„Was wir machen, wirkt!“Zehn Jahre ArbeiterKind.de
Solange „Bildung für Alle“ keine Selbstverständlichkeit ist, braucht es auch Initiativen wie ArbeiterKind.de – letztere gibt es nun bereits 10 Jahre.
Studis Online: Die 2008 von Ihnen ins Leben gerufene Organisation ArbeiterKind.de begeht in diesem Jahr ihr zehnjähriges Gründungsjubiläum. In dieser Zeit haben Sie einiges auf die Beine gestellt: Für das Projekt engagieren sich inzwischen 6.000 Ehrenamtliche in bundesweit 75 lokalen Gruppen. Dazu haben Sie viel mediale Aufmerksamkeit erregt, sind etliche Male ausgezeichnet worden, etwa namens der Bundeskanzlerin oder des Bundespräsidenten. Was freut Sie bei all dem am meisten?
Katja Urbatsch: Zunächst einmal, dass es uns überhaupt noch gibt. Das alles fing ja ganz klein an, mit einer Webseite und dem Wunsch, ein bisschen was zu bewegen. Ich habe damals nicht im Traum daran gedacht, dass das Ganze so eine Dynamik bekommen und eine solche Entwicklung nehmen könnte. Daran zeigt sich aber auch, dass der Bedarf weiterhin immens groß ist. Uns erreichen nach wie vor extrem viele Anfragen von Leuten, die Unterstützung brauchen und wissen wollen, wie sie das mit der Aufnahme eines Studiums und der Finanzierung geregelt kriegen sollen. Das ist, wenn man so will, die Kehrseite unseres Erfolgs: Die Verhältnisse sind längst nicht so, dass es unsere Arbeit nicht mehr bräuchte.
Lässt sich beziffern, wie vielen Menschen ArbeiterKind.de in diesen zehn Jahren geholfen hat, ein Studium aufzunehmen und erfolgreich abzuschließen? Wir können beziffern, wie viele Menschen wir erreicht haben, nämlich rund 400.000. In erster Linie haben wir das mit unseren Schulbesuchen geschafft, aber auch mit Kontakten auf Bildungsmessen und vielen anderen Veranstaltungen.
Aber Sie können nicht sagen, wie viele Kinder aus finanzschwachen Familien durch Ihr Zutun den Sprung an eine Hochschule geschafft haben?
Nein. Mein und unser Anliegen war es immer, in die Breite zu wirken und möglichst viele Menschen zu erreichen. Dabei müssen wir auch in Kauf nehmen, nicht zu wissen, wie viele Menschen konkret durch uns profitieren. Aber es gibt sehr wohl Studien, die belegen, dass das, was wir tun, sinnvoll ist. Das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung und das Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung haben in einer Langzeituntersuchung von 2016 unsere Schulinformationsveranstaltungen unter die Lupe genommen. Dabei erzählen Menschen, die mithilfe von ArbeiterKind.de den Gang an eine Hochschule geschafft haben, ihre persönliche Geschichte und ermutigen dazu, diesen Schritt auch zu wagen.
Das Ergebnis: Durch das Angebot werden Kinder von Nicht-Akademikerfamilien signifikant darin bestärkt, ein Studium anzustreben bzw. ihre schon bestehende Studienabsicht in die Tat umzusetzen. Bei den Schülerinnen und Schülern aus finanziell besser gestellten Haushalten haben dagegen andere Faktoren stärkeren Einfluss auf die Zukunftsplanung, vor allem der Rat der Eltern. Das deckt sich auch mit vielen Rückmeldungen, die wir bekommen. Oft höre ich von Betroffenen, dass allein der Besuch unserer Homepage etwas bei ihnen ausgelöst hat. Dasselbe gilt auch für diejenigen, die sich über unser Infotelefon haben beraten lassen. Was wir machen, wirkt, und wäre es nicht so, würden wir es auch lassen.
