Nachteilsausgleiche bei BehinderungWo bleibt die Inklusive Hochschule?
Psychische Leiden sind die verbreiteste Beeinträchtigung, jedoch sind sie nicht immer sichtbar.
Mehr als jeder zehnte Studierende in Deutschland leidet unter einer studienerschwerenden gesundheitlichen Beeinträchtigung. Bei laut 21. Sozialerhebung des Deutschen Studentenwerks (DSW) elf Prozent aller Hochschüler reicht die Zahl der Fälle über die Marke von 300.000 hinaus. Im „nationalen Aktionsplan 2.0 der Bundesregierung“ zur Umsetzung der UN-Behindertenrichtlinie taucht sogar die Zahl 450.000 auf.
Das Ausmaß mag überraschen, weil man auf dem Campus bisher vielleicht nur wenigen offensichtlich Betroffenen begegnet ist. Tatsächlich sieht man es den Menschen jedoch häufig gar nicht an, dass sie krank sind, sich mit Depressionen herumschlagen oder Schwierigkeiten beim Lesen und Schreiben haben. Nicht wenige geben sich sogar die allergrößte Mühe, ihr Leid zu verbergen, weil sie Scham empfinden, Angst vor Ausgrenzung und Stigmatisierung haben oder fürchten, ihnen könnten Nachteile im Studienalltag erwachsen.
„Versteckspiel“
Das DSW hat 2018 mit „Beeinträchtigt studieren – best2. Datenerhebung zur Situation Studierender mit Behinderung und chronischer Krankheit“ eine umfassende Untersuchung zum Thema vorgelegt.
Die Daten beziehen sich auf das Wintersemester 2016/17 und sollen als Messlatte für die „Wirksamkeit der bisher eingeleiteten Maßnahmen zur Realisierung einer inklusiven Hochschule“ dienen und „aktuelle Handlungsfelder“ aufzeigen. Im Studientext kommen Betroffene mit ihren Sorgen zu Wort. Weitverbreitete Scham- und Angstgefühle beziehen sich demnach sowohl auf die Beeinträchtigung selbst als auch auf das als unaufrichtig empfundene „Versteckspiel“ Lehrenden und Kommilitonen gegenüber. Jene, die sich offenbarten, um etwa ihre häufigen Fehlzeiten oder den langsamen Studienfortschritt zu erklären, berichteten dagegen von „Unverständnis, Misstrauen und fehlender Sensibilität der Hochschulangehörigen“.
Solche Erfahrungen lassen es einerseits verständlich erscheinen, seine Probleme für sich zu behalten. Andererseits macht das die Lage womöglich noch schwieriger. Sich zu verstellen, zu verkriechen oder eine heile Welt vorzugaukeln, verlangt viel Aufwand und Kraft und erhöht damit den persönlichen Leidensdruck. Vor allem aber bringt man sich so um die Chance, Hilfe anzunehmen, die einem das Studieren maßgeblich erleichtern könnte . Denn tatsächlich gibt es vielfältige Angebote zur Unterstützung.
Unwissen und Scham
Konkret geht es um sogenannte Nachteilsausgleiche. Wer zum Beispiel unter einer Lese- und Rechtschreibsstörung, einer Legasthenie, oder einer Rechenschwäche, einer Dsykalkulie, laboriert, kann einen Anspruch darauf geltend machen, seine Prüfungen innerhalb einer längeren Bearbeitungszeit oder in anderer, gleichwertiger Form zu erbringen. Menschen mit körperlicher Behinderung stehen Erleichterungen mit Blick auf bauliche Barrierefreiheit, spezielle räumliche Bedingungen, der Zugang zu barrierefreien Dokumenten oder andere personelle und technische Hilfsmitteln zu. Ferner müssen die Hochschulen etwa für Studierende mit psychischen Erkrankungen, autistischen Leiden oder chronischen Schmerzen besondere Rückzugs- und Ruheräume vorhalten.
Allerdings gilt auch hier: Von nichts kommt nichts. Wer Hilfe braucht und will, muss diese beantragen und sich entsprechend outen. Um die Bereitschaft ist es allerdings ziemlich schlecht bestellt. Laut besagter best2-Studie haben vor drei Jahren lediglich 29 Prozent der 20.000 Befragten wenigstens einmal einen Antrag auf „individuelle Nachteilsausgleiche oder Anpassungen zur Kompensation beeinträchtigungsbezogener Schwierigkeiten gestellt“. Und das obwohl, immerhin 62 Prozent angaben, mit „starken“ oder „sehr starken“ Studienerschwernissen konfrontiert zu sein. Als Hauptgründe für den Verzicht wurden neben Hemmungen und der Ablehnung von „Sonderbehandlungen“ (jeweils 51 Prozent) Unklarheiten über die Anspruchsberechtigung bzw. Unsicherheiten wegen der Erfolgsaussichten (54 Prozent) oder schlicht Unkenntnis genannt, überhaupt Unterstützung erhalten zu können.
