UngewöhnlichMit den Eltern studieren
Von Anne-Ev Ustorf
Manchmal ist Jan Schmied besonders froh, seine Mutter zu sehen. An Tagen, an denen er zu spät zur Vorlesung kommt zum Beispiel. Wenn sich der Geschichtsstudent morgens um 9.25 Uhr in den Vorlesungssaal des Hamburger Philturms schleicht, zehn Minuten zu spät, nur halb wach und die Augen noch verquollen von der Party am Abend zuvor, dann ist er stets erleichtert, seine Mutter im Auditorium sitzen zu sehen. Zweite Reihe von unten, dritter Platz von links, da findet er sie immer - gut zu erkennen am silbrig-blonden Glanz ihrer Kurzhaarfrisur. Jan weiß, dass sie eifrig mitschreibt und ihm die Notizen der Vorlesung über bürgerliche Lebenswelten im 19. Jahrhundert nach der Veranstaltung schnell kopieren wird.
"Sie ist total übermotiviert und nimmt jede Vorlesung mit. Ich lasse manchmal lieber eine langweilige Veranstaltung sausen und gehe mit Kommilitonen Kaffee trinken. Das ergänzt sich gut", sagt der 22jährige augenzwinkernd. Die Tatsache, dass Mutter und Sohn gemeinsam studieren, hat für Jan eigentlich nur Vorteile. Das einzige, was ihn an seiner Mutter nervt, sind ihre panischen Anrufe beim täglichen Nahkampf mit den Bibliothekscomputern: "Fast jeden Tag ruft sie mich an und fragt: 'Was muss ich jetzt noch mal eintippen, wenn ich das Buch reservieren will?'. Das ist schon anstrengend. Ich gehe davon aus, dass sie noch zwei Semester braucht, bis sie den Bibliotheksrechner verstanden hat".
Gemeinsame Vorlesungen im Philturm
Seit einem Semester studieren Heide Schmied und ihr Sohn nun gemeinsam Geschichtswissenschaften an der Hamburger Uni. Eigentlich war es nicht so geplant. "Geschichte zu studieren war schon immer mein Traum, aber ich wollte erst, dass die Kinder halbwegs durch die Schule sind", erklärt die 44jährige, "Und als es dann so weit war, wollte Jan nicht in Hamburg, sondern in Freiburg Geschichte studieren". Doch dort klappte es nicht mit dem Studienplatz - also landeten Mutter und Sohn zusammen im Orientierungsseminar im Hamburger Philturm. Anfangs ging Heide Schmied ihrem Sohn nach den Vorlesungen absichtlich aus dem Weg. Inzwischen gesellt sich Jan schon mal zur Gruppe um seine Mutter, denn die hat vor allem unter den Kommilitoninnen Kontakte geknüpft.
"Manchmal denke ich, dass es nicht gut für Jan ist, dass wir gemeinsam studieren", sagt Heide Schmied nach der Vorlesung auf einen Kaffee in der Mensa, "So ein Studium soll ja selbstständig machen. Aber Jan weiß immer, dass da noch seine Mutter sitzt und schön mitschreibt. Na ja, wenigstens wohnt er jetzt nicht mehr Zuhause". Jan sieht das etwas lockerer. Während seine Mutter ihre Studium als Erfüllung eines lang gehegten Lebenstraums betrachtet, konzentriert sich Jan derzeit noch vorrangig aufs Studentenleben.
Ältere Studierende auf dem Vormarsch
Ältere Studierende sind an deutschen Universitäten schon lange keine Minderheit mehr. Besonders Fächer wie Philosophie, Theologie, Psychologie oder Geschichte sind bei Studierenden im fortgeschrittenen Alter gefragt: Rund 10,3 Prozent der Psychologiestudenten in Deutschland sind über vierzig, im Fach Philosophie sind es gar 12,5 Prozent. Hildegard Neufeld kennt sie gut, die älteren Studierenden. Die ehemalige Wirtschaftsjournalistin war nach ihrer Pensionierung zwölf Jahre als Dozentin an der Universität des Dritten Lebensalters tätig, einem spezieller Studiengang für ältere Studenten an der Uni Frankfurt. Am Telefon klingt die 82jährige wie Mitte Fünfzig. "Warten Sie, ich mache nur schnell meinen Computer zu", ruft sie der Journalistin am anderen Ende der Strippe entgegen – und ist schon wieder da, um der jungen Frau ein oder zwei Dinge über ältere Studenten erzählen.
Früher, so Hildegard Neufeld, kamen die "Seniorstudenten" noch an der Hand ihrer Kinder oder Enkel in die Seminare. Sie waren unsicher und mussten erst ermutigt werden, in Seminaren auch mal den Mund aufzumachen. Heute sind die älteren Studierenden bereits vorgebildet, kritisch und durchaus leistungsorientiert. "Wenn Eltern und Kinder gemeinsam studieren, können Sie davon ausgehen, dass die Eltern gut abschneiden werden", erklärt Hildegard Neufeld, "Die legen sich richtig ins Zeug, das kann ich aus eigener Erfahrung bestätigen. Die studieren nicht mehr, um etwas darzustellen, sondern weil sie wirklich etwas wissen und erreichen wollen".
