Daheim bei Big BrotherExamen auf Distanz und mit Augentracking
Jetzt fehlt nur noch die zu überwachende Person …
Studis, aufgepasst! Big Brother is watching you! Was denn? Das wundert euch? Ihr habt ihn doch selbst reingelassen. In euer Zuhause. Oder habt ihr etwa geglaubt, ihr könntet in Corona-Zeiten Klausuren übers Internet schreiben und keiner guckt euch dabei zu oder filzt eure Bude oder macht Aufzeichnungen und Screenshots oder liest euren Rechner aus? Ach so, das war euch alles gar nicht klar und aufgefallen ist es euch auch nicht?
Dem Landesbeauftragten für Datenschutz und Informationsfreiheit (LfDI) in Baden-Württemberg aber schon. Stefan Brink haben in den letzten Wochen und Monaten zahlreiche Hinweise und Beschwerden erreicht, dass bei den in der Pandemie zur neuen Normalität gewordenen Online-Examen „teilweise erheblich in die räumliche und technische Privatsphäre“ der Betroffenen eingegriffen wird. Dabei gehe es bisweilen um „massive Eingriffe in die Freiheit der Studentinnen und Studenten“, beklagt er.
Gegen Recht und Gesetz
Aber Brink belässt es nicht beim Mahnen, er hat die Praktiken auf ihre Rechtsmäßigkeit geprüft. Mit dem Ergebnis: Vieles von dem, was diverse Hochschulen so anstellen, um den Prüflingen auf die Finger zu schauen, widerspricht der Datenschutz-Grundverordnung (DSGVO) der Europäischen Union sowie dem Landeshochschulgesetz (LHG) im Ländle. Zitat: „Keineswegs alle durchgeführten Online-Prüfungen genügen diesen gesetzlichen Anforderungen.“ Offenbar seien bei dem Versuch, Betrugsversuche am heimischen Computer zu verhindern, manche Lehrkräfte über das Ziel hinausgeschossen, befindet er. „Dauerhafte Kontrolle von Studierenden in Prüfungssituationen durch technische Tools, die zu stark ins Private gehen, ist nicht akzeptabel.“
In drei Semestern mit digitalem Fernunterricht – das vierte kommt bestimmt – haben sich allerlei neue Gewohnheiten eingeschliffen, die vor 18 Monaten noch völlig undenkbar waren. Das betrifft Rektorate, Dozenten und Studierende gleichermaßen. Bei letzteren zählt dazu die gewachsene Bereitschaft, Prüfungen in den eigenen vier Wänden abzulegen, aus Sorge, bei Präsenzterminen könnte man sich das Virus einfangen. Der Druck, sich auf solche Angebote einzulassen, ist oft immens. Kommt man mit den Leistungsnachweisen nicht nach, ist die Regelstudienzeit nicht einzuhalten, womit man zum Beispiel Gefahr läuft, aus der BAföG-Förderung zu purzeln.
Durchblick mit Proctorio
Also lässt man schon mal Fünfe gerade sein und macht Dinge mit, die vielleicht nicht ganz koscher sind, beziehungsweise verschwendet erst gar keinen Gedanken daran, dass dabei etwas nicht in Ordnung sein könnte. Im Fall der sogenannten Proctoring-Maßnahmen zur Beaufsichtigung digitaler Prüfungen liegt jedoch gleich einiges im Argen. So mussten sich in Baden-Württemberg Studierende in offenbar großer Zahl eine bestimmte Software auf den PC oder Laptop spielen, um überhaupt an den fraglichen Prüfungen teilnehmen zu dürfen. Solche Programme – wie etwa die der US-Anbieter Proctorio oder Examity – spähen den Rechner nach möglichen Hilfsmitteln aus und erkennen, ob zum Beispiel Suchmaschinen verwendet, Fremderzeugnisse gesichtet oder Textpassagen aus der Zwischenablage in die Klausur hineinkopiert werden.
Netzpolitik.org hatte bereits vor elf Monaten über den Einsatz von Proctorio an der Privathochschule Fresenius mit bundesweit mehreren Standorten berichtet. Nach den dort geltenden Verfahrensregeln zu Online-Klausuren werden diese mit Webcam und Mikrofon aufgezeichnet, der Prüfungsraum muss vorab gefilmt werden und der Tisch komplett leergeräumt sein. Jeden Versuch, eine andere Anwendung zu starten, unterbindet das Tool auf der Stelle und kann es mit dem Abbruch der Klausur ahnden. Außerdem darf keine andere Person den Raum betreten, es muss absolute Ruhe herrschen und die Teilnehmer müssen den Blick die gesamte Zeit auf dem Bildschirm richten. Sie dürfen nicht aufstehen, nicht sprechen, nicht einmal mit sich selbst.