„Unterlassungssünde“
Das verweist auf große Informationsdefizite, die sich insbesondere die Hochschulen ankreiden lassen müssen. Es ist eben nicht damit getan, wenn irgendwo eine Broschüre zum Thema ausliegt oder ein Flyer durch die Mensa flattert. DSW-Präsident Rolf-Dieter Postlep sprach bei der Vorstellung der best2-Studie vor einem Jahr in diesem Zusammenhang von einer „Unterlassungssünde“. Vor allem in der Studieneingangsphase müsste man beeinträchtigten Studierenden „mehr Unterstützung und noch mehr Information anbieten“ und weiter: „Das Thema Nachteilsausgleich gehört in jede Erstsemesterveranstaltung.“
Wer nicht einmal weiß, dass sein persönliches Leiden zum Spektrum der Beeinträchtigungen gehört, für die es Abhilfe gibt, der fügt sich nicht nur ahnungslos in sein Schicksal sondern riskiert mithin, sein Studium wegen Überforderung hinschmeißen zu müssen. Die Zahl der Abbrecher und jener, die ihre Hochschulausbildung unterbrechen, ist nach der Erhebung unter beeinträchtigten Studierenden ungleich höher als unter solchen ohne gesundheitliche Einschränkungen. Sie wechseln zudem häufiger den Studiengang und verfehlen viel öfter ihr Wunschfach. Die größten Probleme bereiten ihnen die hohe Prüfungsdichte, Abgabefristen für Hausarbeiten oder die entsprechenden Anmeldemodalitäten. Schwierigkeiten machen ihnen ferner die „Vorgaben zum Leistungspensum und zur Anwesenheitspflicht“.
Jeder dritte Antrag scheitert
Mit 53 Prozent sind psychische Leiden die am stärksten verbreitete Beeinträchtigung. Auffällig ist dabei der Zuwachs um acht Prozentpunkte im Vergleich zur Vorgängerstudie von 2011. Danach kommen chronisch-somatische Erkrankungen wie Rheuma und Mutiple Sklerose (20 Prozent), gefolgt von langanhaltenden Erkrankungen wie Krebs oder Autismus (sechs Prozent). „Teilleistungsstörungen“ wie Legasthenie machen vier Prozent und Beeinträchtigungen der Bewegung, beim Sprechen, Hören und Sehen drei Prozent aus. Sieben Prozent leiden unter zwei oder mehr Beeinträchtigungen gleichzeitig. Mitunter begründen auch Prüfungsängste, verbunden etwa mit Konzentrationsmängeln oder Denkblockaden, den Anspruch auf einen Nachteilsausgleich. Voraussetzung ist dabei wie in allen Fällen ein Bescheid durch einen Facharzt oder Therapeuten.
Das allein ist aber noch kein Garant dafür, die ersuchte Hilfe bewilligt zu bekommen. Entscheidend ist, wie sich die Beeinträchtigung oder Behinderung im Studium auswirkt. Tatsächlich bewegen sich die Erfolgsaussichten auf eher mittelmäßigem Niveau. In 62 Prozent der Fälle gab es 2016/17 grünes Licht für den Antrag, während es 2011 noch 64 Prozent waren. Am besten stehen die Chancen, eine Modifikation der Prüfungsdauer und der Abgabefristen durchzusetzen. Das geschah in vier von fünf Fällen, hinsichtlich der Anpassung der Prüfungsumgebung in drei von fünf Fällen. Etwa zur Hälfte waren Vorstöße zu Änderungen in Bezug auf das Leistungspensum oder mit dem Ziel einer Wiederholung bzw. Verschiebung von Prüfungen erfolgreich. Die gängigsten Ablehnungsgründe lauteten indes wie gehabt: „nicht vereinbar mit der Prüfungsordnung“ und „Lehrende wollen ihre Lehrroutinen nicht ändern“.
