Barrieren ohne EndeStudieren mit gesundheitlicher Beeinträchtigung
Wie ist es, mit physischer oder psychischer Beeinträchtigung zu studieren? Diese Frage müssen sich leider immer mehr junge Menschen in Deutschland stellen. Die Befunde einer zu Wochenanfang veröffentlichten Studie des Deutschen Zentrums für Hochschul- und Wissenschaftsforschung (DZHW) geben Anlass zur Sorge.
Der Anteil der Hochschüler mit körperlichem oder geistig-seelischem Handicap hat sich in den Jahren von 2016 bis 2021 deutlich erhöht, von damals elf auf knapp 16 Prozent. Zum Zeitpunkt der ersten Erhebung 2011 waren es noch acht Prozent.
Der Anstieg ist insbesondere auf die drastische Zunahme an Erkrankungen der Psyche zurückzuführen. Von allen Arten der Erschwernisse entfielen auf diese Gruppe 65,2 Prozent, das sind rund 20 Prozentpunkte mehr als noch vor zwölf Jahren.
Pandemie hinterlässt Spuren
Für den Vorstandsvorsitzenden des Deutschen Studierendenwerks (DSW), Matthias Anbuhl, sind das vor allem Nachwehen der Corona-Krise. Vier Pandemie-Semester, drei davon Lockdown-Semester mit sozialer Isolation, hätten „deutliche Spuren hinterlassen“, befand er bei der Präsentation der Ergebnisse bei einer Pressekonferenz am Montag.
Das DSW ist Auftraggeber der aus Mitteln des Bundesministeriums für Bildung und Forschung (BMBF) finanzierten Untersuchung mit dem Titel „Studieren mit einer gesundheitlichen Beeinträchtigung“, kurz „best3“. In ihrem Rahmen wurden im Sommersemester 2021 rund 188.000 Studierende befragt, wovon etwa 30.000 eine Beeinträchtigung angaben.
Neu an dem Bericht ist, anders als noch bei „best1“ und „best2“, dass sich mit ihm erstmals die Situation der Hochschüler mit studienerschwerender Beeinträchtigung mit der von Studierenden ohne entsprechende Einschränkungen vergleichen lässt. Daraus können gezielt Schlüsse gezogen werden, an welchen Stellen anzusetzen ist, um Erleichterungen herbeizuführen – etwa bauliche, in der Verwaltung oder bei den Betreuungsangeboten.
Ängste, Zweifel, Suizidgedanken
Wie Anbuhl in seinem Statement ausführte, würden die psychologischen Beratungsstellen der Studierendenwerke „förmlich überrannt“. Die Wartezeiten hätten sich vervielfacht, während die Belastungen der Hilfesuchenden „gravierender, existenzieller“ geworden seien.
Früher hätten Studierende in der Mehrzahl wegen klassischer studienbezogener Themen Unterstützung benötigt. Heute reichten die Problemlagen dagegen von wirtschaftlichen Existenzängsten bis zu nagenden Zukunftssorgen. „Sie haben Ängste, Zweifel, depressive Verstimmungen und häufiger als früher sogar Suizidgedanken“, so der DSW-Chef.
Dass die Pandemie die verschärfte Situation kausal herbeigeführt hat, ist zunächst nur eine Mutmaßung. Ob dem so ist oder es sich um einen „allgemeinen Trend“ handelt, werde erst anhand zukünftiger Daten beantwortbar sein, heißt es in einer Stellungnahme durch DZHW-Geschäftsführerin Monika Jungbauer-Gans. Fakt sei jedoch, dass Studierende mit studienerschwerender Beeinträchtigung sich häufiger der Covid-19-Risikogruppe zuordneten (23 Prozent) als solche ohne Handicap (acht Prozent).
Warten auf „best4“
In der Studie selbst wird ebenso offen gelassen, ob die heftigen Ausschläge nach oben als „pandemiebedingte Ausnahmen oder als echte Trendwende“ einzuordnen sind. Denkbar wäre laut Koautorin Mareike Beuße auch, dass der Umgang mit einem psychischen Leid heute weniger tabubehaftet ist und man sich eher dazu bekennt als zu früheren Zeiten. Ein schwer abzuwägender Faktor besteht ferner darin, dass die gemachten Angaben auf Selbsteinschätzungen beruhen und in aller Regel nicht auf einem ärztlichen Befund.
Das alles mag einen Einfluss haben, dürfte den steilen Anstieg bei den Betroffenenzahlen aber allenfalls in Teilen erklären. Wie aus den Daten hervorgeht, besteht die fragliche Beeinträchtigung bei knapp 17 Prozent der Befragten von Geburt an, bei weiteren 62,5 Prozent trat sie vor Studienbeginn ein. Damit verbleiben 21,1 Prozent, bei denen der Beginn der Erkrankung in die Studienzeit fällt, wobei es in Fällen psychischer Leiden 22,6 Prozent sind.
