Erfahrungsbericht und TippsMein Zweitstudium
Von Judith Heptner
Zu manchen Entscheidungen muss man stehen und mit den Konsequenzen leben. Das gilt auch für das Studium – dachte ich zumindest bis letztes Jahr. Ich hatte aus Ratlosigkeit Wirtschaftswissenschaften studiert und nach zwei Jahren Berufsleben war klar: Das ist es einfach nicht. Aber nochmal studieren, wer macht denn sowas? So viel Zeit, so viel Geld, und vor allem auch: so viel Inkonsequenz? Der Weg, auf den ich mit meinem Wirtschaftsstudium abgebogen war, führte nicht dorthin, wo ich wollte. Trotzdem bretterte ich zwei Jahre lang stur und mit unverminderter Geschwindigkeit in die falsche Richtung. Einfach, weil ich mir nicht eingestehen wollte, dass ich mich verfahren hatte.1. 2016 – Unglücklich mit dem Erststudium
2. Ein Neuanfang in Hamburg
Judith (Jahrgang 1989) hat in Hamburg im Zweitstudium Psychologie studiert. Inzwischen arbeitet sie im Recruiting. Seit dem beruflichen Richtungswechsel beschäftigt sie sich sehr viel mit den Themen New Work und Work-Life-Integration.
Im Herbst 2014 schlug ich ein Jobangebot, das mir wie der einzig logische Karriereschritt schien, aus, um mit meinem Freund nach Hamburg zu ziehen. Plöztlich hatte ich auf einmal Zeit, viel Zeit.
Zum ersten Mal seit dem Ende meines Studiums arbeitete ich nicht 40 oder mehr Stunden pro Woche. Und zum ersten Mal wurde mir wirklich bewusst, wie wenig Lust ich hatte, wieder zurück in den Arbeitsalltag zu gehen. Nicht, weil ich lieber zu Hause sitzen und faulenzen wollte – sondern weil keine der Stellenanzeigen, die ich fand, mich inspirierte, mich überzeugte, mir das Gefühl gab: Für diese Sache könnte ich brennen.
Schlussendlich gestand ich mir ein, dass das Problem in der Richtung lag, die ich eingeschlagen hatte. Ich hatte die Karriere angefangen, die logisch war, die „man machen sollte“, aber ich brannte nicht dafür. Also nahm ich mir Zeit. Ich horchte in mich hinein, versuchte, zu fühlen, was es sein konnte, das mich inspirieren und begeistern würde.
3. Der Ruf der Psychologie
Die Antwort, die ich immer wieder bekam, war Psychologie. Sie kam in verschiedenen Formen: Psychotherapeutin? Berufsberaterin? Schulpsychologin? Kunsttherapeutin? Personalentwicklerin?
Die Psychologie ließ mich nicht mehr los. Mit diesen Gedanken kam die Reue darüber, dass ich, wie ich meinte, meine Chance verpasst hatte. Denn schließlich hatte ich schon einen Bachelor, und zwar in Wirtschaft.
Ich fasst einen tentativen Plan: Könnte ich einen Master in Wirtschaftspsychologie machen? Das schloss zwar einige der Optionen aus, die mir durch den Kopf gingen, aber es wäre zumindest ein wenig mehr die Richtung, die ich wollte. Ich erzählte einer Freundin von der Idee. Ihre Antwort warf mich ein wenig aus der Bahn: „Das klingt nach einem faulen Kompromiss. Warum studierst du nicht einfach Psychologie?“ Instinktiv antwortete ich, das ginge doch nicht. Rückblickend war das aber gleichzeitig der Moment, in dem ich begann, zu überlegen, ob es nicht doch ginge.
4. Master oder Zweitstudium?
Natürlich hätte der Master in Wirtschaftspsychologie mir einige Möglichkeiten, wie beispielsweise die Arbeit im Personalbereich, ermöglicht. In einer vergleichbaren Situation mag das für viele Menschen die beste Lösung sein. Sie ist weniger zeitintensiv und sorgt für einen stringenteren Lebenslauf.
Für mich fiel die Entscheidung schließlich stattdessen auf das Zweitstudium, weil ich mich nicht auf die Wirtschaftspsychologie festlegen wollte. Mich interessierte pädagogische und klinische Psychologie mindestens genauso sehr.