Denken Sie, dass sich dank ArbeiterKind.de das öffentliche Bewusstsein für die besondere Situation von Menschen aus finanzschwachen Familien verändert hat?
Davon bin ich überzeugt. Vor zehn Jahren hat sich praktisch niemand für das Thema interessiert. Der Begriff „Studierende der ersten Generation“ – diejenigen also, die als erste in der Familie überhaupt auf eine Hochschule gehen – war damals noch ein Fremdwort. Und von den Herausforderungen, mit denen die Betroffenen zu kämpfen haben, war bis dahin in der Öffentlichkeit auch nie die Rede. Wir haben maßgeblich dazu beigetragen, dass das Problem auf die Agenda gesetzt wurde und eine Diskussion in Gang gekommen ist. Heute sind wir deutlich weiter: Die Hochschulen haben spezielle Förder- und Stipendienprogramme aufgelegt, machen Beratungsangebote und wir selbst kooperieren eng mit den Begabtenförderwerken. Es hat sich fraglos eine Menge bewegt, aber leider noch nicht genug.
Unsere Interviewpartnerin Katja Urbatsch ist Gründerin und Geschäftsführerin von ArbeiterKind.de. Die gemeinnützige Organisation ermutigt Kinder mit sogenannter nicht-akademischer Herkunft, als erste in ihrer Familie zu studieren und unterstützt sie auf ihrem Weg vom Studieneinstieg bis zum Hochschulabschluss. Die Initiative, für die sich 6.000 Ehrenamtliche in bundesweit 75 lokalen Gruppen engagieren, feiert in diesem Jahr ihr zehnjähriges Bestehen.
Hat sich Ihre Zielgruppe in den zehn Jahren womöglich auch verändert? Die Spaltung der Gesellschaft in Arm und Reich hat sich vertieft, der Kreis der dauerhaft Abgehängten hat sich vergrößert, die Zahl sozialer Brennpunkte und sogenannter Brennpunktschulen ist gewachsen …
Das alles sind Probleme, die es schon vor zehn Jahren gab. Aber klar: Je ungünstiger die sozialen Verhältnisse sind, in denen Kinder aufwachsen, desto schlechter stehen die Chancen, dass bei den Betroffenen überhaupt die Idee aufkommt, studieren zu gehen. Für uns heißt das dann, noch größere Hürden in den Köpfen überwinden zu helfen, was aber ein besonderer Ansporn ist.
Ein „Arbeiterkind“ muss also nicht zwingend ein Kind aus einer Arbeiterfamilie sein …
Das Wort „Arbeiterkind“ ist ja sozusagen eine Metapher und bedeutet nicht, dass wir nur denen weiterhelfen würden, deren Eltern klassische Arbeiter sind. Wir wenden uns an alle Kinder aus finanzschwachen Verhältnissen, ganz egal, ob die Eltern einen Job haben, erwerbslos sind, von Hartz-IV oder Sozialhilfe leben. Genau deshalb gehen wir ja ganz gezielt an die Haupt- und Realschulen, um den Kindern ein Vorbild zu sein und zu sagen: „Seht her, ich war in der gleichen oder ähnlichen Situation wie ihr, ich weiß, wie sich das anfühlt, zu glauben, keine Chance und Perspektive zu haben. Aber ich habe meine Zweifel besiegt und geschafft, was ihr auch schaffen könnt, wenn ihr nur wollt.“
Haben Sie nicht trotzdem das Gefühl, doch bloß in „Einzelfällen“ etwas bewirken zu können? Oder anders: Fühlen Sie sich von der Politik nicht alleingelassen? Schließlich haben sich die politischen und gesellschaftlichen Rahmenbedingungen für mehr Bildungsgerechtigkeit im zurückliegenden Jahrzehnt nicht entscheidend verbessert.