Volle Kontrolle, null Konzentration
Ein Student, der seinerzeit eine Datenschutzbeschwerde gegen das Vorgehen einlegte, schilderte, wie sein Wissen um die Fertigkeiten der Software zur Gesichtserkennung sowie zum automatisierten Tracking von Augen-, Mund- und Kopfbewegungen auf ihn wirkte: Statt sich wie sonst üblich beim Nachdenken zurückzulehnen und den Blick schweifen zu lassen, habe er ständig darüber nachgedacht, ob er sich irgendwie falsch und auffällig verhält, ob er Augen oder Kopf zu viel bewegt oder seine Tastatur zu laut sei und das Mikrofon deswegen anschlagen könnte. Volle Konzentration auf die Klausur sei schwer gewesen.
Keine Frage: Ganz ohne Beaufsichtigung können Online-Prüfungen nicht vonstatten gehen. Schließlich stehen Studierende bei Präsenzklausuren ja ebenso unter Beobachtung. Nach den Geboten der Fairness und Chancengleichheit ist deshalb ein Höchstmaß an Gleichbehandlung von Präsenz- und Online-Prüflingen herzustellen. Dass die schöne, neue Digitaltechnik zu Schummeleien einlädt, müssen zu ihrem Leidwesen auch immer mehr Lehrerinnen und Lehrer an den Schulen feststellen. Das Schmücken mit fremden Federn ist mit Google zu einer Leichtigkeit und Verlockung geworden, der Kinder und Jugendliche mit Dankbarkeit und zunehmender Dreistigkeit erliegen. Und Studierende sind davon gewiss nicht ausgenommen.
Grenzen der Überwachung
Allerdings muss es Grenzen geben, um einem maßlosen Kontrollwahn gegen alle Regeln und Verhältnismäßigkeiten Einhalt zu gebieten. Ein No-Go für den obersten Datenschützer im Südwesten sind zum Beispiel alle Spielarten von Bewegungs- und Gesichtsscanning. „Man wollte an der Mimik erkennen, ob jemand betrügt“, monierte Brink gegenüber Tagesschau.de. „Das halten wir für Hokuspokus.“ Auch könne es nicht angehen, dass Prüflinge zu Einwilligungen in eigentlich unzulässige Maßnahmen genötigt werden.
Auf Unmut stößt bei ihm auch der Wildwuchs an Regularien. „Es gab an den Hochschulen keine einheitlichen, sondern sehr unterschiedliche Lösungen für Online-Prüfungen – zum Teil auch waghalsige.“ Natürlich, so Brink weiter, müssten Prüfungen „einheitlich und fair“ organisiert werden, auch müssten sie, „wenn immer nötig, beaufsichtigt werden“. Er werde aber weiter darauf achten, dass dabei die Bürgerrechte der Studierenden gewahrt werden. „Sie müssen ihre Rechte nicht aufgeben, um zeitnah an einer Prüfung teilnehmen zu können.“
Keine Heimlichkeiten
In einer Handreichung an die Hochschulen stellt seine Behörde klar, was möglich sein darf und was nicht. Danach ist die Videoaufsicht zwar zulässig. Nicht gestattet sind jedoch Aufzeichnungen und Screenshots von Prüfungen, ebenso wie die Aufforderung, zu Kontrollzwecken einen Kameraschwenk durchs Zimmer zu machen. Auch Textentwürfe der Teilnehmer bleiben geschützt, damit deren „Denkprozess“ unüberwacht bleibe. Auf dem Index stehen überdies Tools wie das „Aufmerksamkeitstracking und Tracking von Augen-, Kopf- und Körperbewegungen“.
Nicht regelkonform sind ferner sämtliche Verfahren, bei denen biometrische Daten verarbeitet werden, sowie der Einsatz von Software, die „unverhältnismäßig in die Vertraulichkeit und Integrität informationstechnischer Systeme eingreift“. Untersagt ist deshalb auch das Scannen von Rechnern zur Gewinnung persönlicher Daten der Prüflinge, etwa solche zur Gesundheit wie die „Nutzung von Hörgeräten oder Insulinpumpen“. Zudem müsse jede individuelle Überwachungsmaßnahme, beispielsweise ein länger andauerndes Aufrufen eines Einzelbildes des Prüflings, diesem optisch angezeigt werden, also „keine heimliche Überprüfung“.