Fallstrick „Dauerleiden“
Dazu kommt ein nicht selten gebrauchter juristischer Kniff, mit dem Antragsteller um ihre Rechte gebracht werden. Dabei werden Betroffene mit Verweis auf ein „persönlichkeitsprägendes Dauerleiden“ pauschal von Nachteilsausgleichen im Studium und bei Prüfungen ausgeschlossen. Der Terminus geht auf ein Urteil des Bundesverwaltungsgerichts (BVerwG) aus dem Jahr 1985 zurück, worin es heißt: „Dauerleiden prägen als persönlichkeitsbedingte Eigenschaften die Leistungsfähigkeit des Prüflings. Ihre Folgen bestimmen deshalb im Gegensatz zu sonstigen krankheitsbedingten Leistungsminderungen das normale Leistungsbild des Prüflings.“
Nach dieser Auffassung stellt eine mit einem Dauerleiden begründete Hilfe eine ungebührende Bevorzugung des Betroffenen und kein Mittel zur Herstellung von Chancengleichheit dar. Darauf muss man erst einmal kommen.
Gleichwohl wurde diese Rechtsauffassung in der Folgezeit zur Richtschnur oder „Leitentscheidung“ einer Reihe von Richtersprüchen, mit denen Unterstützungsleistungen verweigert wurden. Die juristische Praxis wirkt längst in den Hochschulalltag zurück.
Das DSW als Dachverband der bundesweit 57 Studierenden- und Studentenwerke klagt über eine „zunehmende Anzahl von Hochschulen“, mit dem Argument „Dauerleiden“ die Antragssteller „pauschal und ohne Einzelfallprüfung von individuellen Nachteilsausgleichen bei der Erbringung von Leistungsnachweisen ausschließen würden. Davon berichteten Studierende mit länger andauernden bzw. chronischen körperlichen und psychischen Erkrankungen und Beeinträchtigungen, zum Beispiel solche mit Multipler Sklerose, Epilepsie, Autismus, AD(H)S, Krebs oder Schmerz-, Trauma- oder Dialysepatienten. Zusätzliche Unsicherheiten entstünden dadurch, dass eine einheitliche Umsetzungspraxis an den Hochschulen fehlt. So gebe es sowohl Unterschiede von Hochschule zu Hochschule als auch zwischen einzelnen Fakultäten.
Überholte Rechtsprechung
Das DSW hat dies Zustände zum Anlass genommen, den Bochumer Verwaltungsrechtler Jörg Ennuschat mit der Erstellung eines Rechtsgutachtens zu beauftragen. Die Expertise wurde bei der jüngsten DSW-Fachtagung Thema „Nachteilsausgleiche in Prüfungen für Studierende mit Behinderungen“ am 14. und 15. November in Berlin vorgestellt. Der Jurist gelangt darin zu dem Schluss, dass die Rechtsprechung durch wesentliche völkerrechtliche Neubestimmungen in puncto Behindertenrechte überholt und „dadurch in gewisser Weise die normative Bodenhaftung verloren“ habe. Wer sich weiterhin auf besagtes BVerwG-Urteil von vor über 30 Jahren berufe, ignoriere die völker-, europa- und verfassungsrechtlichen Entwicklungen, die seither die Rechte von Menschen mit Behinderungen kontinuierlich gestärkt hätten. All dies habe einen „Paradigmenwechsel auf dem Weg zu einer inklusiven Hochschule“ bewirkt: „Nicht die Studierenden mit Behinderungen müssen sich der Hochschule anpassen, sondern die inklusive Hochschule passt sich den Bedürfnissen aller Studierenden an – auch und gerade in Prüfungen.“
Insbesondere verweist Ennuschat auf die 2006 verabschiedete Behindertenrechtskonvention der Vereinten Nationen (UN), die ein unmittelbar anwendbares Diskriminierungsverbot gegenüber Menschen mit körperlichen, seelischen oder geistigen Beeinträchtigung fixiert und auf seither auf verschiedene Weise in nationales Recht umgesetzt wurde. Dazu komme, dass bereits seit 1994 ein Verbot, Menschen wegen ihrer Behinderung zu benachteiligen, im deutschen Grundgesetz verankert ist. Daraus folge „ein besonderes Gleichbehandlungsgebot, welches als die speziellere Norm den allgemeinen Gleichheitssatz verdrängt“ und „deshalb einen besonderen prüfungsrechtlichen Grundsatz der Chancengleichheit für Prüflinge mit Behinderungen“ begründe. Vor dem Hintergrund der veränderten Rechtslage bilanziert Ennuschat: „Die Rechtsprechung kreist nur noch um sich selbst und muss wieder vom Kopf auf die Füße gestellt werden.“ (rw)