Wo endet Selbstoptimierung – und wo fängt Entfremdung an?So verhinderst du Selbstausbeutung im Studium!
Interview von Maria Köpf
Was ist Selbstausbeutung, Herr Hoffmann?
Unter Ausbeutung versteht man oft den Mehrwert, den Unternehmer selbst einstreichen. Mit einer Ausbeutung des eigenen Körpers und der eigenen Psyche können Studierende gemeint sein, die sich selbst zu viel Stress machen, oder es sind diejenigen gemeint, die sich selbst optimieren wollen.
Welche Studierenden kommen Ihnen bei dem Begriff in den Sinn?
Mir schweben bei diesem Terminus besonders zwei Arten von Studierenden vor. Zum einen diejenigen, die sich nicht mit einer 1,7 zufrieden geben wollten und bedingungslos auf eine 1,0 hinarbeiten. Das können durchaus zielstrebige Perfektionisten sein, die beispielsweise ein klares berufliches Ziel vor Augen haben und wissen, dass sie mit einer schlechteren Note möglicherweise nicht genommen werden.
Zum anderen passt der Begriff auch gut zu solchen Studierenden, bei denen man hinter der Selbstausbeutung ein psychisches Motiv feststellen kann. Nämlich Angst, dass das, was man leistet, nicht ausreichend ist. Da kann es auch Erfahrungen mit Kritik geben, die sich auf die Kindheit oder Jugend zurückführen lassen. Sei es, dass die Leistung eines Hochschülers früher vom Umfeld als nicht ausreichend bewertet wurde oder dass er oder sie in seinem Umfeld besonders häufig oder in ungerechtfertigtem Maße kritisiert wurde.
Ronald Hoffmann leitet an der Universität Hamburg das Referat Beratung und Administration. Der approbierter Psychotherapeut managt an der Uni die Studienberatung sowie die Psychologische Beratung und ist verantwortlich für circa 60 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter.
Er ist verheiratet, notorisch neugierig und fühlte sich durch seine vielen Begegnungen mit Schülerinnen, Schülern und Studierenden motiviert, Studierenden auf Studis Online mit gutem Rat zur Seite zu stehen.
Was passiert mit einem Menschen in einem solchen Falle?
Wenn eine negative Rückmeldung vollkommen unabhängig davon geäußert wurde, ob die Leistung eigentlich in Ordnung war – selbst wenn zwischendurch auch einmal eine schlechte Leistung abgeliefert wurde – wenn eine Kritik also eher prinzipiell und grundsätzlich geäußert wird, dann erhält ein junger Mensch die Rückmeldung: „Diese Kritik ist nicht realitätsbezogen, sondern es reicht irgendwie nie!“
Dies kann zu einer generellen Verunsicherung beim jungen Menschen führen. Gerade weil der Betroffene keine Chance erhalten hatte, die Rückmeldung zu verstehen und kein Gespür für die eigene Leistung entwickeln konnte. Solche Betroffene konnten einfach kein Gefühl dafür entwickeln, ob ihre Hausarbeit vielleicht schon rund ist und bereits abgegeben werden kann.
Sie meinen, dass dieses Gespür verloren gehen kann, wenn man gelegentlich vom Umfeld kritisiert worden ist?
Nein, nicht wenn man einmal oder auch mehrmals kritisiert worden ist. Doch wenn diese Kritik jeder Grundlage entbehrt und sie als Haltung geäußert wird. Und zwar unabhängig von der Situation... Dann wird ein Schuh daraus. Beispielsweise, wenn die Eltern häufig geäußert haben: „Du schaffst doch nie etwas. Das wird eh wieder nichts.“
Wenn ich als Jugendlicher in einer negativen Atmosphäre aufwachse, in der meine Anstrengung und Arbeit gar nicht gesehen wird, sondern unabhängig vom eigenen Handeln das Urteil eher grundsätzlich vernichtend ist, kann ich kaum ein Gespür dafür entwickeln, was in Ordnung und was nicht in Ordnung ist. In solchen Fällen gibt es zwei Reaktionen: Entweder, man stumpft komplett ab, wird zum „Leistungsversager“ und möchte kein Abitur mehr machen – oder man gibt die Hoffnung nicht auf.
