Aufstand gegen „Bundesnotbremse“Länder wollen Reste an Präsenzuni retten
Vor zwei Wochen war Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier (SPD) auf Stippvisite in der Berliner Staatsbibliothek Unter den Linden. Vor einem Dutzend Studierenden, die sich maskiert und in gehörigem Abstand auf steinernen Stufen im Eingangsfoyer lümmelten, lieferte er kartonweise Erbauliches: „Die Treppe Ihres Lebens wird eine andere sein, als Sie erwartet haben. Aber hinauf stürmen werden Sie sie in jedem Fall!“ Nebst allerlei Durchhalteparolen, auf dass das gerade begonnene auch das „letzte vollverkachelte Semester“ sein möge, hatte das deutsche Staatsoberhaupt eine „Erwartung“ im Gepäck: „Jetzt ist es umgekehrt auch an uns, den Älteren, Solidarität mit Ihnen zu zeigen“, denn „Bildung gehört – auch in der Pandemie – ganz oben auf die Tagesordnung“.
Leere Lehre: Mit der Bundes-Notbremse werden zahlreiche Veranstaltungen wieder aus den Räumen von Hochschulen & Unis verbannt.
Zehn Tage später hatte sich der schöne Vorsatz wieder erledigt. Am vergangenen Donnerstag besiegelte Steinmeier das zuvor von Bundestag und Bundesrat verabschiedete „vierte Gesetz zum Schutz der Bevölkerung bei einer epidemischen Lage von nationaler Tragweite“ mit seiner Unterschrift. Ein Kernpunkt des sogenannten Notbremsen-Gesetztes: Ab einer Sieben-Tage-Inzidenz von 165 Neuninfektionen auf 100.000 Einwohner ist es mit den Rudimenten an analogem Hochschulbetrieb, der in den zurückliegenden Wochen mühsam aufgebaut und praktiziert wurde, schon wieder vorbei.
Update 29.4.: Notbremse wird für Hochschulen wohl doch entschärft
Gestern wurde berichtet, dass aufgrund der Kritik der Hochschulen „Präzisierungen im Gesetz geplant“ sind. Die Regel des Wechselunterrichts ab einer Inzidenz von 100 wird gekippt. Sowie soll es Ausnahmen für Praxisteile geben, auch wenn die Inzidenz über 165 steigt. (Quelle: Forschung & Lehre)
Freiluftuni macht dicht
Und prompt wurden mancherorts bereits die Türen verrammelt. In Erfurt zum Beispiel war am Montag Schicht: Da die Stadt seit längerem über dem Grenzwert liege, sei der Präsenzunterricht „bis auf weiteres einzustellen“, gab das Rektorat bekannt. Dies betreffe insbesondere „alle Lehrveranstaltungen die im Vorlesungsverzeichnis mit ‚bei Pandemie: PRÄSENZ‘ oder ‚bei Pandemie: HYBRID‘, d. h. mit verminderter Teilnehmerzahl, ausgewiesen sind“.
Erwischt hat es auch die Brandenburgische Technische Universität Cottbus-Senftenberg (BTU). Was an Laborpraktika oder Praxisanteilen in Werkstätten „verschiebbar ist, wird nicht gemacht“, zitierte der Berliner Tagesspiegel eine Sprecherin. Ganz bitter: Abgesagt sind ebenfalls die per Modellprojekt geplanten Lehrveranstaltungen unter freiem Himmel. Dabei sei „BTU goes open air“ schon in der Anlaufphase gewesen, man wollte Tische, Stühle und Stromanschlüsse auf den Außengeländen installieren. „Das geht jetzt nicht mehr, da trägt die Universität Verantwortung.“
Manch einem Freigeist bleibt da wohl die Spucke weg. Haben die Pandemiewächter nicht längst festgestellt, dass Infektionen in der freien Natur höchst unwahrscheinlich sind? Egal: Gesetz ist Gesetz und in dem neuesten steht nun einmal schwarz auf weiß, bei Überschreitung der 165er-Schwelle „ist ab dem übernächsten Tag für allgemeinbildende und berufsbildende Schulen, Hochschulen, außerschulische Einrichtungen der Erwachsenenbildung und ähnliche Einrichtungen die Durchführung von Präsenzunterricht untersagt“. Die Vorgaben werden erst wieder aufgehoben, sobald die Grenze an fünf aufeinander folgenden Tagen unterschritten wird. Basta!
