Verrechnen nach PlanPolitik erwartet anhaltend volle Hörsäle
Es bleibt voll an den Hochschulen …
Prognosen sind schwierig, vor allem wenn sie die Zukunft betreffen. Niemand weiß genau, auf wessen Konto das Zitat geht. Fest steht aber auf alle Fälle: Die Kultusminister der Länder waren es nicht. Die maßen sich in schöner Regelmäßigkeit an, vorauszusagen, was in zehn, 15 mithin 20 Jahren sein wird – und liegen mit vollem Verlass daneben. Egal ob es gilt, den künftigen Bedarf an Lehrern in den Schulen zu ermitteln oder den an Erzieherinnen in den Kitas. Blicken die Damen und Herren Bildungsplaner in die Glaskugel, gucken die Betroffenen irgendwann später in die Röhre. Und ist erst die Realität wie immer anders gekommen als prophezeit, heißt es: Verzeihung, konnte ja keiner ahnen.
Beim „Verschätzen“ der möglichen Zahl derjenigen, die eines fernen Tages vielleicht einmal als Studentin oder Student an Deutschlands Hochschulen vorstellig werden, hat es die Kultusministerkonferenz (KMK) zu wahrer Meisterschaft gebracht. Ein Beispiel: Bei ihrer Vorausberechnung aus dem Jahr 2005 kalkulierten sie für das Jahr 2018 mit wenigstens 349.600 und höchstens 386.400 Studienanfängern. Am zurückliegenden Freitag legte die KMK die tatsächlichen Zahlen vor. Demnach haben im Vorjahr 510.400 junge Menschen ein Studium aufgenommen, also 124.000 mehr als man sich vor 14 Jahren hat träumen lassen.
Studienanfänger-Prognose der KMK | ||||
Jahr | Studienanfänger in Deutschland | Flächenländer West1 | Flächenländer Ost2 | Stadtstaaten3 |
2019 | 514.000 | 395.100 | 56.300 | 62.500 |
2020 | 500.700 | 384.000 | 55.600 | 61.100 |
2021 | 500.400 | 383.200 | 55.700 | 61.500 |
2022 | 502.200 | 383.300 | 56.400 | 62.500 |
2023 | 504.200 | 384.400 | 56.800 | 63.000 |
2024 | 505.200 | 384.600 | 57.100 | 63.500 |
2025 | 490.600 | 369.800 | 57.000 | 63.700 |
2026 | 498.000 | 376.100 | 57.900 | 64.000 |
2027 | 506.600 | 383.300 | 58.500 | 64.700 |
2028 | 509.500 | 385.300 | 59.000 | 65.200 |
2029 | 511.100 | 386.300 | 59.400 | 65.500 |
2030 | 510.300 | 385.300 | 59.500 | 65.500 |
Quelle: KMK-Prognose Stand 2019 Fußnoten: 1 Baden-Württemberg, Bayern, Hessen, Niedersachsen, Nordrhein-Westfalen, Rheinland-Pfalz, Saarland, Schleswig-Holstein 2 Brandenburg, Mecklenburg-Vorpommern, Sachsen, Sachsen-Anhalt, Thüringen 3 Berlin, Bremen, Hamburg |
Immer voll daneben
Hat da einer die Zeit verschlafen? Keine Frage, in der Zwischenzeit ist viel passiert. Das ging damit los, dass die Politik als Reaktion auf den PISA-Schock von 2000 den Hochschulausbau zur nationalen Aufgabe erklärt hatte, die Wirkungen aber erst mit mehrjähriger Verspätung voll zum Tragen kamen. 2005 war auch nicht absehbar, dass mit dem ab 2012 fast deutschlandweit eingeführten Gymnasium in acht statt zuvor neun Jahren „doppelte Abiturjahrgänge“ auf die Unis zurollen werden. Genauso überraschend wurde 2011 dann auch noch die Wehrpflicht ausgesetzt, was eine große Schar an „Frühstartern“ an die Hochschulen beförderte. Das alles war 2005 nicht abzusehen, hätte aber schon 2012 und ganz sicher in den KMK-Prognosen von 2014 eingepreist sein müssen.
