Corona-Effekt – oder doch nicht?Knapp 2,95 Millionen Studierende im Wintersemester 2021/22
Die Hochschulen bleiben voll – wenn auch aktuell wieder eher virtuell.
Ist das jetzt eine gute oder schlechte Nachricht? Auch im Jahr zwei von Corona sind und bleiben Deutschlands Hochschulen proppenvoll. Nach ersten vorläufigen Ergebnissen des Statistischen Bundesamtes sind an hiesigen Universitäten, Fach-, Kunst- und Musikhochschulen im laufenden Wintersemester 2021/22 noch einmal mehr Studierende eingeschrieben als im Vorjahr. Wie die Behörde am Freitagmorgen mitteilte, beläuft sich die Zahl der Immatrikulierten auf knapp über 2,947 Millionen.
Damit geht eine Mitte der 2010er-Jahre gestartete Rekordserie in die Verlängerung: Die Alma Mater erlebt zum sage und schreibe 14. mal in Folge ein Allzeithoch in puncto Belegung. Allerdings ist die „Bestleistung“ mit ein paar Kratzern behaftet. Das Plus ist mit 0,1 Prozent oder 3.340 mehr Studentinnen und Studenten ziemlich kümmerlich oder im Wortlauf der Wiesbadener Datensammler: „marginal“.
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Zur Wahrheit gehört auch: Die vor einem Jahr veröffentlichte Marke für das Wintersemester 2020/21 lag sogar über dem aktuellen Wert – um 1.200 – und wurde erst in der Endabrechnung im vergangenen März auf etwas über 2,944 bereinigt. Wiederholt sich das, könnte mithin der 14. Titel rückwirkend wieder aberkannt werden und der neueste Triumph nur ein scheinbarer sein.
Fortsetzung folgt – nicht
Mit großer Sicherheit lässt sich aber schon jetzt sagen, dass keine Fortsetzung mehr folgen wird. Dafür geht der Trend zu eindeutig in die entgegengesetzte Richtung. Tatsächlich ist die Zahl der Studienanfänger zum vierten Mal am Stück zurückgegangen. Im Studienjahr 2021 (Sommersemester 2021 und Wintersemester 2021/22) haben 472.100 Personen erstmals ein Studium an einer deutschen Hochschule aufgenommen. Das waren vier Prozent weniger als im Studienjahr 2020 und acht Prozent weniger als im Vergleichszeitraum 2017/18, dem Jahr mit der laut Bundesamt „bisher zweithöchsten Studienanfängerzahl“.
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Darüber lag bloß noch das Studienjahr 2011 mit 518.700 Erstsemestern. Damals war die Wehrpflicht ausgesetzt worden und im Zuge der Umstellung auf das achtjährige Gymnasium (G8) hatten in mehreren Bundesländern zwei Jahrgänge gleichzeitig die Schule abgeschlossen. Das hatte einen riesigen Run auf die Hochschulen zur Folge, der auch in den Jahren darauf, mit zuletzt gebremster Dynamik, anhielt.
Diese Zeiten sind wohl fürs erste vorbei. Vor einer Woche präsentierte die Kultusministerkonferenz (KMK) eine Vorausberechnung der Studierendenzahlen für die Jahre 2021 bis 2030, die – man höre und staune – „erstmals“ die Entwicklung „nach Umstellung auf die Bachelor- und Masterstudiengänge abschätzt“.
Falsche KMK-Prognosen
Das Gremium, in dem die Bildungs- und Wissenschaftsminister der 16 Bundesländer sitzen, lag mit seinen Prognosen in der Vergangenheit wiederholt voll daneben. Der Zulauf an die Unis wurde mehrmals massiv unterschätzt, was letztlich die Studierenden ausbaden mussten – bis heute. Die finanzielle Ausstattung der Hochschulen, vor allem die im Rahmen des „Hochschulpakts“ bewilligten (neuerdings „Zukunftsvertrag Studium und Lehre stärken“), bemisst sich im Wesentlichen daran, mit wie vielen Studierenden mittelfristig gerechnet wird. Bleibt die Schätzung hinter dem späteren Istzustand zurück, gibt es am Ende pro Kopf weniger Geld als eigentlich erforderlich. Die Betroffenen bezahlen das mit Abstrichen bei der Studienqualität, zum Beispiel mit schlechten Betreuungsquoten.
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Wollen wir der KMK unterstellen, dass sie aus Fehlern gelernt hat und nicht noch einmal so patzt. Dann könnte der Kreis der Studieneinsteiger ausgehend von 2019 bis 2026 um knapp elf Prozent auf etwa 455.000 sinken. Begründet wird dies mit dem inzwischen nahezu flächendeckend eingestampften G8, also der Rückkehr der 13jährigen Schulzeit als Standardmodell und deren Nachwirkungen. Bis zum 2030 rechnet die KMK dann allerdings mit einem Wiederanstieg um 7,8 Prozent auf 490.400 Studienanfänger. Der treibende Faktor dafür ist der erneute Aufwuchs bei den Schülerzahlen, den die Kultusminister bis 2035 mit circa einer Million mehr gegenüber 2020 auf dann 11,8 Millionen beziffern. Aber Vorsicht: Auch bei den Schulen entpuppten sich die Prognosen der Politik nachträglich ein ums andere Mal als gravierend falsch.
