Voll und doch so leer2,95 Millionen Studierende im Wintersemester 2020/21
Aktuell noch praktisch leer – doch wenn die Studierenden zurück können, wohl voll wie noch nie.
Selbst mit Corona bleibt alles wie gehabt: Deutschlands Hochschulen sind auch in Zeiten einer scheinbar endlosen Pandemie bis zum Anschlag voll. Nach neuesten Angaben des Statistischen Bundesamtes hat die Zahl der Studierenden abermals einen neuen historischen Höchststand erreicht – das 13. Mal in Folge. Zum Wintersemester 2020/21 sind nach vorläufigen Ergebnissen 2,948 Millionen Studentinnen und Studenten an den hiesigen Universitäten, Fach,- Kunst- und Musikhochschulen eingeschrieben. Das entspricht einem Plus von 57.600 oder zwei Prozent gegenüber dem Vorjahr, wie die Wiesbadener Behörde am Freitagvormittag mitteilte.
Einen Ansturm zum Semesterstart erlebten vorneweg die FHs. Mit 1.074 Millionen Immatrikulierten füllten die sich um stattliche fünf Prozent im Vergleich zum vorherigen Wintersemester. An den Universitäten einschließlich der Pädagogischen- und Theologischen Hochschulen ist das Niveau bei insgesamt 1.779 Millionen Eingeschriebenen und einem Zehntel Prozentpünktchen mehr hingegen „nahezu unverändert“. An Verwaltungsfachhochschulen studieren derzeit rund 57.000 Personen (plus sieben Prozent) und an Kunsthochschulen 37.800 (plus drei Prozent).
Weniger Stundienanfänger
Ein kleine Serie, allerdings unter umgekehrten Vorzeichen, verzeichnen die Statistiker mit Blick auf die Studienneulinge. Mit etwas mehr als 488.000 ging deren Zahl verglichen mit dem Studienjahr 2020 (Sommer- und Wintersemester) um rund 20.000 oder vier Prozent zurück. Der Schwund hält damit im dritten Jahr am Stück an, wobei die Entwicklung an Dynamik zugelegt hat. Bei der vorletzten und letzten Bestandsaufnahme betrugen die Verluste noch moderate 0,9 und 0,7 Prozent.
Das Bundesamt sieht dafür im wesentlichen zwei Ursachen. Einerseits sei in Niedersachsen durch die Rückkehr zum neunjährigen Gymnasium (G9) nur ein „unvollständiger Abiturjahrgang“ aus den Schulen abgegangen. Zum zweiten wären wegen der Corona-Krise „insbesondere ausländische Studierende ausgeblieben“. In welchem Ausmaß das geschah, geht aus den Daten nicht hervor. Der Präsident der Hochschulrektorenkonferenz (HRK), Peter-André Alt, hatte vor zwei Monaten gegenüber Studis Online von 20 Prozent weniger internationalen Studierenden gesprochen und sich dabei auf Zahlen der Vermittlungsagentur uni-assist berufen.
Große Verluste an Internationalen
Das könnte angesichts der Wasserstandsmeldungen aus einzelnen Bundesländern zu tief gegriffen sein. So sind etwa aus Nordrhein-Westfalen Einbußen von 28 Prozent überliefert. An der Technischen Universität Dresden soll sich das Defizit gar auf 30 Prozent belaufen. Aber selbst jene, die eine Studienzulassung haben, schaffen es mitunter nicht an ihre Uni, weil sie kein Visum zur Einreise nach Deutschland bekommen. „Geschlossene Auslandsvertretungen, kaum Termine zur Vorsprache und oftmals keine Antworten auf Anfragen desillusionieren die Betroffenen“, beklagte der Bundesverband Ausländischer Studierender (BAS) unmittelbar vor Semesterbeginn. Neuere Hilferufe von Leidtragenden auf Twitter unter #educationisnottourism zeigen, dass die Nöte weiterhin akut sind.
Ob und inwieweit die Pandemie Schulabgänger mit deutschem Pass von der Aufnahme eines Studiums abgehalten hat, lässt sich anhand der Datenlage nicht abschätzen. Eigentlich war hier sogar mit einem verstärkten Zulauf zu rechnen, weil aufgrund der weltweiten Eindämmungspolitik die bisher üblichen Work-and-Travel-Phasen nach dem Abitur auf breiter Front weggefallen sind. Andererseits könnten die anhaltenden Unsicherheiten im Zeichen des Gesundheitsnotstands viele vom Gang an die Uni abgeschreckt haben. Wie zum Beweis sind dann auch mit dem neuerlichen Shutdown in der Gastronomie abermals auf einen Schlag Hunderttausende Studentenjobs weggefegt worden. Vielleicht haben nicht wenige das kommen sehen und deshalb das Risiko eines Studiums gescheut.
Angst vor der Zukunft
Dazu passen auch die Befunde der jüngsten „JuCo2“-Studie des Forschungsverbunds „Kindheit – Jugend – Familie in der Corona-Zeit“. Demnach stimmten knapp 46 Prozent der über 7.000 befragten 15- bis 30jährigen der Aussage voll beziehungsweise eher zu, Angst vor der Zukunft zu haben. Zwei Drittel der Teilnehmer waren Studierende oder Auszubildende. Viele von ihnen gaben an, dass ihnen soziale Kontakte und Freizeitaktivitäten fehlten und ihnen Jobs weggebrochen seien. Einige haben Sorge, dies könnte zu einem Dauerzustand werden und die Finanzierung des Studiums über kurz oder lang gefährden.
