Grenzen dicht mit CoronaWas geht in Sachen Auslandsstudium?
Immerhin: Über 12.000 Studierende sind in diesem Wintersemester mit dem Erasmus-Programm ins Ausland gegangen. Dies ist die Hälfte weniger als sonst.
Studis Online: Die Pandemie hält die Menschheit seit gut einem Jahr in Atmen. Auch im Wissenschafts- und Hochschulsystem hat sie tiefe Spuren hinterlassen. Die Unis in Deutschland und vielen Ländern der Erde laufen seit Monaten nur noch im Onlinebetrieb oder bestenfalls in einer Mischung aus Präsenzlehre und Homestudying. Was gerade Sie und Ihre Arbeit betrifft: Grenzüberschreitenden Austausch von Studierenden und Wissenschaftlern gibt es, wenn überhaupt, nur noch auf Sparflamme. Inwieweit ist die Corona-Krise auch eine Krise des Deutschen Akademischen Austauschdienstes?
Michael Flacke: Der internationale Lockdown im März 2020 war ein massiver Einschnitt für den weltweiten akademischen Austausch und die Arbeit des DAAD. Wir mussten damals sehr schnell rund 20.000 Geförderte im Ausland und knapp 6.000 internationale Studierende und Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler in Deutschland unterstützen. Beraten, Rückreisen organisieren, Stipendien weiterführen – alle DAAD-Beschäftigen haben da 120 Prozent gegeben. Seit dem vergangenen Sommer hat sich die Situation etwas entspannt. Studierende können wieder in die EU und nach Deutschland einreisen, die deutschen Hochschulen haben sehr schnell ein digitales Wintersemester auf den Weg gebracht.
Ganz aktuell nehmen die Ein- und Ausreisebeschränkungen aufgrund der mutierten Corona-Viren wieder zu. Gleichzeitig sehen wir, dass das Interesse an einem Auslandsaufenthalt weiterhin groß ist, auch wenn die Möglichkeiten derzeit natürlich eingeschränkt sind.
Diese Einschränkungen haben sich doch bestimmt in den Gefördertenzahlen niedergeschlagen. In welcher Größenordnung bewegt sich der Schwund in den einzelnen Programmlinien?
Unser Interviewpartner Michael Flacke ist Pressesprecher des Deutschen Akademischen Austauschdienstes (DAAD) in Bonn. Auslandsaufenthalte liegen ihm besonders am Herzen, da er während seines Studiums ein Praxissemester in der thailändischen Hauptstadt Bangkok verbrachte.
Auch wenn es zunächst ungewöhnlich klingt: Die Zahl der in Deutschland eingeschriebenen internationalen Studierenden ist 2020 weiter gestiegen. Wir gehen nach unseren Hochrechnungen derzeit von rund 320.000 bis 325.000 internationalen Studierenden, sogenannten Bildungsausländern, an den Hochschulen aus. Einige von ihnen sind nach einem Bachelor-Abschluss direkt in einen Master gestartet, andere haben ihren Abschluss verschoben, um weiterhin eingeschrieben zu sein.
Größere Rückgänge gab es bei den ausländischen Erstsemestern, hier gingen die Zahlen laut Statistischem Bundesamt im Sommersemester 2020 um mehr als 20 Prozent zurück. Für das Wintersemester und das gesamte Studienjahr 2020 warten wir noch auf finale Zahlen. Unsere Hochrechnung geht für das Wintersemester jedoch von einem etwas geringeren Rückgang um zehn bis 15 Prozent bei den internationalen Neueinschreibungen aus.
Im Erasmus-Programm sind nach aktuellen Daten im laufenden Wintersemester bis Dezember rund 12.500 Studierende und Praktikanten ausgereist und haben ab diesem Zeitpunkt ein Erasmus-Stipendium erhalten. Das ist trotz Pandemie rund die Hälfte eines Wintersemesters vor Corona. Von den Hochschulen hören wir zudem, dass die Nachfrage nach Auslandsaufenthalten mit Erasmus ungebrochen groß ist. Wenn wir auf die DAAD-Stipendiatinnen und -Stipendiaten schauen, so haben nur rund zehn Prozent ihr Stipendium abgebrochen, rund 45 Prozent sind bislang wie geplant ausgereist, knapp ein Viertel hat den Auslandsaufenthalt verschoben.
War es über die zurückliegenden zwölf Monate betrachtet schwerer nach Deutschland rein als aus Deutschland heraus zu kommen?
Seit letztem Sommer ist für internationale Studierende die Einreise in die EU und Deutschland grundsätzlich wieder möglich. Das war ein wichtiger Schritt nach dem weltweiten Lockdown. Ganz aktuell ist die Einreise aus Ländern oder Regionen mit einer großen Verbreitung der Mutationen des Corona-Virus untersagt. Auch wenn man aus anderen Ländern mit hohen Fallzahlen nach Deutschland einreisen will, muss vor der Abreise ein negativer Corona-Test vorgelegt werden und bei Einreise aus einem Risikogebiet besteht Quarantänepflicht.