Hochschulen sind keine Schulen
Wagt da wer, zu widersprechen? Tatsächlich: Irgendwie wollen die Hochschulen und die in Bildungsfragen tonangebenden Bundesländer dem Regelwerk nicht Folge leisten und proben den Aufstand. In einem Brief an Bundesbildungsministerin Anja Karliczek (CDU) und Bundesgesundheitsminister Jens Spahn (beide CDU) monieren die 16 Wissenschaftsministerinnen und -minister, dass die für den Schulbetrieb geltenden Regelungen eins zu eins auf die Hochschulen übertragen worden seien. Bei Geltung der Messlatte 165 würden praktische Ausbildungsanteile an den Hochschulen wegfallen und „steht eine eingeschränkte Studierbarkeit des Semesters in vielen Studiengängen zu befürchten“, heißt es in dem Schreiben vom Freitag der Vorwoche, das dem Tagesspiegel vorliegt.
Gegen „pauschale und untaugliche Regelungen für den Lehr- und Studienbetrieb“ hatte sich bereits im Vorfeld der Beschlussfassung die Hochschulrektorenkonferenz (HRK) positioniert. Die Vorgaben ignorierten „Spezifika, Anforderungen und Möglichkeiten“ der Hochschullehre in der Pandemie, gefährdeten die „bisherigen Leistungen der Hochschulen“ und schadeten einer „erheblichen Zahl an Studierenden“, beklagte HRK-Präsident Peter-André Alt vor einer Woche in einer Medienmitteilung.
Die HRK verlange deshalb „den Erhalt der bisherigen, ohnehin minimalen Praxismöglichkeiten in Lehre und Studium“. Labortätigkeiten, praktische Ausbildungsabschnitte, künstlerische Übungen und Prüfungen sowie der Zugang zum Bestand der Hochschulbibliotheken müssten und könnten auch bei höheren Inzidenzen aufrechterhalten werden. In Frage stellte der Verbandschef zudem die „undifferenzierte“ und „sachfremde“ Bestimmung, bereits ab einer Inzidenz von 100 auf „Wechselunterricht“ umzustellen. Hochschullehre vollziehe sich nicht in Klassenverbänden, Veranstaltungen seien teilweise völlig, teilweise überhaupt nicht digital organisierbar, erklärte Alt und schloss mit dem Appell: „Ich erwarte und fordere, dass Bund und Länder sachgerechte Regelungen finden.“
Vollwertige Semester?
Die Bundesregierung ließ ihn damit auflaufen. Aber immerhin bei den Kultusministern stieß er auf Gehör. Mit der Praxis eines überwiegend digitalen Lehrbetriebs mit ergänzenden Präsenzangeboten seien die Hochschulen in der Lage gewesen, „weitgehend vollwertige Semester zu ermöglichen“, konstatierten sie in besagtem Schreiben. Zwar ist das eine ziemlich enthusiastische Lesart dessen, was 13 Monate Quasi-Gefangenschaft im Homeoffice für viele Studierende an Lern- und Leistungsrückständen sowie an Leid und Entbehrungen mit sich gebracht haben. Aber immerhin zeigen die hochschulpolitisch Verantwortlichen zum ersten Mal in der ganzen Pandemie wirklich Flagge, um den Betroffenen beizustehen.
Wenn es dabei nur um das Bewahren kleinerer Erleichterungen geht und längst nicht um eine echte Öffnungsperspektive, dann ist das einerseits bedauerlich. Angesichts der bisherigen Nichtexistenz der Hochschulen in der öffentlichen Diskussion ist aber wenigstens ein Anfang dafür gemacht, dass die Interessen und Bedürfnisse der Studierenden endlich zur Kenntnis genommen werden. Die Schulterklopfereien durch den Bundespräsidenten oder die Kanzlerin mögen von Herzen kommen, gebracht haben sie den Leidtragenden bis dato nichts.
Aber wie stehen die Chancen, dass die Aufmüpfigkeit von Kultusministern und Rektoren auch fruchtet? Und müsste das taufrische Gesetz dazu erst wieder in einem langwierigen Prozess korrigiert werden? Nein, meinen die Länder unter Federführung von Baden-Württembergs Wissenschaftsministerin Theresia Bauer (Grüne). Man will den Text einfach so auslegen, dass er für die Hochschulen besser passt, beziehungsweise für diese schlicht keine Geltung hat. Im Wortlaut: Weil die Präsenzveranstaltungen an den Unis nicht mit denen an Schulen vergleichbar seien, müssten sie einfach „vom Gesetz unberührt bleiben“.