Ich rechnete die Kosten durch und wusste, ich müsste zwar viel neben dem Studium arbeiten, aber ich würde es mir leisten können. Und zum Ausgleich für die Zeit und das Geld, das ich investierte, bekäme ich eine ganz neue Chance: Ich könnte tatsächlich noch Therapeutin werden. Oder Schulpsychologin. Oder trotzdem Personalerin.
Schlussendlich war es das, was für mich den Ausschlag gab: Ich würde Zeit und Geld investieren – doch alle Türen, die ich spannend fand, wären offen, und ich hätte wiederum Zeit, herauszufinden, durch welche ich am Ende gehen wollte. Und so schrieb ich mich im Wintersemester 2015/16 an der Uni Hamburg für Psychologie ein.
Eine Pauschallösung gibt es für diese Entscheidungen nicht. Wäre ich zehn Jahre älter oder hätte meine Karriere anders angefangen, wäre ich vielleicht auch einen anderen Weg gegangen. Vielleicht wird es mich auch zwischendurch ärgern, dass ich immer noch nur die Hälfte von dem verdiene, was meine Freunde in ihren Vollzeitstellen bekommen. Oder dass ich an einem Freitagabend mit einem 700-Seiten-Wälzer über Entwicklungspsychologie zu Hause bleibe, während sich die arbeitende Welt auf ein Feierabendbier trifft.
Jede Entscheidung zieht auch Nachteile mit sich. Insgesamt bin ich mir aber sicher: Die Investition ist es wert. Ich bin mehr mit mir im Reinen als das in den letzten fünf Jahren je der Fall war – und das ist am Ende das Wichtigste.
5. 2019 - Abschlussfeier
Ich habe es tatsächlich geschafft. Ich halte meine Urkunde und eine lilafarbene Rose in den Händen, mein Freund schießt Fotos. Wir sind auf der Abschlussfeier des Fachbereichs Psychologie. Ein paar Wochen später erreicht mich auch mein Zeugnis mit der Abschlussnote.
Ich bin offiziell „fertig“ und darf mich jetzt sowohl „Bachelor of Arts der Wirtschaftswissenschaften“ als auch „Bachelor of Science der Psychologie“ nennen. Studentin bin ich offiziell schon seit einem halben Jahr nicht mehr, in den letzten Monaten habe ich nur noch an meiner Bachelorarbeit geschrieben. Trotzdem endet erst mit dieser Urkundenverleihung für mich eine kleine Ära.
Als ich mit dem Zweitstudium anfing, war ich 25 Jahre alt. Wie vermutlich bei vielen Menschen war die zweite Hälfte meiner Zwanziger ein ziemlicher Wirbelsturm.
Tatsächlich war das Zweitstudium in den letzten dreieinhalb Jahren so ziemlich die einzige Konstante in meinem Leben. Ich bin seit 2015 vier Mal umgezogen, habe mich getrennt und neu verliebt, habe zwei Mal den Job gewechselt und meine Pläne für die Zeit nach dem Bachelor mindestens fünfhundert Mal geändert. 2016 dachte ich, dass das zweite Studium die große radikale Veränderung meines Lebens sei – 2019 fühlt es sich an, als sei das Zweitstudium eher der solide, ruhige Teil der letzten drei Jahre gewesen.
6. Zeit für ein Fazit: Drei Dinge, die ich gelernt habe
1. Es ist möglich, ein Zweitstudium ohne finanzielle Unterstützung zu stemmen
Das bedeutet nicht, dass es einfach ist. Aber es ist machbar! Irgendwann zu Anfang des Zweitstudiums warf mir einmal jemand vor, dass „solche Sperenzchen“ nur möglich seien, wenn reiche Eltern den unentschlossenen, verwirrten Nachwuchs bei der Selbstfindung finanzieren. Das hat mich ziemlich geärgert – ich kann aber verstehen, woher diese Ansicht kommt. Im Zweitstudium gibt es kaum Möglichkeiten, (staatliche) Unterstützung zu bekommen. Ich weiß, dass diese Tatsache viele davon abhält, sich ernsthaft mit der Möglichkeit eines Zweitstudiums zu beschäftigen.