Befürchtungen, die Krise würde kurzfristig massenhaft Studienabbrüche provozieren, haben sich – Stand jetzt – jedoch nicht bewahrheitet. Das dürfte gerade bei Bundesbildungsministerin Anja Karliczek für Erleichterung sorgen. Die CDU-Politikerin hat sich mit der aufgelegten „Überbrückungshilfe“ für notleidende Studierende allerhand Ärger eingehandelt. Kritiker halten das inzwischen verlängerte Zuschussprogramm in Sachen Reichweite und finanzieller Ausstattung für absolut unzureichend. So lässt sich getrost bezweifeln, das Paket könnte Studierende in großer Zahl vorm „Untergang“ bewahrt haben. Eher sprechen dessen Begleitumstände, im Besonderen die monatelange Hängepartie vor seinem Inkrafttreten, dafür, dass sich sehr viele Notleidende irgendwie anderweitig durchgeschlagen haben.
Jeder fünfte mit Geldsorgen
Was aber, wenn sich das Virus nicht bald aus dem Staub macht? Eine am Donnerstag veröffentlichte Untersuchung des Deutschen Zentrums für Hochschul- und Wissenschaftsforschung (DZHW) liefert in dieser Hinsicht wenig Erbauliches. Ein Resultat der Umfrage unter 28.600 Beteiligten besagt, dass sich für knapp 40 Prozent der jobbenden Studierenden die Erwerbssituation erschwert hat, was einem Anteil von 21 Prozent aller Hochschüler entspricht. Bei 32 Prozent hat sich nicht nur die eigene finanzielle Lage verschlechtert, sondern auch die ihrer Eltern. Entsprechend hatten sie im Sommersemester weniger Geld zum Leben als im vorangegangen Wintersemester.
Wenn bis dato nur wenige das Handtuch geschmissen haben, droht dies in nicht allzu ferner Zukunft zu einem Massenphänomen zu werden. Laut DZHW falle das Studienabbruchrisiko bei den Härtefällen „deutlich höher“ aus. „Die Daten weisen jetzt schon darauf hin, dass insbesondere Studierende, deren Erwerbssituation sich verschlechtert hat und deren Eltern zudem von einer verschlechterten Einkommenssituation betroffen sind, häufiger über einen Studienabbruch nachdenken“, warnte Projektleiter Markus Lörz. Welche mittel- und langfristigen Auswirkungen dies haben werde, gelte es „wissenschaftlich zu beobachten“.
Sozialer Kompass fehlt
Womöglich muss man auch nur das Ende des laufenden zweiten Pandemiesemesters abwarten, um festzustellen, dass die Krise den Hochschulen heftiger zusetzt, als es momentan noch den Anschein hat. Zumal auch völlig unabsehbar ist, wie sich die nahezu komplette Umstellung von der Präsenz- und auf die Onlinelehre auswirken wird. Wer weiß, wie viele der jungen Leute, speziell die frisch aus den Schulen Gekommenen, in einem Studium klarkommen, das fast nur zu Hause vor dem Bildschirm stattfindet. Auch hier lauern noch erhebliche Unwägbarkeiten, deren Folgen für die Studierneigung und Studierbeharrlichkeit der Betroffenen längst nicht einzuschätzen sind.
Angesichts dessen wirken die Verlautbarungen der Hochschulrektoren wie das Pfeifen im Walde. „Der anhaltend große Zuspruch zum Studium ist ein Ausdruck des Vertrauens in die Hochschulen und die Zukunftsfestigkeit der hochschulischen Bildung, auch und gerade in den durch die Corona-Pandemie geprägten Zeiten“, befand heute HRK-Präsident Alt. Es gelte, „die Chancen des andauernden Studierendenhochs im Interesse des Wirtschaftsstandorts Deutschland zu nutzen“.
Solcher Friede-Freude-Eierkuchen-Rhetorik kann Nicole Gohlke von der Bundestagsfraktion Die Linke nichts abgewinnen. „Wenn Studierende aus Nichtakademikerfamilien und internationale Studierende besonders unter der Pandemie leiden, ist das ein Armutszeugnis für den Bildungsstandort Deutschland“, gab sie am Donnerstag mit Blick auf die DZHW-Studie zu bedenken. Es zeige sich einmal mehr, „dass der Bundesregierung und Ministerin Karliczek der soziale Kompass abhandengekommen ist“.
Höchste Zeit für BAföG-Reform
Wie sie verlangt auch das Deutsche Studentenwerk (DSW) das System der Bundesausbildungsförderung (BAföG) von Grund auf zu reformieren und darin ein Instrumentarium für besondere Notfallsituationen zu implementieren. „Wir brauchen einen generellen Öffnungsmechanismus“, mahnte DSW-Präsident Rolf-Dieter Postlep am Freitag bei der Jahrespressekonferenz seines Verbandes. „Wir können uns nicht von Überbrückungshilfe zu Überbrückungshilfe hangeln.“
Zudem erneuerte er seine Forderung nach einem Ausbau der sozialen Infrastruktur der Hochschulen. Das Investitionsvolumen für Neubau, Sanierung, bauliche Hygienestandards und eine flächendeckende digitale Ausstattung bezifferte Postlep mit 4,2 Milliarden Euro. Weitere 1,6 Milliarden Euro bis 2026 brauche es für die Sanierung, Modernisierung sowie pandemiebedingte Nachrüstung der Mensakapazitäten. Das Verdikt des DSW-Chefs: „Eine gemeinsame Bund-Länder-Anstrengung ist dringender denn je.“