Und das wäre das Positivste daran, dass man sich immer weiter darum bemüht, die Leistung zu erbringen. Das könnte dazu führen, dass man eine Hausarbeit 30-mal durchliest und immer noch etwas verbessert, obwohl es eigentlich schon eine gute Leistung ist.
Und wie ist das bei denen, die sich immer noch weiter optimieren wollen?
Das ist etwas anderes. Das sind Menschen, die sich ganz klar entschieden haben: „Ich möchte immer der beste oder die beste sein.“ Das kann sicherlich auch Ursachen in der Kindheit haben, aber das kann auch ganz klar einer Karriereplanung geschuldet sein. Ob die sinnvoll ist oder nicht, das sei dahingestellt.
Aber wenn jemand sagt: „Ich studiere Jura und möchte gerne in den diplomatischen Dienst. Ich möchte als Auslandsvertreter oder Auslandsvertreterin in die USA oder ähnliches.“ Dann kann es durchaus sein, das eine solche Person denkt „Ich kann es mir nicht leisten, einmal eine schlechte Leistung zu bringen. Ich muss immer Top-Leistung bringen!“ Dann kann das eine Entscheidung sein, die man für sich einfach trifft. Das hat dann eher etwas mit Selbstoptimierung und einer klaren Vorstellung zu tun, wie man sein möchte oder muss, um sein Ziel zu erreichen.
In diesem Fall können das sogar Menschen sein, die leistungssteigernde Medikamente nehmen, um sich besser zu konzentrieren. Oder es sind Personen, die permanent Kaffee trinken, um trotz der Müdigkeit leistungsstark zu bleiben. Diese Gruppe kommt in keine Beratungsstelle, sie wird eine Empfehlung erst annehmen, wenn die permanente Höchstleistung ihren Tribut vom Körper fordert – und auch dann nur vielleicht.
Was könnte man Studierenden empfehlen, die aus Unsicherheit heraus immer zu viel arbeiten?
Wenn sich Studierende darin erkennen, in einer negativen Atmosphäre aufgewachsen zu sein, sollten sie sich Hilfe holen! Wenn Hochschüler:innen wirklich immer meinen, durch eine Prüfung durchgefallen zu sein – und damit meine ich nicht die koketten Einser-Schüler, die nach einer Klausur behaupten, sie hätten bestimmt einen Vierer – sondern Studierende, die schnell denken, sie hätten vollkommen versagt und die Prüfer oder Mitschüler müssten sie ja verachten für diese schlechte Leistung. Das ist eine Fragestellung, die so zentral im Leben ist, dass ich in einem solchen Beratungsgespräch empfehlen würde: „Du solltest eine Therapie machen.“ Denn das bekommt man nicht mit einem Tipp in der Art 'Versuch doch mal jenes oder dieses' eigenständig hin.
Gibt es nicht auch Menschen, die vielleicht therapiewürdig sind, aber allein durch die innere Bewusstmachung schon sehr viel verändern können?
So etwas kann es natürlich geben. Doch das halte ich für die Ausnahme. Denn die Erfahrung ist, dass grundsätzliche Verhaltensänderungen – selbst bei der Erkenntnis der negativen Auswirkung für einen selbst – in der Regel nicht bedeuten, dass man das Verhalten verändern kann.
Selbst wenn man es schafft, heißt das nicht, dass die Veränderung wirklich konstant ist. Wir kennen das von Verhaltensweisen, die mit Substanzmissbrauch einhergehen oder mit fehlgeleitetem Essverhalten. Wir kennen ja Erkenntnisse wie „Ich sollte weniger trinken, rauchen, essen und meine Psyche besser pflegen“... Solche klassischen Neujahrsvorsätze sind beim Großteil der Menschen spätestens im Februar wieder vergessen.
Auf Studierende gemünzt bedeutet das insbesondere welche Konsequenz?