Ich möchte gerne denjenigen Mut machen, die sich über die Finanzierung Sorgen machen. Ich habe von Anfang an 20 Stunden neben dem Studium gearbeitet, in den Semesterferien mehr. Im letzten Jahr habe ich 30, während der Bachelorarbeit 40 Stunden gearbeitet. Es kostet natürlich Freizeit – und 40 Stunden kann ich rückblickend nicht empfehlen – aber schon mit 20-30 Stunden kann man seinen Lebensunterhalt recht gut bestreiten, wenn man bescheiden lebt.
Wer finanzielle Verantwortung trägt, z.B. für Kinder oder ein Haus, wird damit natürlich eventuell nicht hinkommen. In diesem Fall würde ich ein Teilzeitstudium empfehlen. Das muss nicht teuer sein, Psychologie wird z.B. auch an der Uni Hamburg als Teilzeitstudium angeboten. Private Hochschulen haben natürlich oft noch arbeitnehmerfreundlichere Präsenzzeiten, kosten aber auch mehr.
Persönlich habe ich mein Studium als reguläres Vollzeitstudium in Regelstudienzeit abgeschlossen und ab 2017 trotzdem sogar eine eigene kleine Wohnung finanziert. Ich habe recht sparsam gelebt, eher Bier getrunken als Cocktails und Tauschpartys genutzt, um neue Kleidung zu bekommen. Natürlich war das manchmal schwierig, vor allem, weil meine Freunde im Durchschnitt sehr viel mehr Geld zur Verfügung hatten. Aber es hat funktioniert – und jetzt, als Vollzeit-Arbeitnehmer, freue ich mich, dass ich mir Sparsamkeit angewöhnt habe und Geld am Monatsende übrig bleibt 😉
2. Beim zweiten Mal studiert man anders
Es gab Momente in meinem Zweitstudium, da habe ich mich wie eine „richtige Studentin“ gefühlt. Vor allem in Klausurphasen, wenn ich nachts um zwei Uhr noch schnell Tütensuppe gekocht habe, um noch eine Stunde länger mit Lernen durchzuhalten, und mich geärgert habe, nicht früher angefangen zu haben. Einige Dinge scheinen sich nicht zu ändern.
Allgemein aber studiert man beim zweiten Mal anders. Ich habe die meisten Vorlesungen ausgelassen, um genug Zeit für meinen Job zu haben. Wenn wir in Seminaren Präsentationen halten sollten, habe ich versucht, mich für möglichst kleine Gruppen oder allein eintragen zu lassen, weil ich wusste, dass mein voller Zeitplan Gruppentreffen erschweren würde. Für Klausuren habe ich in möglichst kurzen, intensiven Phasen gelernt. Ich habe rückblickend den Eindruck, dass ich im Zweitstudium insgesamt deutlich effizienter war – die Erfahrung aus dem ersten Studium hat definitiv geholfen!
Außerhalb von Seminaren habe ich wenig Zeit in der Uni verbracht. Ein Sozialleben habe ich mir dort nicht aufgebaut – teils, weil ich nicht musste (ich hatte ja schon einen etablierten Freundeskreis in Hamburg) und teils, weil ich mich kaum an den angebotenen sozialen Aktivitäten beteiligt habe. An vielem hatte ich kein besonders großes Interesse (Erstiparty? Nein danke…) und wenn ich Lust gehabt hätte (Glühwein und Waffeln!) hatte ich oft keine Zeit. Nette Menschen kennen gelernt habe ich trotzdem, nur tiefe Freundschaften sind nicht entstanden.
Aufgefallen ist mir auch, dass ich entspannter war als meine Kommilitonen. Vielleicht, weil ich schon einen Abschluss hatte oder vielleicht, weil ich Psychologie eher aus Interesse als mit festem Ziel studiert habe, waren mir Noten nicht übermäßig wichtig. Im ersten Semester habe ich einmal in einem Seminar berichtet, dass ich am Morgen vor der Klausur grundsätzlich nicht mehr in meine Unterlagen schaue sondern mich entspanne – ich erinnere mich sehr gut an 20 entsetzte Augenpaare und die Frage, ob ich nicht wüsste, welchen Notendurchschnitt man für einen Masterplatz braucht. Ich wusste es, aber ich wusste auch: Wenn es nicht klappt mit dem Masterplatz, dann werde ich meinen Weg auf andere Weise finden.
