Gesellschaftskritisches Engagement an der Bologna-reformierten HochschuleKontrollierte Freiräume
Optimierte Studierende auf der Jagd nach ECTS-Punkten: Die Zukunft des Studiums?
Spätestens nach der spektakulären Audimax-Besetzung in Wien und dem bundesweiten Bildungsstreik ist die Kritik an Bildungsgebühren, am gestiegenen Zeit- und Leistungsdruck im Zuge der Umstrukturierungen von Studiengängen sowie an der Ökonomisierung, der mangelnden Finanzierung und der Entdemokratisierung der Hochschulen ins öffentliche Bewusstsein vorgedrungen.
Im Rahmen des bundesweiten Arbeitskreises Kritische Geographie wurde ein weiterer Aspekt problematisiert: Es geht um die Frage, ob die modularisierten Korsette "Bachelor" und "Master" Studierenden noch Spielräume lassen, in denen sie sich mit gesellschaftskritischen Inhalten auseinander setzen können. In den Ländern des europäischen Hochschulraumes gibt es eine Vielzahl von selbstorganisierten Initiativen, die dies in unterschiedlichen Formaten leisten: Von Diskussions- und Lesegruppen über klassische Seminare und öffentliche Diskussionsveranstaltungen bis hin zu unmittelbar politischen Aktivitäten. Um eine Antwort zu erhalten, führten wir mit elf solcher Initiativen Interviews. Dabei traten zwei interessante Entwicklungen zutage:
Stichwort "Employability"
Erstens wird deutlich, dass kritische Initiativen an der Bologna-reformierten Universität mit neuen Rahmenbedingungen konfrontiert sind. Die verkürzten Studiengänge lassen generell weniger Spielräume für selbst organisierte Veranstaltungen außerhalb des offiziellen Lehr- und Stundenplans. Die zunehmende Ausrichtung auf Employability - die Engführung der Abschlüsse auf Beschäftigungsfähigkeit und das Diktat der praktischen Anwendbarkeit von "Wissen" - führt dazu, dass Studierende sich immer weniger in Initiativen engagieren, die sie sich nicht im Rahmen ihres Studiums anrechnen lassen können. Und das, obwohl nach wie vor ein Interesse an gesellschaftspolitisch relevanten Themen besteht. Diese Entwicklung ist zurückzuführen auf das am Vorbild der Berufsarbeit orientierte Bachelorstudium mit einer quantifizierbaren 40-Stunden-Woche. Freiraum für die Entwicklung eigener Ideen und Initiativen bleibt hier auf der Strecke und der Druck ist zu groß, um sich diesen Freiraum einfach zu nehmen. Derlei Anforderungen brechen fundamental mit einem kritischen Wissenschaftsverständnis, welches sich nicht nur an ökonomischer Verwertbarkeit orientiert, sondern auch an der Reflexion und Kritik gesellschaftlicher Verhältnisse.
Mitbestimmung leben
Der Artikel erschien zuerst in der Ausgabe 05/2010 der Studierendenzeitung read.me der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW). Sie wird vom Studierendenausschuss der GEW (BASS) erstellt und erscheint einmal im Semester.
Zweitens zeigt sich überraschenderweise, dass studentische Initiativen an vielen Hochschulstandorten eine Institutionalisierung erfahren, indem sie Ressourcen der Institute nutzen können und ihre Aktivitäten in den offiziellen Lehrplan des Bachelor- und Masterstudiums integriert werden. Selbstorganisierte Seminare mit Schein- und Crediterwerb machen es einfacher, gesellschaftskritisches Engagement fortzuführen und eine MultiplikatorInnenfunktion wahrzunehmen.
Was zunächst überaus erfreulich anmutet, entpuppt sich bei genauerer Betrachtung allerdings als widersprüchliches Feld zwischen Freiraum und Kontrolle: Zwar können Gruppen von der institutionellen Unterstützung, der größeren Sichtbarkeit und einem breiteren Publikum an der Universität profitieren. Doch dadurch, dass Inhalte in ECTS-Punkte transformiert werden und denselben Anforderungen an Employability genügen müssen wie andere Veranstaltungen, verlieren sie einen Teil ihrer kritischen Dimension. Die Initiativen werden mit widersprüchlichen Zwängen konfrontiert, die nicht mit gesellschaftskritischen und emanzipatorischen Ideen vereinbar sind. So etwa Führen von Anwesenheitslisten, der Bewertung von Leistung und der hierarchisierenden Unterscheidung in Lehrende und Lernende. Überdies fügt sich die Formalisierung der Initiativen in die Entwicklung der ressourcensparenden Verschlankung der universitären Institute ein. Gebaut wird dabei auf die Bereitschaft Studierender zur Selbstausbeutung durch "freiwillige" Arbeit, was die Kehrseite des neoliberalen Credos der Eigenverantwortung ist.
Diese Widersprüche sollten nicht übergangen werden, sondern Ausgangspunkt für eine emanzipatorische Praxis an den Hochschulen sein; spielt die Form der praktischen Aneignung von kritischer Gesellschaftstheorie doch eine ebenso wichtige Rolle wie der Inhalt selbst.
Die aufgezeigten Probleme existierten sicherlich bereits vor der "Bolognarisierung" der Hochschulen. Neu aber ist die Vehemenz, mit der sie in der Praxis wirken. Daher gilt es, der weiteren Verknappung finanzieller Ressourcen und der Aufoktroyierung betriebswirtschaftlicher und somit konkurrenzfördernder Instrumente entschlossen entgegenzutreten sowie erkämpfte Spielräume weiterhin zu nutzen oder auszubauen. Angebliche Sachzwänge und vermeintlich unveränderbare Strukturen sollten nicht zu Götzen erhoben werden, auch wenn sie im Uni-Betrieb einen naturhaften Charakter annehmen: Bologna ist weder eine unumstößliche geschichtliche Entwicklung noch ein unentrinnbarer Zwang, sondern eine Handlungsempfehlung mit großem Interpretationsspielraum. In diesem Sinne sollte auch damit umgegangen werden.
Schreibwerkstatt im AK Kritische Geographie (Anika Duveneck, Iris Dzudzek, Michael Keizers, Tino Petzold, Sebastian Schipper und Michael Wudi), siehe auch: http://criticalgeography.blogsport.de