Aber was passierte? Die Voraussagen wurden zwar erheblich nach oben angepasst, hielten aber trotzdem zu keinem Zeitpunkt mit der Wirklichkeit mit. Vergleicht man etwa die 2014er- mit der 2012er-Prognose, dann klaffte allein für die Jahre 2016 bis 2020 eine Lücke von knapp 175.000 Studienneulingen, für die Jahre 2013 bis 2025 insgesamt sogar von fast 469.000. Aber auch damit traf man längst nicht ins Schwarze. Nimmt man die neuste 2019er-Prognose, dann ergeben sich für 2016 bis 2020 weitere rund 60.000 mehr Erststudierende, als man 2014 für möglich gehalten hatte. Und für die Spanne von 2013 bis 2025 summieren sich die Abweichungen gegenüber der Ansage von vor fünf Jahren auf deutlich über 200.000.
Mehr Studenten, weniger Geld
Wie sich Statistiker derart irren können, ist eine Frage. Eine andere ist die, was daraus folgt. Tatsächlich sind die Prognosen von entscheidender Bedeutung bei der Bemessung dessen, was die Hochschulen von der Politik an Geld zugeteilt bekommen. Das betrifft neben den Grundmitteln auch und vor allem die Zuwendungen aus den bis dato drei Hochschulpakten, die ab 2007 ja gerade mit dem Ziel aufgelegt wurden, dem Hochschulrun zu begegnen. Studis Online hat wiederholt aufgezeigt, dass die Zuschüsse pro Kopf schon nach den geltenden Statuten deutlich unter dem Niveau für „Normalstudienplätze“ liegen und das Programm so zu einem schleichenden Substanzverlust von Studium und Lehre beigetragen hat.
Wenn sich die Studierendenzahlen in all der Zeit dazu noch deutlich über den Prognosen bewegt haben, dann muss das die Aufwendungen pro Studienplatz weiter verknappt haben. Statt der eigentlich eingeplanten 26.000 Euro in vier Jahren dürften die faktischen Ausgaben noch einmal darunter gelegen haben. Vor allem in den letzten fünf Jahren müsste eine gewaltige Minderausstattung aufgelaufen sein, weil seither mit der längst überholten 2014er-Prognose operiert wurde. Lange war es üblich, die Daten im Rhythmus von zwei Jahren zu aktualisieren. Wieso hat man das schleifen lassen und dies ausgerechnet in einer Zeit, in der mit der sogenannten Flüchtlingskrise eine Vielzahl an neuen „Unbekannten“ die alte Rechnung obsolet gemacht haben?
Neuer Hochschulpakt
Erst Anfang Mai hatten sich Bund und Länder auf eine Anschlussförderung für den 2021 auslaufenden Hochschulpakt III geeinigt. Der finanzielle Umfang des nun auf Dauer gestellten Programms wird sich bis zunächst 2027 unter Berücksichtigung der Lohn- und Preissteigerung auf nahezu unverändertem Level bewegen. Bei absehbar unverändert hohen Studienanfängerzahlen um den Dreh von einer halben Million wird sich der Trend zu immer mehr „Billigstudienplätzen“ deshalb weiter verstetigen.
Dass die KMK mit ihrer aktuellen Prognose erst drei Wochen nach dem Hochschulpakt-Beschluss herausgerückt ist, wirft deshalb auch weitere Fragen auf. Wurden die neuen Daten schon veranschlagt, als es darum ging, was Bund und Länder alles an Geld locker machen? Wenn ja, warum wurde dann nicht kräftiger nachgelegt, schließlich sind in der Vergangenheit ja allein wegen falscher Schätzungen zehntausende Studienplätze unter offiziellem Wert eingerichtet worden. Und falls die Politik noch mit älteren Zahlen operiert hatte: Wird sich die Entwertung von Studium und Lehre damit nicht zwangsläufig zuspitzen? Außerdem ist ja längst nicht gesagt und nach dem Gesetz der Serie sogar ziemlich ungewiss, dass die KMK diesmal richtig liegt. Strömen in den kommenden zehn Jahren abermals mehr junge Menschen an die Hochschulen, als man derzeit glaubt, dann bleibt für jeden noch weniger als wenig hängen und wird es im Hörsaal noch enger als eng.
