Schluss mit Hochschulboom?Knapp 2,92 Millionen Studierende im Wintersemester 2022/23
Die Rekordjagd hat ein Ende – zunächst. Erstmals seit 15 Jahren ist die Zahl der Hochschüler in Deutschland nicht weiter gestiegen. Nach vorläufigen Ergebnissen des Statistischen Bundesamts sind zum laufenden Wintersemester 2022/23 an hiesigen Hochschulen 2.915.700 Studierende eingeschrieben. Gegenüber dem Vorjahr waren dies rund 30.400 weniger, was ziemlich punktgenau einem Rückgang um ein Prozent entspricht.
Die Entwicklung hatte sich abgezeichnet. Bereits seit dem Studienjahr 2017 befand sich die Zahl der Studienanfänger im Abwärtstrend. Allein zwischen 2020 und 2021 sank der Bestand der Erstsemester um 18.000. Die Gesamtbelegung zog im selben Zeitraum trotzdem an, wenngleich in gebremstem Tempo. Immer noch gab es jährlich weniger Abgänger – mit oder ohne Abschluss – als Neuankömmlinge dazu kamen.
Corona wirkt nach
Jetzt hat sich der Verhältnis umgekehrt: Im zurückliegenden Jahr gingen mehr „Alte“ von Bord, als „Neue“ angeheuert haben. Dabei dürfte ein Effekt der Corona-Krisenpolitik zum Tragen gekommen sein. Wegen der Härten der Pandemie waren die Regelstudienzeiten vorübergehend ausgesetzt worden, weswegen viele Studierende länger an ihrer Hochschulen verbleiben konnten als bis dahin üblich. Vermutlich ist von ihnen auf einen Schlag eine Vielzahl ausgeschieden und die Statistik weitgehend um diese „Überhangstudis“ bereinigt.
Der Schwund ist jedoch nicht allumfassend. Tatsächlich ergibt sich bei der Verteilung auf die einzelnen Hochschularten ein geteiltes Bild. Kräftige Einbußen verzeichnen allein die Universitäten und gleichrangigen Hochschulen mit einem Minus von 1,8 Prozent auf 1.722 Millionen Studierende. Dagegen legten die Fachhochschulen sogar leicht um 0,2 Prozent auf 1.096 Millionen zu. Die Verwaltungsfachhochschulen bringen es auf fast 60.000 Studentinnen und Studenten (minus 1,1 Prozent), die Kunsthochschulen auf zirka 38.000 (plus 1,4 Prozent).
Disparitäten offenbaren sich auch bei der Einzelbetrachtung der Bundesländer. Während Thüringen (plus 8,1 Prozent) und Sachsen-Anhalt (plus 6,5 Prozent) einen kräftigen Sprung nach oben hinlegten, ließen bis auf Bayern (plus 0,7 Prozent) und Bremen (plus 2,9 Prozent) alle anderen Westländer zum Teil deutlich Federn.
Hohe Mieten schrecken ab
Nordrhein-Westfalen kam auf minus 1,8 Prozent, Rheinland-Pfalz auf minus 3,1 Prozent, Hessen auf minus 4,0 Prozent und Hamburg als größter Verlierer auf minus 5,0 Prozent. Weil auch Berlin um 2,7 Prozent absackte, könnte das ein Hinweis darauf sein, dass die überhitzen Wohnungsmärkte und obszön hohen Mieten in den Großstädten immer mehr Studierende abschrecken.
In der Hauptstadt ist die Zahl der Immatrikulierten um 3.800 auf insgesamt unter 200.000 zurückgegangen. Alarmierend sind die Verluste in den Lehramtsstudiengängen. Wie aus der Antwort der Senatsverwaltung für Wissenschaft auf eine parlamentarische Anfrage hervorgeht, bewarben sich an der Freien Universität (FU) 88 Prozent weniger junge Menschen um ein Mathematikstudium mit Lehramtsoption als im Vorjahr. Dabei herrscht überall in Deutschland ein dramatischer Lehrermangel und mit am schlimmsten ist die Lage in der Spreemetropole.
Dass angesichts der Zahlen des Statistischen Bundesamts gleichwohl von einer umfassenden Trendumkehr vorerst nicht die Rede sein kann, zeigt sich an einem weiteren Befund. Durchaus überraschend erfasst die Wiesbadener Bundesbehörde nämlich wieder mehr Studienneulinge. Bezogen auf das ganze Studienjahr 2022 (Sommersemester 2022 und Wintersemester 2022/23) wuchs ihre Zahl um immerhin 0,4 Prozent oder absolut 1.800 auf etwas mehr als 474.000 Personen.
Das sind zwar deutlich weniger als etwa noch 2017 mit damals fast 513.000 Einsteigern. Gleichwohl läuft die leichte Aufwärtsbewegung den Voraussagen der Kultusministerkonferenz (KMK) zuwider. Nach deren jüngster Prognose von vor einem Jahr sollen die Erstsemesterzahlen ausgehend von 2019 bis 2026 eigentlich um mehr als zehn Prozent auf etwas über 454.000 nachgeben. Erst in der Folge wäre demnach mit einer Erholung um knapp acht Prozent auf über 490.000 bis zum Jahr 2030 zu rechnen.
Hochschulrun unterschätzt
Wie man aus schlechter Erfahrung weiß, liegt die KMK beim Blick in die Glaskugel praktisch immer daneben. In der neuesten Version wurde wahrhaftig zum ersten Mal die Umstellung auf die Bachelor- und Masterstudiengänge mitberücksichtigt, die schon über 20 Jahren ihren Anfang nahm. Seit Beginn der 2000er-Jahre hatte man stets mit erheblich weniger Studierenden kalkuliert, als dann bei den Hochschulen auf der Matte standen.