Konkurrenz zwischen Mutter und Tochter
Eine leidvolle Erfahrung, die auch Jana Buchholz machen musste. Gemeinsam mit ihrer Mutter nahm die 31jährige vor einigen Jahren ein Psychologiestudium auf. Mutter und Tochter studierten in unterschiedlichen Ländern: Jana an der University of Exeter in England, ihre Mutter Erika Schwerdtner an der Uni Hamburg. Beide wählten ihr Studienfach aus einer ähnlichen Motivation heraus. "Wir kamen wohl beide mit denselben Fragen", erklärt Jana, die mittlerweile als Filmemacherin in Paris lebt, "Wir wollten beide meinen Vater, einen extrem schwierigen Mann, besser verstehen lernen. Jede von uns dachte, dass das Psychologiestudium da helfen würde". Tat es nicht, dafür entwickelte sich aber während der Studienzeit eine latente Konkurrenzbeziehung zwischen Tochter und Mutter – zumindest von Janas Standpunkt aus.
"Es hat mich irrational geärgert, dass sie angefangen hat, auch zu studieren", erzählt Jana, "Ich fand, das war eigentlich meine Rolle. Anfangs glaubte ich noch, die schafft das eh nicht. Später, als klar war, dass sie es doch durchzieht und zwar recht erfolgreich, hatte ich das Gefühl, dass sie mein Studium nicht ernst nimmt, weil es kürzer war als ihres. Deswegen habe ich es vermieden, mit ihr über Studienthemen zu sprechen". Erika Schwerdtner sieht die Sache völlig anders: "Ich fand es schön, dass Jana auch Psychologie studiert hat. So hatten wir eine weitere gemeinsame Sprache. Konkurrenz gab es null Prozent". Irgendwann tat Jana ihrer Mutter mal einen Gefallen und begleitete sie zu einer Vorlesung an die Hamburger Uni. Eine grenzwertige Erfahrung: "Aus Gewohnheit habe ich die Freundinnen meiner Mutter dort alle gesiezt. Später fand ich raus, das die alle so alt waren wie ich".
Jana Buchholz schloss ihr Studium mit der Note Zwei ab, Erika Schwerdtner toppte ihre Tochter wenig später mit einer Eins. Doch Janas Neid wich schnell dem Stolz auf die Mutter: "Die Bewunderung kam vor allem durch die Blicke der Anderen. Mit 52 noch mal anzufangen zu studieren und dann mit einer Eins abzuschneiden, da sage ich heute: 'Hut ab!'". Mutter Erika arbeitet inzwischen als Psychologin an der Cote d'Azur und therapiert dort deutsche Exilanten.
Der Kühlschrank ist leer
Doch nicht alle Kinder räumen ihren Eltern so uneingeschränkt das Recht ein, zu studieren. Anita Simon ist fünfzig Jahre alt und studiert seit drei Jahren Philosophie an der Uni Frankfurt – bislang zwar nur als Gasthörerin, dafür aber mit vollem Einsatz. Mindestens drei Tage die Woche ist sie auf dem Campus, abends schreibt sie Hausarbeiten. Ihre Kinder Alexander (25) und Katharina (23), die beide Jura studieren und Zuhause leben, betrachten das Studium ihrer Mutter zwar mit Wohlwollen - betonen aber auch die Einschränkungen, die das Familienleben dadurch erfährt. "Durch das Studium meiner Mutter gibt schon mal Kurzpässe Zuhause", erklärt Alexander, "Wir müssen uns hier oft selber verpflegen. Mittags esse ich nun immer in der Mensa, weil es abends nichts Warmes mehr gibt. Aber inzwischen habe ich es auch gelernt zu kochen ... das hat ja auch was Gutes".
Alexander betreibt nebenbei eine beeindruckende politische Karriere, ist bereits CDU-Ortsvorsteher für seinen Stadtteil in Eppstein und Kreistagsabgeordneter im Main-Taunus-Kreis – ein Foto mit Kochlöffel würde sich auf der Homepage des Jungpolitikers neben den vielen Schnappschüssen mit Politikern und Bildern aus der Wehrdienstzeit noch gut machen. Seine Mutter liebäugelt mit dem Gedanken, sich richtig zu immatrikulieren. Das Interesse und der Ehrgeiz wären schon da ... aber was würden die Kinder sagen? "Warum nicht?", sagt ihr Sohn Alexander, "Der einzige Nachteil wäre höchstens, dass sie mich noch stärker als bisher in Diskussionen über ihr Fach zu verwickeln versuchen würde. Hegels Phänomenologie des Geistes und so weiter. Mein Spezialgebiet ist das nicht gerade. Aber eine Hand wäscht die andere. Schließlich spanne ich sie ja auch immer zum Korrekturlesen meiner Hausarbeiten ein".