Mut zur freien Interpretation
Damit blieben praktische Ausbildungsabschnitte, etwa solche mit Patientenbezug in den Kliniken, Praktika sowie praktische und künstlerische Ausbildungsbestandteile auch jenseits einer Inzidenz von 165 möglich. Wie die Wissenschaftsministerinnen und- minister der Länder ausführen, gilt dies jetzt schon für Forschungstätigkeiten, Arbeiten in Laboren und ähnlichen Einrichtungen. Diese seien laut Gesetz kein Unterricht. Von der neuen Rechtslage nicht betroffen seien desgleichen Bibliotheken, „die für die Studierenden wichtige Arbeitsgrundlage für das Fortkommen im Studium sind“. Nach der freien Interpretation der Länder soll überdies die Regelung, nach der Abschlussklassen an den Schulen weiterhin in Präsenz unterrichtet werden dürfen, „auf Studierende, die unmittelbar vor dem Studienabschluss stehen“, angewendet werden.
Im Bestreben, die „Bundesnotbremse“ zu umgehen, will etwa das Land Berlin auf eine eigene Regelung mittels Landesverordnung zum Infektionsschutz setzen. Dabei wolle man sich auch auf das gemeinsame Schreiben der Wissenschaftsminister berufen und auf Ausnahmen für die Hochschulen beharren. In der Presse erklärte dazu Berlins Wissenschaftsstaatssekretär Steffen Krach (SPD): „Unsere Hochschulen gehen bereits an die absolute Schmerzgrenze und leisten durch Homeoffice und digitale Lehre einen vorbildlichen Beitrag zur Bewältigung der Pandemie.“ Deshalb bereite man jetzt „entsprechende Klarstellungen zu den wenigen verbliebenen Praxisformaten“ vor. Diese sollten dann „verpflichtend mit Tests abgesichert werden“.
Allzu viele Nutznießer hätte eine blockierte „Notbremse“ allerdings nicht. Gemäß einer Umfrage der Senatskanzlei für Wissenschaft und Forschung tauchen gerade einmal zwei Prozent aller Studierenden in der Hauptstadt sporadisch auf dem Campus auf – in Praxisformaten in Laboren, in der Medizin oder in den Werkstätten, die „digital schlicht nicht machbar sind“. An der Technischen Universität betrifft dies kümmerliche 1,2 Prozent, 25 Prozent sind an der Universität der Künste (UDK) und immerhin 39,5 Prozent an der Hochschule für Schauspielkunst Ernst Busch.
Studierende und Hochschulen werden seit den Einschränkungen durch die Corona-Pandemie wenig beachtet. „Home-Office“ ist die Realität. Und selbst Veranstaltungen, die Präsenz erfordern, finden kaum statt. Doch kann Universität so auf Dauer funktionieren? Unsere Autor:innen meinen: hybrid und in geschützter Präsenz muss wieder Betrieb an der Uni stattfinden! weiter
Karliczek will reden
Auch Hamburg ist offenbar wild entschlossen, eigene Wege zu gehen. Die Nichtberücksichtigung der Besonderheiten des Hochschulbereichs hält Wissenschaftssenatorin Katharina Fegebank (Grüne) für „misslich“, befand sie gegenüber dem Spiegel. Den Bund forderte sie auf, „endlich auch eine einheitliche Regelung zu praktischen Studienteilen zu finden, damit unsere Studierenden ein bisschen bessere Planungssicherheit in diesen schwierigen Zeiten haben“.
Bleibt die Frage, ob die Bundesregierung Zuwiderhandlungen gegen die „Notbremse“ so einfach hinnehmen wird. Am zurückliegenden Freitag zeigte sich Ministerin Karliczek jedenfalls gesprächsbereit. „Die Diskussion wird noch geführt und ich denke, da wird es noch die eine oder andere Änderung geben“, sagte sie. Auf die Frage, ob bereits entsprechende Verhandlungen im Gange sind, äußerte am Dienstag ein Ministeriumssprecher gegenüber Studis Online: Bereits jetzt stelle die Gesetzesbegründung klar, dass Prüfungen, Forschungstätigkeiten, Tätigkeiten in Laboren und ähnlichen Einrichtungen ebenso wie (Hochschul-)Bibliotheken „ausdrücklich nicht von der Untersagung von Präsenzunterricht erfasst“ seien. „Inwiefern darüber hinaus gesetzlicher Regelungsbedarf besteht, wird derzeit geprüft.“
Und warum sieht die Ministerin womöglich doch noch Handlungsbedarf? „Sonst gibt es am Ende einen Stau, und dann wird vielleicht hinterher ein Semester dran gehängt werden müssen, weil nicht genügend Laborkapazitäten da sind. Das wollen wir verhindern.“ Kennt man man ja aus dem Straßenverkehr: Vor dem Stau kommt der Crash. Nur warum wird beim Gesetzemachen nicht gleich auf Weitsicht gefahren? (rw)
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