Dabei bemisst sich deren finanzielle Ausstattung, vor allem das im Rahmen des „Hochschulpakts“ (neuerdings „Zukunftsvertrag Studium und Lehre stärken“) bewilligte Geld, im Wesentlichen daran, mit wie viel Zulauf mittelfristig gerechnet wird. Bleibt die Schätzung hinter dem späteren Istzustand zurück, gibt es pro Kopf weniger Geld, als eigentlich erforderlich wäre. Die Betroffenen müssen das mit Abstrichen bei der Studienqualität ausbaden, zum Beispiel mit schlechten Betreuungsquoten. Behielten die Kultusminister ihren Hang zum Unterschätzen bei, drohen auch die neue und künftige Generationen von Studierenden zum Opfer einer Hochschulpolitik auf Sparflamme zu werden.
Andererseits sollte man sich vor voreiligen Schlüssen hüten. Mit Corona und der aktuellen Inflationskrise sind gesellschaftliche Umbrüche im Gange, die mit riesigen Ungewissheiten einhergehen. Zum Beispiel mussten in der Pandemie in großer Zahl internationale Studierende ihr Studium vorübergehend oder gänzlich aufgeben. Inzwischen haben aber wieder viele zurückgefunden beziehungsweise sind Neuankömmlinge aus dem Ausland in beträchtlichem Umfang dazu gestoßen.
200-Euro-Einmalzahlung reicht nicht
Die Datensammler aus Wiesbaden sehen darin dann auch einen der Gründe für die wieder leichte Zunahme bei den Studienanfängern, neben der „erhöhten Neigung“ zum Studieren unter jungen Menschen mit deutschem Pass. Eine Quantifizierung sei aber noch nicht möglich, da für das Berichtsjahr 2022 „weder Angaben zur Staatsangehörigkeit, noch zur Art der Hochschulzugangsberechtigung“ vorlägen.
Absehbar ist derweil, dass ausländische Studierende – wie schon bei Corona – abermals die ersten sein werden, die bei anhaltend überteuerten Preisen für Energie, Lebensmittel und Mieten auf der Strecke bleiben. Aber auch zahllose Einheimische könnten bei dem herrschenden Kostendruck irgendwann die Segel streichen müssen, weshalb den Hochschulen in den kommenden Jahren vielleicht ein regelrechter Exodus ins Haus steht. Zumal bisher keiner sich sagen kann, ob nicht schon der jüngste Rückgang bei den Studierendenzahlen der aktuellen Krise geschuldet ist.
Wo der Weg hinführt, hängt entscheidend davon ab, ob und in welcher Größenordnung die Politik bereit ist, den Bedrängten beizustehen. So viel erscheint klar: Die bisher bewilligten Hilfen, vornehmlich an die Adresse der Bezieher von Bundesausbildungsförderung (BAföG), sowie die geplante Einmalzahlung von 200 Euro an sämtliche Studierenden, für die es am Donnerstag vom Bundestag absehbar grünes Licht geben wird, werden nicht ausreichen.
Wo bleibt die nächste BAföG-Reform?
Das Deutsche Studentenwerk (DSW) warnt so auch davor, nur auf die Zahlen der Studienanfänger zu schauen. Statt dessen müsse man „den jungen Menschen auch einen erfolgreichen Studienabschluss ermöglichen“, äußerte sich am Mittwoch Verbandsgeneralsekretär Matthias Anbuhl. Vielen stünde „das Wasser bis zum Hals“ und „sie wissen jetzt nicht, wie sie die steigenden Preise für Gas, Strom und Lebensmittel zahlen sollen“.
Anbuhl weiter: „Studienabbrüche aus Geldmangel kann sich unsere Gesellschaft nicht leisten“, weshalb ein „Paket aus finanziellen Hilfen“ nötig sei: „mit einem existenzsichernden BAföG, das auch zu veränderten Studienwirklichkeiten passt, sowie einer modernen sozialen Infrastruktur und guten psychosozialen Hilfen“.
Für größere kurzfristige Anstrengungen der Bundesregierung zur Milderung der studentischen Nöte plädierte heute ebenso Andreas Keller, stellvertretender Vorsitzender der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW). Gegenüber Studis Online verwies er ferner auf die Langzeitperspektive und äußerte die Sorge, die Politik könnte mit den Daten aus Wiesbaden vorschnell den Abgesang auf den Hochschulboom einstimmen.
„Der Trend zu einem höheren Bedarf an akademisch qualifizierten Fachkräften ist in der Wissensgesellschaft des 21. Jahrhunderts ungebrochen“, erklärte der Hochschulexperte. Gleichzeitig würden viele Studienbewerber abgewiesen, weil Studienplätze fehlten. „Bund und Länder müssen daher die Kapazitäten ausbauen und beim Zukunftsvertrag ‚Studium und Lehre stärken‘ noch eine Schippe drauflegen.“ Außerdem sei die Ausbildungsförderung durch eine „umfassende BAföG-Reform“ zu verbessern, betonte der Gewerkschafter.
Genauso sieht das Nicole Gohlke von der Bundestagsfraktion Die Linke. „Junge Menschen wollen weiterhin studieren, werden in der Krise aber völlig allein gelassen“, befand sie heute im Gespräch mit Studis Online. „Die Ampelregierung muss dafür sorgen, dass Studieren die Menschen nicht in Existenznöte treibt", bekräftigte die Politikerin. Deshalb brauche es "statt Kleckerentlastungen dringend ein armutsfestes BAföG, was deutlich mehr Menschen erreicht als jetzt". (rw)