Einfach mal das Wohnen einstellenMMI-Hochschulstädtescoring 2022 veröffentlicht
Ein WG-Zimmer gefällig? Dann her mit dem Zaster! Stuttgart: 520 Euro pro Monat, Hamburg: 536 Euro, Berlin: 550 Euro, Frankfurt am Main: 580 Euro und – für die Hochbegüterten unter Deutschlands Studierenden – München: 700 Euro. Nach einer aktuellen Studie war eine Paar-Quadratmeter-Bleibe in einer Wohngemeinschaft noch nie so teurer wie heute. Und noch nie schossen die Preise steiler in die Höhe als innerhalb des zurückliegenden Jahres.
Die Entwicklung toppe „alles bisher Dagewesene“, äußerte sich der Geschäftsführende Direktor des Moses Mendelssohn Instituts (MMI), Stefan Brauckmann, am Donnerstag. Mit durchschnittlich 435 Euro zahlten junge Leute für eine handelsübliche Unterkunft monatlich 44 Euro mehr als noch vor einem Jahr. Die Veränderung nannte er „dramatisch“.
Das vom MMI in Kooperation mit dem Immobilienportal WG-Gesucht.de erstellte „Hochschulstädtescoring“ liegt seit gestern in der zehnten Auflage vor. In die Wertung kamen die Wohnungsmärkte in allen 95 deutschen Hochschulstädten mit mindestens 5.000 Studierenden.
München durchbricht Schallmauer
Beauftragt wurde die Studie vom Projektentwickler GBI Holding AG. Das Unternehmen verdient seine Brötchen unter anderem mit dem Bau vollausgestatteter Studentenapartments der Eigenmarke „SMARTments student“. Für die werden an Standorten wie Berlin, Frankfurt oder Hamburg Mieten von deutlich über 600 Euro aufgerufen – in all diesen Großstädten sind die Häuser privatwirtschaftlich ohne staatliche Förderung realisiert. Einige Häuser, die mit staatlicher Förderung realisiert wurden, bieten dagegen deutlich günstigere Mieten (z.B. in Erlangen oder Nürnberg teilweise noch unter 200 Euro, in Paderborn als Apartment aber auch schon 367 Euro) – aber sind dadurch auch sehr begehrt.
Allerdings geht es heute kaum noch darum, was man sich leisten will, sondern – mangels Alternativen – darum, was man sich leisten muss. Hierzu liefert die MMI-Auswertung wertvolles Anschauungsmaterial. Gewaltig sind die Sprünge, die die Preise in nur zwölf Monaten hingelegt haben. In Bayerns Landeshauptstadt wurden im August 80 Euro mehr für ein Zimmer verlangt als 2021, womit die Teuerung 12,9 Prozent beträgt. Bei neuerdings im Mittel 700 Euro Miete sei „die nächste Schallmauer des studentischen Wohnens schneller erreicht als erwartet“, befand Brauckmann.
Andernorts haben Hausbesitzer aber noch dreister draufgesattelt. In Lüneburg zogen die Mieten um 18,2 auf 390 Euro an, in Düsseldorf um 17,6 Prozent auf 500 Euro, in Bonn um 16,3 Prozent auf 465 Euro, in Flensburg um 14,9 Prozent auf 370 und in Stuttgart um 13 Prozent auf 520 Euro. Einsame „Spitze“ ist Erfurt mit einem Anstieg um 21,8 Prozent auf 335 Euro.
BAföG-Pauschale wirklichkeitsfremd
Allerdings gehört Thüringens Kapitale damit immerhin noch zum verbliebenen Drittel an Standorten, wo die Wohnpauschale nach dem Bundesausbildungsförderungsgesetzes (BAföG) weiterhin die tatsächlichen Ausgaben deckt. In 59 Fällen reicht der Zuschuss nicht und müssen die Betroffenen den Mehrbetrag aus eigener Kasse begleichen. Dabei wurde der Satz mit der jüngst in Kraft getretenen 27. BAföG-Novelle erst von 325 auf 360 Euro aufgestockt.