Im Schnitt 500.000 Erstsemester
So oder so gilt: Eine Ende des Gedränges an den Hochschulen bleibt außer Sichtweite. Nach KMK-Vorausberechnung werden im Jahr 2030 mit 510.300 praktisch exakt so viele Erstsemester auf der Matte stehen wie 2018. Im laufenden Jahr rechnen die Planer mit 514.000, womit sogar die beiden Rekordjahre 2013 und 2017 mit jeweils über 513.000 übertroffen werden könnten. Danach sollen mehrere Jahre mit Werten in der Bandbreite zwischen 500.000 und 505.000 folgen, bis dann Mitte des Jahrzehnts ein kleiner Bruch mit Anfängerzahlen von 490.000 (2025) und 498.000 (2026) anstehen würde. Begründet wird dies insbesondere mit dem Abschied vom Turboabitur (G8). Flächendeckend zum Abitur in 13. Schuljahren sind in den vergangenen Jahren bereits Bayern und Niedersachsen zurückgekehrt, die Umstellung in Schleswig-Holstein und Nordrhein-Westfalen ist nach den Sommerferien abgeschlossen.
Ab 2027 sollen die Zahlen dann wieder anziehen und 2029 sowie 2030 über die 510.000 hinausgehen. Erklärt wird dies mit der anhaltend hohen Studierneigung junger Menschen und damit, dass immer mehr Grundschüler den Weg an die Gymnasien bzw. an Sekundarschulen finden werden, die im Abitur münden. Dazu machten sich weitere Faktoren bemerkbar: So steige die Zahl der Studienanfänger, die ihre Hochschulzulassungsberechtigung im Ausland erworben haben. Betraf dies 2012 noch 84.400 Menschen, waren es 2017 schon 111.100. Daneben wachse die Gruppe derer, die über den zweiten oder dritten Bildungsweg an eine Universität oder Fachhochschule gelangen. 2012 waren dies 13.000 Personen, 2017 schon 14.600.
Scheinstudienplätze
Studierende und solche, die es werden wollen, müssen sich deshalb kurz- und mittelfristig auf noch vollere Hochschulen einstellen. Solange die Zahl der Neuankömmlinge die der Absolventen übersteigt – wie dies seit Jahren der Fall ist –, werden auch die Gesamtstudierendenzahlen weiter in die Decke gehen. Derzeit sind bundesweit über 2,86 Millionen Menschen immatrikuliert. Wer weiß? Womöglich wird schon in wenigen Jahren die Drei-Millionen-Marke geknackt.
Kein Halten mehr nach unten gibt es dagegen wohl in puncto Finanzen. Wenige Tage nach der Einigung zur Fortsetzung des Hochschulpakts hatte sich der Bundesrechnungshof zu dem Instrument geäußert. Nicht überall seien die Bundesmittel wohl tatsächlich für zusätzliche Studienplätze genutzt worden, verlautete in einem Bericht der Finanzprüfer an den Haushaltsausschuss des Bundestages. „Die Verschlechterung der Betreuungsrelation deutet darauf hin, dass die Hochschulen zusätzliche Studienberechtigte aufgenommen haben, ohne ihre Kapazitäten auszuweiten.“ Mehr Studienplätze sind vielerorts also nur auf dem Papier entstanden. Das Urteil zum Programm fällt vernichtend aus: „Wichtige Ziele hat es verfehlt: Durch die Verschlechterung der Betreuungsquoten ist fraglich, ob ein qualitativ hochwertiges Studium gewährleistet werden kann.“ (rw)