Weniger Abschlüsse in der Krise
Sollte die KMK Recht behalten, müssten sich die Hochschulen für mindestens vier, fünf Jahre merklich leeren. Wenn sich das Niveau der jährlichen Hochschulabschlüsse fortlaufend um den Dreh von einer halben Million bewegt, werden per annum mehr Menschen die Unis verlassen als neu hinzukommen. Im Prüfungsjahr 2019 (Wintersemester 2018/19 und Sommersemester 2019) zählte das Statistische Bundesamt 508.000 Absolventen. Das waren fast exakt so viele, wie im Wintersemester 2019/20 an Neustudierenden nachrückten, aber schon 36.000 mehr als zum laufenden Wintersemester ein Studium aufgenommen haben.
Allerdings gibt es eine große Unwägbarkeit: Die Pandemie. Es ist schlicht nicht abzusehen, wie sich die Krise auch nur kurzfristig auswirken wird und noch viel weniger, sollte sie zu einer endlosen Hängepartie werden. Zum Beispiel war die Absolventenzahl im Prüfungsjahr 2020 um satte sechs Prozent oder 31.000 gegenüber dem Vorjahr eingebrochen. Ganz offensichtlich hat das Studieren unter den Bedingungen digitaler Distanzlehre erhebliche „Opfer“ gekostet, wenigstens dahingehend, dass eine beträchtliche Zahl junger Leute ihr Studium nicht in der geplanten Zeit zu Ende bringen konnte und damit den geregelten „Abfluss“ aus den Hochschulen „verstopft“.
Großer Aderlass ausgeblieben
Ob daraus ein Trend wird oder sich die Lage angesichts des zwischenzeitlich zurückgekehrten Präsenzbetriebs wieder normalisiert, muss sich noch zeigen. Auf alle Fälle ist Studieren im Corona-Modus mit Hürden, Unsicherheiten und Frustrationen verbunden, die man bis dahin nicht kannte. Zu den Herausforderungen des völlig veränderten Studienbetriebs kamen insbesondere finanzielle Härten wegen der in zwei Lockdowns massenhaft weggebrochen Studentenjobs.
Dazu gehören jedoch auch die neuen Zugangsregeln im Zeichen von 3G oder sogar 2G, die für Ungeimpfte mithin sogar den Ausschluss vom Studium bedeuten können. Zudem ist zu hören, dass die derzeit vielerorts praktizierte Mischung aus Präsenz- und Onlineveranstaltungen zu allerhand Ärgernissen bei den Betroffenen führt. Hier könnte sich eine Gemengelage zusammenbrauen, die in vielleicht schon naher Zukunft einen regelrechten „Exodus“ vom Campus provoziert.
Ohnehin grenzt es angesichts des fast schon zweijährigen Dauernotstands fast an ein Wunder, dass überhaupt noch so viele die Stellung halten und nicht längst die Brocken hingeschmissen haben. Pessimisten haben einen Aderlass in weit größerem Ausmaß befürchtet. Erhebungen dazu, wie viele Hochschüler im Laufe der Krise ihr Studium abgebrochen haben oder mit dem Gedanken spielen, gibt es bisher nicht. Eine nicht ganz taufrische Studie des Deutschen Zentrums für Hochschul- und Wissenschaftsforschung (DZHW) stufte die Neigung dazu als nicht stärker ausgeprägt ein wie vor der Krise. Allerdings bezog sich die Untersuchung auf das Sommersemester 2020.
Verluste bei Internationalen
Interessant ist in diesem Zusammenhang ein anderer Befund der Statistiker: Die Entwicklung an den Universitäten und Fachhochschulen verläuft unterschiedlich. Während sich an den Unis zwei Prozent weniger Menschen tummeln als im Jahr davor, sind es an den FHs plus drei Prozent. Die Verwaltungshochschulen vermelden sogar fünf Prozent mehr Einschreibungen und die Kunsthochschulen einen Zuwachs von zwei Prozent. Das könnte ein Hinweis darauf sein, dass die Zumutungen der Corona-Krise an den kleineren, stärker praxisorientierten und „persönlicheren“ Einrichtungen weniger heftig durchschlagen als an den großen „anonymen“ Massenunis.
Zeigen sich also an den Universitäten erste durch Corona bedingte Absetzbewegungen oder bewegt sich der Schwund im Bereich des demographisch Erwartbaren? Dazu sollte die Empirie alsbald Antworten liefern. Über wenigstens eine Gruppe steht indes jetzt schon fest, dass sie die Krise voll erwischt hat: die ausländischen Studierenden. Allein im Studienjahr 2020 war deren Zahl gegenüber dem Vorjahr um 22 Prozent gesunken. Für das aktuelle Studienjahr liegen nach Auskunft des Statistischen Bundesamts noch keine Informationen vor.
HRK-Chef mit Durchhalteparolen
Es liege nahe, den Rückgang bei der Zahl der Studienanfänger „auf die Auswirkungen der Pandemie zurückzuführen“, äußerte sich am Freitag der Präsident der Hochschulrektorenkonferenz (HRK), Peter-André Alt. Gleichwohl wertet er die Zahlen als Beleg der „Leistungsfähigkeit der Hochschulen trotz Corona“. Ermöglicht werde diese „durch außerordentliche Anstrengungen der Lehrenden, die mit Unterstützung einer Vielzahl anderer Mitarbeitenden (...) die Lehre bestmöglich in Präsenz und wenn nötig digital weiterführen“.
„Als maßgeblichen Grund für die Verringerung“ der Anfängerzahlen nannte Alt die Verluste bei den internationalen Studierenden. Vom Einbruch des Vorjahrs hätten sich die Zahlen in diesem Jahr offenbar „noch nicht erholt“, befand Alt. Die Betroffenen wahrscheinlich auch nicht. (rw)