiteren Verhandlungen und vor dem Hintergrund der Volksinitiative "Wir wollen lernen" stimmten auch die Fraktionen von SPD und Die LINKE in der Hamburger Bürgerschaft dem Reformkonzept zu. Sie setzen sich eigentlich ebenfalls gegen die Separierung der Schüler_innen auf verschiedene Schulformen ein und hatten 2008 u.a. auch das Volksbegehren der Initiative "Eine Schule für alle" unterstützt.
Jedoch auch wer für mehr als den nun zustande gekommenen Kompromiss eintritt, sollte wenigstens den kleinen Schritt in die richtige Richtung in Form der Verlängerung des gemeinsamen Lernens von vier auf sechs Jahre unterstützen. Ein Scheitern der Reform würde in jedem Fall bundesweit die Möglichkeiten zur Abkehr vom überholten viergliedrigen Schulsystem deutlich schwächen.
Letztlich ist die Frage der Schulstruktur eben immer auch eine politische Frage. Kurios ist in diesem Zusammenhang die bundesweite "Vielfalt" der bildungspolitischen Programme der FDP. Während der Hamburger Landesverband der FDP (die nicht in der Bürgerschaft vertreten ist) die Beibehaltung der Aufteilung nach der vierten Klasse und damit die Initiative "Wir wollen lernen" unterstützt, fordert der bayrische eine "sechsjährige gemeinsame Grundschulzeit, um den Übertrittsdruck von Lehrern, Schülern und Eltern zu nehmen"2.
Hintergrund: Geschichte und Funktion des dreigliedrigen Schulsystems
Bereits Ende vergangenen Jahres hatten wir aus Anlass des Bildungsstreiks 2009/2010 in Kooperation mit dem Bund demokratischer Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler (BdWi) in der Reihe "Für eine bessere Bildung" einen Hintergrund-Artikel von Annerose Gulbins publiziert, in dem sie auf die Ursprünge des mehrgliedrigen deutschen Schulsystems eingeht und seine Folgen diskutiert.
Im Zusammenhang mit der Hamburger Schulreform-Debatte weisen wir erneut auf ihn hin:
Annerose Gulbins - Geschichte und Funktion des dreigliedrigen Schulsystems
Fußnoten:
1 Wikipedia - Materialien zum Deutschlandbesuch des UN-Sonderberichterstatters für das Recht auf Bildung (2007)
2 Position und Forderungen der FDP Bayern zum Thema Bildung
Links zur Schulreform in Hamburg