Aus der Not geboren
So leicht es scheint, mit dem Finger auf die bösen Unis zu zeigen, sollte man sich doch vor vorschnellen Schuldzuweisungen hüten. Zunächst einmal sind es wohl längst nicht alle, die zu zweifelhaften und offen regelwidrigen Methoden greifen. Wie Jannica Budde vom Centrum für Hochschulentwicklung (CHE) im April gegenüber der Süddeutschen Zeitung (SZ) erläuterte, verzichteten manche Einrichtungen auf automatisierte Fernüberwachung und nutzten stattdessen einfache Videokonferenzsysteme mit mehreren Aufsichtspersonen. In anderen Fällen gebe es „nur eine kurze Identitätskontrolle am Anfang und dann bleibt die Kamera erst einmal aus“. Vielfach werde sogar gänzlich von Videoüberwachung abgesehen.
Daneben ist zu bedenken, dass die Rektoren selbst aus einer Not heraus agieren, die zumeist nicht hausgemacht, sondern dem anhaltenden Ausnahmezustand durch die Corona-Krise geschuldet ist. Wie viele andere Sphären der Gesellschaft wurde auch die Alma Mater von den Ereignissen überrollt und von der Politik ziemlich allein gelassen. Von der Bundesregierung ging an die Unis kaum mehr als die Ansage raus: Macht mal!
Zuckerbrot oder Peitsche?
Abseits von Corona mangelt es im Bildungswesen generell an überstaatlicher Steuerung. Jedes Bundesland kocht sein eigenes Süppchen, das in der Regel durch Geldmangel versalzen ist. Gerade diese chronische und systematische Unterfinanzierung bringt es mit sich, dass Schulen und Hochschulen sich überaus empfänglich für alle Hilfen seitens der Industrie zeigen und damit Einflüssen öffnen, die mithin nicht immer zum Besten der Interessen von Lernenden und Lehrenden sind. So kann es dann auch vorkommen, dass sich Softwarelösungen von Dienstleistern im Haus etablieren, die es mit Recht und Gesetz nicht ganz so genau nehmen.
Vielleicht ist das auch der Grund, warum LfDI-Chef Brink – zumindest fürs erste – auf Dialog setzt und den Hochschulen „bei der Suche nach passgenauen, datenschutzkonformen Lösungen“ helfen will. Die besagte Handreichung formuliere dazu „übersichtlich Eckpunkte, die zu beachten sind“.
Zweifelhafte Ehre
Die Gesellschaft für Freiheitsrechte (GFF) fährt dagegen größere Geschütze auf. Sie will Leidtragende dabei unterstützen, sich rechtlich gegen die Vorgänge zu wehren und so „Grundsatzurteile gegen maßlose Überwachung“ erwirken. Seine Argumente hat der Verein in einem am 14. Juli vorgestellten Gutachten gebündelt, das zu dem Schluss kommt: „Bereits die weniger eingriffsintensiven Proctoring-Add-ons können wesentliche Anforderungen an die IT-Sicherheit und den Datenschutz nicht erfüllen.“
Anders als Brink scheut die GFF auch nicht davor zurück, die Übeltäter beim Namen zu nennen. Kenntnisse zu Rechtsverstößen hat sie über die Technische Universität Darmstadt, die TU München, die Uni Erfurt, die Berliner Humboldt-Universität sowie diverse Fernhochschulen. Eine entsprechende Klage gegen die Fernuniversität Hagen hat das Oberverwaltungsgericht in Münster jedoch Anfang März zurückgewiesen. Ob die Überwachung rechtswidrig sei, könne per Eilverfahren nicht geklärt werden, urteilten die Richter. Deswegen hätten sie die Folgen abwägen müssen und dies sei zu Gunsten der Uni ausgegangen.
„Gut“ laufen die Dinge auch für Procorio. Bei den diesjährigen BigBrotherAwards, ausgerichtet durch den Datenschutzverein Digitalcourage, räumte die deutsche Zweigstelle des US-Unternehmens in Unterföhring Anfang Juni den Siegerpokal in der Kategorie Bildung ab. George Orwell hätte die Wahl bestimmt behagt. (rw)