Wir raten interessierten internationalen Studierenden dazu, sich frühzeitig auf den Webseiten des Auswärtigen Amtes, der Bundespolizei und des Robert Koch-Instituts über die Anforderungen und Möglichkeiten für ihr Heimatland zu informieren.
Bei der Ausreise raten wir als DAAD natürlich von Reisen in Corona-Risikogebiete und in Länder oder Regionen mit einer Corona-Reisewarnung des Auswärtigen Amts dringend ab. Ansonsten gilt, dass der deutsche Pass einer der am meisten akzeptierten Reisepässe weltweit ist. Für deutsche Studierende kommen aktuell eher Einreisebeschränkungen verschiedener Länder zum Tragen. Australien hält zum Beispiel weiterhin seine Grenzen für internationale Studierende geschlossen, auch nach China können internationale Studierende derzeit nicht einreisen.
Was raten Sie Studierenden, die wegen Grenzschließungen oder strenger Einreisebestimmungen des auserwählten Gastlandes seit einem Jahr und auch bis auf weiteres keinen Auslandsaufenthalt absolvieren können?
Nicht den Mut verlieren! Zunächst ist das International Office der eigenen Hochschule immer ein guter Anlaufpunkt für Informationen und Möglichkeiten zum Auslandsstudium – auch in Zeiten von Corona. Für Studierende, die ein Auslandssemester planen, besteht oft die Möglichkeit, dies zu verschieben und zu einem späteren Zeitpunkt in das Studium zu integrieren.
Als DAAD bieten wir unseren Stipendiatinnen und Stipendiaten die Möglichkeit, ihr Stipendium zunächst online anzutreten und erst später, bei einer Verbesserung der Pandemielage vor Ort auszureisen. Die Möglichkeit eines virtuellen Starts in den Auslandsaufenthalt gibt es auch im Erasmus-Programm.
Aber ein „Auslandssemester“ am heimischen PC kommt doch in der Wertigkeit nicht annähernd an einen echten Auslandsaufenthalt heran, nicht nur was die fehlenden persönlichen Erfahrungen in der Fremde betrifft. Würden Sie den Schritt dennoch empfehlen?
Ein Auslandsaufenthalt bedeutet Erleben mit allen Sinnen, daran kommt ein virtuelles Auslandssemester nicht heran, auch wenn wir an vielen deutschen Hochschulen aktuell sehr kreative Ansätze wie digitales Speed-Friending, virtuelle Weinproben oder Kochtreffs sehen.
Ein virtueller Auslandsaufenthalt bietet in dieser Pandemie auch mit Blick auf den Lebenslauf Vorteile: Arbeitgeber werden zukünftig sehr genau darauf schauen, was Absolventinnen und Absolventen beim Thema Digitalität zu bieten haben. Wer dann ein halbes Jahr virtuell mit anderen Studierenden an einer ausländischen Hochschule gelernt und „gelebt“ hat, der kann wertvolle digitale Fähigkeiten vorweisen. Daher: Auch ein virtuelles Auslandssemester kann im Lebenslauf Vorteile bringen.
Ist eine bereits bewilligte Förderung pfutsch, wenn man die Reise pandemiebedingt nicht antreten kann oder will?
Wer pandemiebedingt seine Reise nicht antreten kann, dem empfehlen wir, im Erasmus-Programm mit der Heimathochschule in Kontakt zu treten und zu versuchen, das Auslandssemester zu verschieben. Zudem gibt es die Möglichkeit, zunächst online in den Aufenthalt zu starten und, sobald sich die Pandemielage verbessern sollte, in das gewünschte Gastland auszureisen.
Wenn man seine Förderung oder sein Stipendium nicht antritt und auch keine Verschiebung möglich ist, muss man sich leider erneut bewerben. Erfreulich dabei: Wer im Erasmus-Programm sein bewilligtes Auslandssemester nicht antreten konnte, dem bleiben die vollen zwölf Monate Erasmus-Kontingent je Studienzyklus, also beispielsweise im Bachelor-Studium, erhalten.
Nun währt die Pandemie schon ein Jahr und ein rasches Ende ist nicht absehbar. Müssen die Modalitäten für die einzelnen Förderprogramme nicht noch viel weitreichender an die neuen Umstände angepasst werden?
Bei Erasmus+ sind schon viele Modalitäten angepasst worden: Studierende können ihr Auslandssemester virtuell beginnen und erhalten, sobald sie ins Gastland ausreisen, eine Erasmus-Förderung, selbst wenn das Studium oder Praktikum im Gastland online absolviert wird. Zudem sind Graduiertenpraktika bis zu 18 Monate nach Abschluss durchführbar.
Auch für DAAD-Stipendien haben wir flexibel reagiert und unterstützen unsere Stipendiatinnen und Stipendiaten bestmöglich in diesen herausfordernden Zeiten.
Wie verhält es sich in Fällen, in denen Studierende bereits im Ausland weilen, aber aufgrund der dort geltenden Regularien das Land verlassen müssen oder sie wegen des Infektionsgeschehens aus eigenem Antrieb ausreisen wollen. Bestehen auch hierfür besondere Bestimmungen und Möglichkeiten?