Bei „best2“ aus dem Jahr 2016 lagen die Werte noch bei in beiden Fällen 17 Prozent. An den Differenzen wird der Corona-Effekt ziemlich augenscheinlich. Auffällig ist zudem der Ausschlag, was Beeinträchtigungen im Bereich „Bewegung“ angeht. Bei „best2“ datierten 23 Prozent das Auftreten der Krankheit in die Zeit nach Studienbeginn. Bei „best3“ sind es 34,2 Prozent. Verlässliche Aussagen über die Entwicklung und ihre Gründe wird aber wohl erst „best4“ geben können. Die Datenerhebung für die Studie ist für 2025 geplant, Ergebnisse gibt es dann wohl erst 2027.
Düstere Aussichten
Gleichwohl macht der Blick in die Zukunft nicht unbedingt Hoffnung. Als die Daten in der Jahresmitte 2021 erhoben wurden, waren der Ukraine-Krieg so wenig wie der Gaza-Krieg und die bis heute anhaltende Energie- und Inflationskrise absehbar. Vor dem Hintergrund eines nunmehr vier Jahre währenden Dauernotstands dürfte sich die gesundheitliche Verfassung der Heranwachsenden in Deutschland inzwischen sogar verschlechtert haben.
Gerade Studierende werden angesichts eines Berges an Herausforderungen – horrend verteuerte Lebenshaltungskosten, Wohnraummangel, verbreitete Armut – von der Politik sträflich alleingelassen. Das drückt auf die Psyche und macht irgendwann krank.
Für die Leidtragenden hat das zum Teil gravierende Folgen, die das DZHW an vier Punkten festmacht: Erstens denken diese häufiger über einen Studienabbruch nach. Sie unterbrechen das Studium häufiger mindestens einmal und wechseln öfter mindestens einmal das Studienfach oder die Hochschule.
Vielfältige Nachteile
Zweitens geben fast alle Betroffenen (92 Prozent) Schwierigkeiten in mindestens einem der Bereiche Studienorganisation, Lehre und Lernen, Prüfungen und Leistungsnachweise an. Einen Antrag auf individuelle Anpassung oder einen Nachteilsausgleich stellen sie eher selten, was vor allem Studierende mit psychischer Erkrankung betrifft. „Nur ein Drittel der Studierenden glauben, dass die Lehrenden hier Verständnis zeigen“, gab DZHW-Forscherin Beuße zu bedenken.
Drittens sind sie im Studium weniger gut sozial integriert und viertens berücksichtigen nur sehr wenige von ihnen bei ihrer Studienfachwahl die Vereinbarkeit der Beeinträchtigung mit späteren Beschäftigungsmöglichkeiten. Außerdem streben sie seltener ein Master-Studium nach dem Bachelor-Abschluss an.
Ferner offenbart die Studie, dass bauliche, kommunikative, organisatorische und didaktische Barrieren ein chancengleiches Studium in Deutschland nach wie vor verhindern. Bei über 400 Hochschulen sei die Barrierefreiheit noch ein fernes Ziel, vor allem fehle es an einem lückenlosen Angebot bei der Inklusionsberatung, beklagte DSW-Chef Anbuhl. Tatsächlich verfügten bisher nur 26 Hochschulen über Aktionspläne zur Umsetzung der UN-Behindertenrechtskonvention. Hier bestehe „noch viel Luft nach oben“.
Baustelle Studienfinanzierung
Die größte Hürde markiere allerdings das Leistungspensum mit seinen zeitlichen und formalen Vorgaben: Rund die Hälfte der Studierenden mit gesundheitlicher Einschränkung berichtet über Schwierigkeiten mit Selbstlernphasen und der Prüfungsdichte. Dazu machten drei von vier Befragten Diskriminierungserfahrungen. So seien ihre Leistungsfähigkeit in Frage gestellt oder erbrachte Leistungen schlechter bewertet worden. Laut Beuße könnten die Hochschulen darauf rasch reagieren, indem sie ihr Lehrpersonal entsprechend sensibilisierten.
Ein erheblicher Belastungsfaktor ist die ungesicherte Studienfinanzierung. Beeinträchtigte Studierende geben wesentlich häufiger an, dass ihr Lebensunterhalt nicht gesichert sei. Viele von ihnen sind wegen des Studiums aufs Jobben angewiesen, mehr als ein Fünftel steckt in finanziellen Schwierigkeiten.
„Wir brauchen dringend, gerade für die Studierenden mit Beeinträchtigung, eine Reform der staatlichen Studienfinanzierung“, betonte Anbuhl. Das beinhalte eine längere Studiendauer, mehr Studienunterbrechungen, beeinträchtigungsbezogene Zusatzkosten oder den Bedarf an Teilzeitstudienphasen. „Bund, Länder, Hochschulen und Studierendenwerke sind gefordert, gemeinsam entschlossen für eine bessere Vereinbarkeit von Studium und Beeinträchtigung zu sorgen“, bilanzierte der DSW-Chef. (rw)