Jetzt, am Ende des Studiums, bin ich mir gar nicht sicher, ob ich noch einen Master anschließen möchte, und ich bin froh, dass ich mich nicht verrückt gemacht habe. Für mich war diese entspannte, neugierige Herangehensweise einer der schönsten Aspekte am zweiten Studium – auch wenn die Entspannung in Klausurphasen dann doch hin und wieder kurzfristig flöten gegangen ist…
3. Es kommt sowieso anders, als man denkt – auch im Zweitstudium
Vor dem Zweitstudium war ich ziemlich orientierungslos. Als ich mir in Vorbereitung auf diesen zweiten Teil des Artikels meinen Text von 2016 noch einmal angeschaut habe, ist mir das wieder bewusst geworden. Mir ist allerdings auch aufgefallen: Es kommt wirklich immer anders, als man denkt.
Ich habe gedacht, während des Studiums würde mir schon klar werden, wie es weitergehen soll. Das stimmt in Teilen: Mir ist zum Beispiel klar geworden, dass ich keine Therapeutin sein möchte. Der Weg ist mir zu weit und steinig, und so sehr mich Psychologie interessiert, ich fühle mich nicht „berufen“ genug, um ihn zu gehen. Eine Zeit lang wollte ich Kunsttherapeutin werden – ich hatte das passende Masterprogramm schon gefunden und war wirklich begeistert von der Idee. Bis ich dann mit einer Kunsttherapeutin sprach, die mir erzählte, dass der Arbeitsmarkt und die Arbeitsbedingungen in diesem Bereich ziemlich unterirdisch seien. Ich wollte nicht so lang studiert haben, um es danach so schwer zu haben. Irgendwann im vierten Semester ließ ich daher auch diese Idee los und war genauso orientierungslos wie vorher.
Inzwischen bin ich seit über drei Jahren im Personalwesen. Direkt mit Beginn meines Studiums habe ich in diesem Bereich einen Job angenommen – und bin hängen geblieben. Meine Arbeit als Recruiterin gefällt mir, aber wenn ich mir meinen Lebenslauf so ansehe, bezweifle ich irgendwie, dass ich mein Leben lang dem Personalbereich treu bleiben werde.
Vielleicht ist es am Ende vor allem das, was ich mitnehme: Ich bin nun einmal ein vielseitig interessierter Mensch. Ich bin neugierig, ich will ständig dazu lernen und ich brauche immer wieder neue Projekte, die ich angehen kann. 2015 habe ich gedacht, ich wäre ursprünglich einfach falsch abgebogen. Jetzt ist mir klar, dass es einen geradlinigen Weg für mich nicht geben konnte – und auch nicht geben wird.
7. Die große Frage: War es das wert?
Am Ende stehe ich vor der Tatsache, dass ich jetzt 29 Jahre alt bin und im Personalwesen arbeite. Den Quereinstieg dorthin hätte ich sicherlich auch ohne das Psychologiestudium geschafft.
Ein Praktikum im HR oder doch der Master in Wirtschaftspsychologie wären rückblickend die logischeren und stringenteren Optionen gewesen. Bereut habe ich das Zweitstudium trotzdem keine Sekunde.
Ich habe mir Zeit genommen, Antworten auf die Fragen zu finden, die mich 2015 geplagt haben. Ich habe gelernt, effizient zu arbeiten, sinnvoll zu priorisieren und mit relativ wenig Geld auszukommen. Ich habe mich intensiv mit einem Thema beschäftigt, das mich wirklich interessiert.
Inzwischen habe ich auch viel Übung darin, meinen ungewöhnlichen Lebenslauf zu erklären, zum Beispiel potenziellen Arbeitgebern oder auch neuen Bekanntschaften. Zu meiner Überraschung ist das Feedback überwiegend positiv – zu Beginn des Zweitstudiums hatte ich ziemliche Sorge, wie mein Umfeld auf eine so „unvernünftige“ Entscheidung reagieren könnte.
Vor allem aber, so sehr das nach Klischee klingt, habe ich in den letzten dreieinhalb Jahren unheimlich viel über mich selbst gelernt. Geradlinig werde ich wohl nicht mehr – aber ich fange langsam an, das ganz in Ordnung zu finden.