Bei unserer Reichweite, die sich über die ganze Republik, erstreckt, würde ich nicht von „Einzelfällen“ sprechen. Zudem haben wir uns einen gewissen Respekt erarbeitet, was sich etwa daran zeigt, dass man uns regelmäßig als Experten zu unterschiedlichsten Veranstaltungen einlädt. Aber natürlich sehe ich auch Handlungsgrenzen, über die wir nicht hinauskommen und die sich unserem direkten Einfluss entziehen. Aber wir sprechen wir die Probleme an, wo und wann wir dies können, und versuchen, Debatten anzustoßen oder uns in Debatten einzubringen. Denn gerade in der Frage der Studienfinanzierung bestehen noch erhebliche Lücken im System.
Im Mai wurde der sogenannte Bildungstrichter veröffentlicht, der abbildet, wie es um die Aufstiegschancen von Kindern aus sozial benachteiligten Familien steht. Demnach nehmen von 100 Kindern aus Akademikerhaushalten 79 ein Studium auf. Von 100 Kindern nicht-akademischer Herkunft sind es nur 27. Verglichen mit den Zahlen von vor zehn Jahren hat sich die Lage nur leicht verbessert. Wie sehen Sie das?
Damals schafften nur 23 Kinder von Nicht-Akademikern den Sprung an die Hochschulen und absolut ist ihre Zahl bei heute fast drei Millionen Studierenden auch in die Höhe gegangen. Es hat sich also schon etwas getan, aber richtig ist auch: Das reicht nicht! Es gibt noch einige Hebel, an denen die Politik ansetzen muss, damit sich der leichte Aufwärtstrend weiter und schneller verstärkt.
Woran denken Sie dabei?
Fangen wir mit dem Grundproblem an: Das ganze System ist darauf ausgerichtet, dass hinter den Studierenden immer jemand steht, der sie ideell und finanziell unterstützt. Es gibt aber viele Fälle, wo von Hause aus jede Unterstützung fehlt …
Aber eigentlich soll doch das BAföG bei diesen Härtefällen greifen und zwar so, dass man mit dem Vollzuschuss über die Runden kommt?
Das mag ja irgendwann in grauer Vorzeit mal hingehauen haben. Ich selbst kenne niemanden, der mit der Vollförderung ohne Zusatzjob oder andere Geldquellen seinen Lebensunterhalt bestreiten kann. Stattdessen setzt die Politik stillschweigend voraus, dass die Leute sich schon irgendwie durchwursteln und über Wasser halten.
Was bislang völlig außer Acht gelassen wurde, sind die Kosten, die fällig werden, noch ehe man einen Fuß in die Uni gesetzt hat. Damit meine ich zuerst den Semesterbeitrag, der die Finanzierung des Semestertickets, der Studentenschaft und der Verwaltung umfasst. Das sind auf einen Schlag bis zu 400 Euro und das jedes Halbjahr. Dafür hat man in Vorleistung zu gehen, obwohl man noch wochen-, vielleicht monatelang auf seine erste BAföG-Überweisung warten muss. Dazu muss man eine Wohnung suchen, den Umzug, die erste Miete, eine Kaution zahlen. Wo sollen Kinder aus ärmeren Familien das viele Geld hernehmen? Von der Bank? Für einen Kredit braucht man allerdings eine Bürgschaft. Und wer einen Bürgen hat, braucht im Normalfall keinen Kredit. Hier klafft eine riesige Lücke im System.
Passend dazu hat in der Vorwoche das Statistische Bundesamt einen weiteren Einbruch bei der Zahl der BAföG-Empfänger vermeldet. 2017 bezogen fünf Prozent weniger die Leistung als im Jahr davor. Groß ist der Schwund ausgerechnet bei Schülern und Studierenden finanzschwacher Herkunft.
