Mit den Augen eines ErstisWissenschaftliches Arbeiten
Kreatives Schreiben - gar kein Problem?
»Nächsten Freitag ist dann der Abgabetermin für eure Essays.« So hieß es am Freitag letzte Woche. Zwei Seiten sollten es werden – Zeilenabstand 1,5! »Lächerlich«, dachte ich. Hm, ja… Also schob ich die Arbeit einfach vor mir her. Ich schreibe schließlich gerne, auch, wenn ich dafür keine Note bekomme. Zugegeben, es ist schon etwas anderes, über Sachen zu schreiben, für die man sich interessiert – bei mir wären das dann im weitesten Sinn politische Themen – oder ob man etwas schreibt, weil man muss.
Aber ich hatte ja auch noch Wahlfreiheit, da mein Basismodul (Vorlesung plus Tutorium, beides mit Anwesenheitspflicht) »Understanding North America A« die Geschichte, Literatur und Kultur Nordamerikas umfasst. Innerhalb dieses Moduls müssen wir zu jedem der Bereiche einen Essay schreiben. Hierbei ist die Gewichtung gestaffelt: Der erste Essay zählt 5, der zweite 10, der dritte 15 Prozent der Endnote. Dass zu jedem Bereich ein Essay geschrieben werden muss, bedeutet natürlich, dass die Wahl des letzten Essays schon vorgegeben ist, ganz gleich, ob einem die Fragestellung liegt oder nicht. Das hat dann doch ein bisschen etwas von Glücksspiel – man wettet mit welchem Bereich man am Ende wohl am besten klar kommen wird. Bei mir ist das ganz klar Geschichte. Somit lief es auf Kultur oder Literatur hinaus: Hudson River School Paintings und Transzendentalismus vs. Puritaner-Literatur und die Werke der großen Post-Revolutions-Literaten Washington Irving und James Fenimore Cooper – hurra!
Der Autor: Nick Flamang, 1990 in Hamburg geboren, studiert im ersten Semester Nordamerikastudien und Volkswirtschaftslehre an der Freien Universität Berlin.
Zu seiner Schulzeit war er Chefredakteur der Schülerzeitung 'Allees Klar!'. Neben seiner Tätigkeit für 'Studis Online' schreibt er für das studentische Campusmagazin an der FU 'Furios'.
Es mag ein eurozentristisches Vorurteil sein, aber mit der Literatur und Kultur der jungen Vereinigten Staaten ist es nicht sonderlich weit her. Sagt nicht sogar mein Kultur-Dozent immer, dass die Amerikaner unter einem »Cultural Inferiority Complex« litten?! Zu Recht, verdammt! Wo soll die auch auf einmal hergekommen sein, wenn man sich in den ersten Dekaden doch sowieso dauernd an die neuen Herrscher gewöhnen muss? Man gehört zu England, Frankreich, Spanien oder den Niederlanden und verbringt die Zeit entweder damit, sich für das auserwählte Volk zu halten (die Puritaner), massenweise Biberfelle nach Europa zu schiffen oder überall nach Gold und Silber zu suchen – ein Anspruch auf eine eigene Hochkultur ist da doch ein bisschen viel verlangt. Nun ja, ich kann allerdings nicht bestreiten, dass es nach der Amerikanischen Revolution nur 150 Jahre dauerte, bis die Vereinigten Staaten nicht nur wirtschaftliche und politische, sondern auch kulturelle Hegemonialmacht der Welt wurden. Also sollte man sich wohl auch mit der frühen amerikanischen Kultur und Literatur befassen.
Außerdem muss ich gestehen, dass Kultur und Literatur höchstwahrscheinlich nicht die Schwerpunkte meines Studiums werden; Geschichte, Politik- und Wirtschaftswissenschaft reizen mich schon deutlich mehr. Da diese Erkenntnis nicht erst gestern in mir heranreifte, hätte ich also eigentlich genug Zeit gehabt, mich mit den von mir weniger geliebten Themen zu befassen. Als großer Meister des Prokrastinierens (Aufschiebens) machte ich aber erst einmal was? Richtig, gar nichts. Und wenn dann doch ein bisschen Aktionismus in mir aufkam, wurde der gleich mit (vermeintlich) Wichtigerem außer Gefecht gesetzt. So ein Wochenende darf ja nicht ungenutzt bleiben. Und als das vorbei war, schrieb ich alles Mögliche, solange es nur nicht für die Uni war, und wenn es nichts mehr zu schreiben gab, war ich halt auf Bildungsdemos und schlug meinem schlechten Gewissen mit Musikhören ein Schnippchen. Aufsätze und Essays waren mir in der Schule schließlich nie sonderlich schwer gefallen. Wieso sollte das in der Uni mit einem Mal anders sein?