Offensichtlich waren die „Nachbesserungen“ durch Bundesbildungsministerin Bettina Stark-Watzinger (FDP) ziemlich wirklichkeitsfremd. Für manch eine WG in München muss man mal eben das Doppelte hinblättern. Nicht zuletzt wegen der aktuellen Preissteigerungswelle hinke „die Politik der Wohnrealität deutlich hinterher“, konstatierte dann auch MMI-Chef Brauckmann.
In diesem Punkt hat Nicole Gohlke von der Bundestagsfraktion Die Linke einen guten Rat: Noch vor diesem Winter brauche es im Rahmen einer neuerlichen BAföG-Reform einen regional gestaffelten Mietkostenzuschuss, meldete sich sich gestern zu Wort. Außerdem müssten endlich armutsfeste Bedarfssätze festgelegt werden.
Weitere Verschärfung droht
Bereits im Mai hatte der Paritätische Wohlfahrtsverband in einer alarmierenden Untersuchung festgestellt, dass ein Drittel der Studierenden ein Leben in Armut fristet. Dem Durchschnittsstudenten fehlten demnach fast 500 Euro für ein finanziell gesichertes Dasein. Die Zahlen bezogen sich allerdings auf den Stand 2019, also die Zeit vor Corona, und die anhaltende Preisexplosion im Gefolge des Ukraine-Kriegs hatten die Forscher auch nicht auf dem Zettel.
Entsprechend düster fällt der Blick in die – sehr nahe – Zukunft aus. Laut Brauckmann sind die aktuellen Teuerungen bei Gas, Strom und Heizung bei den vereinbarten Abschlagszahlungen noch gar nicht berücksichtigt. „Hier wird es sicherlich negative Überraschungen bei der Abrechnung geben.“ Zu befürchten sei, dass der Preisauftrieb beim studentischen Wohnen „erst am Anfang“ stehe. Das gelte freilich auch für größere Wohnungen mit zwei und mehr Zimmern. Dort sei die Lage „noch extremer“.
Im Bundesmittel belaufen sich die Mietaufschläge im Vorjahresvergleich auf 11,4 Prozent. Der höchste davor ermittelte Preissprung lag bei 7,1 Prozent im Untersuchungszeitraum 2018/19. Die neuesten Zumutungen macht das MMI an „Nachholeffekten“ fest. „Zwei Jahre sorgte die Corona-Pandemie bei Neuvermietungen eher für eine Seitwärtsbewegung der Preise“, erläuterte Brauckmann. „Damit ist es jetzt vorbei.“
Nachholeffekte nach Corona
Nach dem wenigstens gefühlten Ende der Pandemie haben gemäß MMI-Befunden viele Studierende Umzüge nachgeholt, erheblichen Einfluss hätten auch verschobene Studienabschlüsse. Da in der Corona-Krise Vorlesungen, Seminare und Prüfungen ausgefallen oder wenig ergiebig gewesen seien, verlängerten viele junge Menschen ihr Studium, zumal auch die offiziellen Regelstudienzeiten ausgedehnt wurden. „So werden viele Wohnungen später frei, der Mangel verschärft sich“, führte Brauckmann aus. Weil zudem viele internationale Studierende ein Auslandssemester in Deutschland verspätet absolvieren, geht es auf dem Markt noch einmal enger zu.
Zwar gibt es noch Standorte, wo es sich vergleichsweise erschwinglich wohnen lässt, vor allem im Osten der Republik. In Chemnitz etwa kostet ein WG-Zimmer im Mittel 250 Euro oder in Cottbus 300 Euro. Allerdings streben immer mehr junge Menschen in die großen Unistädte und Ballungszentren, wodurch die dortigen Wohnungsmärkte immer stärker überhitzen.
Laut der Analyse leben derzeit allein in den 15 Hochschulstädten mit einer Einwohnerzahl von 500.000 Personen über eine Million Studierende und damit 37 Prozent aller Hochschüler in Deutschland. Das MMI bemisst den Druck auf die regionalen Wohnungsmärkte anhand von 23 Kriterien und führt diese im sogenannten Anspannungs-Index zusammen. Dessen Wert lag 2022 bei 38,6 Punkten, „so hoch wie nie zuvor“. 2013, bei der ersten Erhebung waren es 33,4 Punkte. Damals kostete ein WG-Zimmer im bundesweiten Mittel noch 324 Euro, heute 111 Euro mehr.