Zunächst ist es wichtig, zügig mit der Heimathochschule Kontakt aufzunehmen. Im dortigen International Office kann abgeschätzt werden, was möglich ist. Bei DAAD-Stipendien wie auch bei Erasmus-Förderungen gibt es die Möglichkeit, das Auslandsstudium digital von zu Hause aus zu beenden. Grundsätzlich gilt: Gesundheit geht vor, wir raten also allen Geförderten stets die Lage vor Ort gut im Blick zu behalten.
Sie sprachen es an: Nach Daten des Statistischen Bundesamts ist die Zahl der Studienanfänger aus dem Ausland zum Sommersemester 2020 um 28 Prozent eingebrochen. Entspricht das Ihren Befürchtungen?
Der Rückgang bei den internationalen Erstsemestern war durch die Reisebeschränkungen und den weltweiten Lockdown im März und April 2020 erwartbar. Seitdem hat sich die Situation verbessert, wir gehen für das gesamte Studienjahr „nur“ von einem Rückgang bei den internationalen Studienanfängern von rund 15 Prozent aus. Bei der Gesamtzahl internationaler Studierender gehen wir für das gesamte Jahr von einem leichten Wachstum auf rund 320.000 Studierende aus.
Beim DAAD sehen wir aktuell zudem eine erfreuliche Entwicklung: Das Interesse an Stipendien ist im virtuellen Sommer- und Wintersemester gestiegen. Wir konnten Ende letzten Jahres starke Zuwächse bei den Bewerbungen für viele Stipendienprogramme für 2021 vermelden. So haben sich zum Beispiel im Vergleich zum Vorjahr rund 60 Prozent mehr deutsche Studierende für DAAD-Stipendien in Westeuropa und Nordamerika beworben. Dabei sind insbesondere die Master-Stipendien beliebt: Die Bewerberzahlen stiegen um über 70 Prozent auf rund 1.400. Auch die Zahl internationaler Studierender, die sich für ein DAAD-Master-Stipendium in Deutschland bewerben, stieg auf über 5.000.
Wie lange wird es brauchen, um „Verluste“ bei den internationalen Erstsemestern wieder zu kompensieren?
Wir gehen derzeit davon aus, dass es zwei bis drei Jahre dauern wird, die Zahlen wieder über die Zahl von 2019 zu heben. Hier wird es darauf angekommen, wie die Impfungen in Deutschland und weltweit vorankommen und ob es beispielsweise ab dem Wintersemester 2021 wieder einen Präsenzbetrieb an den deutschen Hochschulen geben wird.
Wäre es nicht auch hilfreich, wenn ein so großes Land wie Baden-Württemberg seine Politik überdenkt und die seit dreieinhalb Jahren erhobenen Studiengebühren für internationale Studierende von außerhalb der Europäischen Union wieder abschafft?
Ganz grundsätzlich wäre es natürlich für den Studienstandort Deutschland wünschenswert, dass kein Bundesland Studiengebühren für internationale Studierende erhebt. Das Beispiel Baden-Württemberg zeigt, dass internationale Studierenden durchaus auf die Einführung von Studiengebühren reagieren. Was natürlich auch daran liegen mag, dass man innerhalb von Deutschland sonst überall gebührenfrei studieren kann.
Seit Einführung der Gebühren in Baden-Württemberg stagniert die Zahl der internationalen Studierenden dort. Davor lag sie bei rund 37.700 Studierenden, im Wintersemester 2019/20 waren es 36.600 Studierenden. In den anderen Bundesländern sind diese Zahlen im selben Zeitraum gestiegen.
Hat sich der „BaWü-Effekt“ auch bei ihren Bewerberzahlen bemerkbar gemacht, also schon im Vorfeld von Corona?
Nein, denn es ist ja nach wie vor für internationale Studierende problemlos möglich, gebührenfrei in Deutschland zu studieren. Die Zahlen haben sich also vermutlich durch die Einführung der Studiengebühren in Baden-Württemberg einfach ein wenig umverteilt zwischen den Bundesländern und sie sind seither bundesweit jedes Jahr stetig gestiegen. Dazu kommt: Baden-Württemberg hat exzellente Hochschulen und großartige Hochschulstädte. Das Land ist daher für unsere Stipendiatinnen und Stipendiaten wie auch internationale Studierende sehr attraktiv.
Vielleicht zum Abschluss ein Wort der Aufmunterung an alle Studierenden, die ins Ausland wollen, es aber gerade nicht können ...
Nochmals: Nicht den Mut verlieren! Die Corona-Pandemie zeigt uns allen, dass wir globale Krisen nur gemeinsam meistern können. In diesem Sinne ist jede Planung, jeder Gedanke an einen Auslandsaufenthalt – virtuell oder physisch – ein Schritt in Richtung mehr internationaler Zusammenarbeit und mehr Kooperation. Bestes Beispiel sind die in grenzüberschreitender Kooperation entwickelten Impfstoffe, die hoffentlich bald dazu führen werden, dass wieder mehr physischer Austausch möglich wird.
(rw)
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