Wozu also hetzen, so eine Woche ist lang – dummerweise dachte ich das Dienstag noch immer, ungeachtet der Tatsache, dass die Hälfte meiner Zeit schon vergangen war. Immerhin setzte ich mich aber an meinen Einleitungssatz, naja, zumindest versuchte ich es. Tatsächlich stellte ich fest, dass es wohl eine gute Idee wäre, Washington Irvings »Rip Van Winkle« ein zweites Mal zu lesen. Diese Erkenntnis reichte aber aus irgendeinem Grund nicht dazu aus, mich am Dienstag oder wenigstens am Mittwoch diesem Werk zu widmen.
Nur blöd, wenn es dann doch hakt...
Und so saß ich am Donnerstag frustriert über einer der ersten Kurzgeschichten der Welt und ärgerte mich über meine von mir selbst als Ruhe und Gelassenheit missverstandene Arroganz. Besonders hilfreich war dieser Ärger bei der Arbeit jedoch auch nicht. Doch immerhin, es ließ sich alles ganz gut an: Ich entdeckte tolle Anspielungen auf die Amerikanische Revolution (ein Adler, der am Himmel kreist), das Lesen von Sekundärliteratur stellte sich nicht als martialische Höllenqual heraus und die Formulierung eines Einleitungssatzes fiel mir viel leichter als noch am Dienstag.
Also alles gut – dachte ich. Und ging dann erst einmal wieder zur Uni, Vollversammlung am Institut, Thema Bildungswoche. Hatte ich doch schon drei von fünf benötigten Absätzen mit ganz vielen tollen Ideen und außerdem, so viel Stress muss ich mir ja auch nicht machen. Schließlich war das bereits mehr als die Hälfte meines Essays, für den ich über eine Woche Zeit hatte, und der letzte Tag neigte sich noch nicht einmal dem Ende zu. Selbst eine Nachtschicht schien sich also vermeiden zu lassen. Dummerweise hatte ich etwas außer Acht gelassen. Nämlich warum ich mein Schreiben unterbrochen hatte: Mir leuchtete nicht so richtig ein, warum man ausgerechnet die Kyffhäusersage abwandeln muss, um den Prozess der amerikanischen Nationsbildung zu bewerten – angeblich schläft Friedrich I. Barbarossa mit seinen Getreuen im Kyffhäuserberg, um eines Tages zu erwachen und das Reich in ein neues Zeitalter der Herrlichkeit zu führen. Dummerweise verweisen aber sowohl Washington Irving selbst als auch meine Literaturdozentin auf diese Sage. Und tatsächlich ist »Rip Van Winkle« eindeutig eine Abwandlung der Sage. So fällt Rip Van Winkle in einer Höhle in den Catskill Mountains in einen zwanzigjährigen Zauberschlaf und verpasst somit die Amerikanische Revolution. Bei seiner Rückkehr ins Dorf rettet er aber kein Reich, ganz im Gegenteil: Er wird fast gelyncht, nachdem er sich als loyal zur Englischen Krone bezeichnet. Für mich hatte die Anlehnung "Rip Van Winkles" an die Kyffhäusersage vor allem eine Folge: vier Stunden frustrierter Arbeit – für einen Absatz! Befriedigendes Ergebnis? Fehlanzeige.
Fehlte nur noch ein Fazit, das meine supertolle, aufregende Eingangsthese untermauert. Also Bezug auf meinen restlichen Wisch genommen und versucht, halbwegs einleuchtend zusammenzufassen, dass Washington Irving ein Unterstützer der Amerikanischen Revolution war, jedoch vor dem Chaos warnte, in dem die junge Union zu versinken drohte. Jetzt bleibt mir nur noch die Hoffnung, dass das einem Menschen mit einem IQ von über 35 in irgendeiner Weise plausibel erscheint.
...bestimmt kommt irgendwann der Durchbruch.
Beim erneuten Lesen erscheint mir der Essay stellenweise wie ein durchschnittlicher Aufsatz eines Neuntklässlers. Ganz so schlimm wird er jedoch wohl nicht sein, zumindest dürften Neuntklässler sich noch nicht eingehender mit Analogien und literarischen Parabeln befasst haben. Außerdem behauptet jeder bei mir im Kurs, dass die Qualität des eigenen Essays in etwa jener von Pommes aus der Mikrowelle oder Schnitzel aus dem Toaster entspräche. Richtig glauben kann ich das nicht. Vor allem, wenn mir dann von zwei Nächten ohne Schlaf und vier Bänden Sekundärliteratur zu Hudson River School Paintings und Transzendentalismus erzählt wird. Für mich heißt es jetzt erst einmal Hoffen und Bangen. Alles mit einer 2 vor dem Komma dürfte zu spontanen Jubelanfällen meinerseits führen. Verdient wäre gefühlt irgendetwas zwischen 7 und 12. Ein bisschen Trost gibt es für mich dann aber doch: An meinen nächsten Essay werde ich ein bisschen ernsthafter herangehen. Wichtiger aber noch der Hinweis meiner Literaturdozentin: »Der Weg ist das Ziel«. Für mich dürfte es ein langer Weg werden…
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