BAföG-Reform schon überholt
Das Deutsche Studentenwerk (DSW) sprach angesichts der Ergebnisse von einem „deutlichen Alarmsignal“. Die Bundesregierung müsse „möglichst rasch eine weitere Erhöhung der BAföG-Bedarfssätze auf den Weg bringen“, mahnte Verbandsgeneralsekretär Matthias Anbuhl. Die zu diesem Wintersemester greifende Erhöhung um 5,75 Prozent sei von der Inflation „bereits kassiert“.
Auch bedürfe es dringend staatlichen Gegensteuerns auf Länderebene. Die Studierendenwerke benötigen zügig mehr finanzielle Unterstützung, damit sie die enormen Preissteigerungen bei Energie und Lebensmitteln nicht an die Studierenden weiterreichen müssen, etwa in Form stark erhöhter Mieten in den Studierendenwohnheimen und teurerem Essen in den Mensen. „Das tun zu müssen, geht gegen die ‚DNA‘ der Studierendenwerke“, bemerkte der DSW-Vorstand.
Seine Warnung: „Studierenden droht eine existenzielle soziale Notlage. Sie kommen finanziell und psychisch auf dem Zahnfleisch aus der Corona-Pandemie – und wissen angesichts explodierender Preise oftmals nicht, wie sie im Winter ihre Miete, Strom, Gas und Lebensmittel bezahlen sollen.“
„Tropfen auf dem glühend heißen Stein“
Fraglich erscheint zudem, ob die Bundesregierung auch nur eine Ahnung davon hat, welche Ängste und Nöte mithin Zehntausende akut Bedrängte inzwischen umtreiben. Wie berichtet, ist der im Frühjahr beschlossene Heizkostenzuschuss von 230 Euro beziehungsweise die Energiepauschale von 300 Euro vielerorts noch nicht bei den Betroffenen angekommen. Und Anspruch darauf haben ohnehin nur BAföG-Empfänger und Studierende mit steuerpflichtigem Job.
Sämtlichen rund 2,9 Millionen Hochschülern haben die Ampelkoalitionäre unlängst einen Zuschuss von 200 Euro im Rahmen des „dritten Entlastungspakets“ versprochen. Wer alles das Geld wirklich erhält, wie und wann es ausgezahlt wird, steht in den Sternen. Aller Voraussicht nach wird es im laufenden Jahr nicht mehr klappen. Auf eine umfassende Anfrage von Studis Online zum Stand der Planungen antwortete das Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) am Freitag nichtssagend: „Das Bundesbildungsministerium arbeitet derzeit mit Hochdruck an der Umsetzung der beschlossenen Zahlung an Studierende.“
Für den „zusammenschluss von student*innenschaften“ (fzs) wäre der Zuschlag ohnedies „nur ein Tropfen auf dem glühend heißen Stein“, wie der Studierendendachverband zu Wochenanfang monierte. „Mit 30 Prozent in Armut lebenden Studierenden, stetiger Inflation, ins Absurde steigenden Mieten spitzt sich die aktuell ohnehin schon prekäre Lage dramatisch zu“, klagte Verbandsvorstand Matthias Konrad. „Da wirkt eine einmalige Zahlung von 200 Euro wie ein schlechter Witz.“
Praktische Lebenshilfe mit Habeck
Ausdrücklich ernst gemeint hatte Bundeswirtschaftsminister Robert Habeck seine Lektion in Sachen Wirtschaftskunde in der ARD-Sendung Maischberger am Dienstagabend. Angesichts des drohenden Ruins zahlloser Unternehmen infolge der horrenden Energiekosten wolle er dennoch keine Insolvenzwelle anrollen sehen, insistierte da der Grünen-Politiker. Vielmehr könne es sein, dass „bestimmte Branchen einfach mal aufhören, zu produzieren“.
Das lasst euch eine Lehre sein, liebe Studierenden. Wie wäre es, wenn ihr demnächst, sollte ein Einkauf im Supermarkt euer Budget sprengen, „einfach erst mal aufhört“ zu wohnen oder zu essen oder zu leben. Kann man ja alles irgendwann später wieder machen – sobald die Krise vorbei ist. (rw)