Wenn jemand studiert, dann hat diese Person ja bereits öfters erlebt, dass sie eigentlich ganz gute Leistung bringt. Schließlich hat er oder sie das Abitur gemacht, wurde an einer Universität mit dem NC angenommen, hat die ersten Semester „überlebt“ und ähnliches. Wenn all' diese positiven Erfahrungen nicht dazu geführt haben, dass man ein Stückwert Selbstbewusstsein entwickelt, sollte man tatsächlich eine therapeutische Hilfe in Anspruch nehmen.
Analytische Psychotherapie (AP)
Hier wird frühen Beziehungserfahrungen und daraus resultierenden frühkindlichen Konflikten für aktuelle Konflikte die tragende Bedeutung zugeschrieben. Unbewusste frühkindliche Konflikte werden bearbeitet und gesunde Anteile aktiviertTiefenpsychologische Psychotherapie (TP)
Hier stehen aktuelle Konflikte im Heute stärker im Fokus. Es muss nicht zwingend ein Bezug zu frühkindlichen Konflikten hergeleitet werden. Anwendungen finden Techniken wie Deutung, wohltuende Therapeut-Patient-Bindung, Erkennen des Abwehrmechanismus, Entfernen unbedeutender FaktorenVerhaltenstherapie (VT)
Hier werden erlernte Verhaltensweisen, die sich im Laufe der Zeit zwischen Person und Umwelt entwickelt haben, nach hilfreichen und dysfunktionalen Verhaltensmustern sortiert. Individuelle Erklärungen, Einsichten in die eigene Psyche und Berücksichtigung des gesamten Bezugssystems wird erarbeitet, methodisch werden entweder Stärken gefördert (Selbstbewusstsein) oder Störungen reduziert (Ängste, Depressionen u.a.)Gesprächspsychotherapie
Hier wird hauptsächlich durch Gespräche die „innewohnende Kraft, konstruktive Veränderungsprozesse in Gang zu setzen“ gefördert (vgl. Homepage der Neurologen im Netz)Systemische Therapie
Hier geht es nicht nur um den Einzelnen als Patient, sondern um das gesamte System (z.B. Eltern, Lehrer:innen, Geschwister, Peergroup, Kommilitonen, Dozent:innen usw.)
Infos zur Autorin
Maria Köpf studierte Germanistik und Judaistik an der Freien Universität Berlin. Sie lebte je ein halbes Jahr in Israel und Spanien. Seit einigen Jahren verbindet sie mit den abgeschlossenen Studien und Ausbildungen Journalismus und Medizin und schreibt heute als freie Journalistin vor allem für medizinische Fachzeitschriften und Magazine.
mariakoepf.com
Wie hängt falsches Zeitmanagement vielleicht auch mit Selbstausbeutung zusammen?
Zeitmanagement ist ein klassisches Beratungsthema. Die Gründe für ein Aufschieben sind ja oft zwei Dinge: entweder habe ich keine Lust dazu oder ich weiß nicht genau, was ich tun soll oder meine, dass ich das nicht kann. Wenn das eine wiederholte Erfahrung im Studium ist, sollte man anfangen darüber nachzudenken, ob das Studienfach das richtige ist.
Natürlich findet man in jedem Studiengang gelegentlich auch Module, die man nicht so toll findet. Doch wenn man immer wieder merkt, dass man nicht anfängt zu lernen, die Hausarbeit zu schreiben oder überlege mir kein Thema für die nächste Arbeit – dann müsste man sich fragen, ob das Studienfach einem wirklich gefällt. Oder es mangelt am roten Faden und am Vorgehen für eine Arbeit. Dann kann durchaus ein Kurs zum wissenschaftlichen Arbeiten oder eine Schreibwerkstatt Sinn ergeben.
Ich kann den Studierenden nur empfehlen: Nur Mut, Einsicht ist die beste Erkenntnis, bei der Studierendenberatung oder Psychologischen Beratung findet ihr bestimmt eine Lösung! Man kann sich aber auch Unterstützung im Umfeld, im Freundeskreis, bei Eltern, ehemaligen Lehrerinnen und Lehrern suchen. Besonders die Lehrerinnen und Lehrer kennen die Stärken und die Leistungsfähigkeit ihre ehemaligen Schüler:innen doch ganz gut.
Wir bedanken uns für das Interview!
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