Das ist natürlich eine schlimme Entwicklung, weil damit erzielte Fortschritte wieder zunichte gemacht werden. Wir beobachten auch, dass die erste BAföG-Auszahlung immer später erfolgt, manchmal erst im Januar oder Februar. Das hängt auch damit zusammen, dass es immer mehr komplizierte Familienverhältnisse gibt, etwa Patchworkfamilien. Das erschwert die BAföG-Beantragung und verzögert die Bewilligung. Was mich außerdem erstaunt: Es wird davon ausgegangen, dass Menschen aus prekären Verhältnissen ein Studium aufnehmen und BAföG beantragen, ohne zu wissen, wieviel Geld sie am Ende erhalten. Wo bleibt da die Planungssicherheit? Es nimmt doch keiner einen Job an, von dem nicht klar ist, was man damit verdient. Überhaupt besteht bei der Frage der Transparenz und der Verlässlichkeit riesiger Handlungsbedarf. Für die Menschen muss frühestmöglich klar sein, wieviel Geld sie bekommen und dass das Geld schnell und lückenlos kommt.
Was fordern Sie konkret von der amtierenden Bundesregierung? Die SPD sagt ja von sich, sie wäre „die BAföG-Partei“ …
Bei der Studienfinanzierung gehören neben der Frage der BAföG-Erhöhung andere Aspekte in den Fokus. Insbesondere ist das System einseitig auf die Lebenslage der Mittelschicht zugeschnitten, auf Menschen also, die immer noch irgendwo Geld auftreiben können, wenn es mal eng wird. Damit werden große Teile der Bevölkerung von vornherein benachteiligt und viele von der Aufnahme eines Studiums abgeschreckt. Dann braucht es dringend neue Modalitäten zur Begleichung der Semestergebühren, sei es durch Stundung, Ratenzahlung, die Bewilligung von Darlehen oder die Reduzierung bis hin zum völligen Erlass für Menschen in besonderen Notlagen. Und natürlich muss der Semsterbetrag eigens berücksichtigt werden bei der Bemessung der Leistungen, so wie es ja auch eine gesonderte Wohnpauschale gibt – die allerdings viel zu knapp bemessen ist. Wie soll zum Beispiel jemand, der aus einer Hartz-IV-Familie kommt, mal eben vorab bis zu 400 Euro hinblättern, wenn er nur 100 Euro zusätzlich verdienen darf und die Familie gar nicht mehr haben darf? Auch darüber hat offenbar noch niemand in der Politik nachgedacht.
Sie bislang auch nicht?
Ich muss zugeben, dass auch ich diese Schwachstelle lange übersehen habe. Bei uns häufen sich aber in letzter Zeit entsprechende Anfragen. Und auf Facebook hat gerade ein Nutzer geschrieben, dass das Problem schon vor 20 Jahren bestand und er sich wundere, dass da noch nichts passiert ist. Allerdings ging das damals mit 75 Euro los, um dann immer mehr zu werden. Immerhin bieten einige Hochschulen und Studierendenwerke erste Lösungsansätze, zum Beispiel durch eigene Darlehen. Was es braucht, ist aber eine Gesamtlösung.
Ihr Projekt wurde schon etliche Male ausgezeichnet, auch unter Schirmherrschaft der Bundeskanzlerin und des Bundespräsidenten. Stört es Sie nicht, wenn sich Leute in Ihrem Ruhm sonnen, die das gar nicht verdient haben. Hat nicht Angela Merkels CDU maßgeblich beim Zerfall des BAföG mitgewirkt? Und was hat die SPD dazu beigetragen, dass sich die sozialen und gesellschaftlichen Rahmenbedingungen für ihre Klientel verbessern?
Ich begreife diese Ehrungen in erster Linie als Anerkennung für unser Projekt und dafür, was die vielen Ehrenamtlichen tagtäglich leisten. Das Ganze ist auch immer mit einem riesigen Rückenwind verbunden, der uns und dem Anliegen unserer Zielgruppe weiterhilft. Ich bin mir auch sicher, dass diejenigen, die uns für so eine Auszeichnung vorschlagen und das vorantreiben, voll hinter unserer Sache stehen. (rw)