Karlsruher Numerus-Clausus-UrteilDas Warten hat ein „Ende“
Das „NC-Urteil“ wird Änderungen im Vergabeverfahren bringen, die aber für manche sogar Verschlechterungen bedeuten können.
Studis Online: Hand aufs Herz: Ist das am Dienstag durch das Bundesverfassungsgericht gefällte Urteil zum Vergabeverfahren von Studienplätzen für Sie und Ihre Mandanten nicht ein herbe Niederlage?
Wilhelm Achelpöhler: Das Urteil enthält tatsächlich Licht und Schatten. Gut ist zunächst, dass das Bundesverfassungsgericht an seine in den 1970er Jahren begründete Rechtsprechung anknüpft. Alle Stimmen, die diese „Magna Charta des Rechts auf Bildung“ für einen Artikel aus der Mottenkiste der sozialliberalen Reformpolitik hielten und eine Abkehr von dieser Rechtsprechung erwarteten, haben durch den Entscheid einen Dämpfer erhalten. Gut ist sicherlich auch, dass die Ortspräferenz bei der Auswahl der Studienorte nicht mehr die Bedeutung hat wie früher. Die Bewerber durften ja nur sechs Hochschulen auswählen. Wenn sie bei ihrer zuerst genannten Uni nicht zum Zuge kamen, dann konnten sie selbst mit einer blendenden Abiturnote bei der an zweiter Stelle genannten Uni das Nachsehen haben, weil dort bereits alle Plätze an Bewerber vergeben wurden, die die Uni auf Rang eins genannt hatten. So konnte man sogar mit einer 1,0 leer ausgehen. Da war die Auswahl der Universitäten schon so etwas wie der Blick in eine Kristallkugel. Gut ist auch, dass die Unis bei ihrer Auswahlentscheidung verpflichtet sind, neben dem Abitur andere Kriterien zu berücksichtigen. Das kann die Bedeutung der Abiturnote schon relativieren.
Jetzt aber zu dem, was schlecht ist an dem Urteil …
Bitter ist für viele Bewerber sicher die Kappung der Wartezeitzulassung. Künftig darf nur eine Wartezeit von weniger als vier Jahren berücksichtigt werden. Diese Wartezeit haben aber weitaus mehr Studierende als es Studienplätze nach der vom Verfassungsgericht auf 20 Prozent begrenzten Wartezeitquote gibt. Also muss unter den Wartenden eine Auswahl getroffen werden: nach Abinote, Ausbildung während der Wartezeit und vielleicht auch Testverfahren. Aber Auswahl heißt eben auch: Nicht jeder bekommt einen Platz. Wer wird angesichts dieser Aussichten künftig noch warten und zum Beispiel eine Ausbildung in einem medizinnahen Beruf machen? Wohl nur der, der in den anderen Quoten nur knapp gescheitert ist …
… und dann entsprechend weniger lang auf einen Platz warten muss.
Richtig. So sieht es ja auch das Bundesverfassungsgericht, wenn es darauf hinweist, dass über die Wartezeitzulassung „insbesondere Personen in den Grenzbereichen der anderen Quoten, die ebenfalls gut für Studium und Beruf geeignet sind, eine Zulassungschance“ haben. Für alle anderen bleibt in Zukunft nur die Studienplatzklage oder das noch teurere Auslandsstudium. Besonders bitter kann es für diejenigen sein, die sich schon drei Jahre in einer Ausbildung zum Krankenpfleger herumschlagen und davon ausgingen, dass sie in vier Jahren mit einem Studienplatz zum Zuge kommen. Ob es da ab 2020 Übergangsregelungen für solche „Altwarter“ geben wird, muss sich zeigen.
Ihnen ging es ja eigentlich darum, mehr Gerechtigkeit beim Zugang zum Medizinstudium zu erstreiten. Wird es künftig nicht noch ungerechter zugehen?
Unser Interviewpartner Wilhelm Achelpöhler ist Fachanwalt für Verwaltungsrecht und Spezialist für Hochschulrecht. Während seines Studiums war er Studentenvertreter im Allgemeinen Studierendenausschuss (AStA), nach seinem Studium und Referendariat Wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Uni Münster. Er ist Partner der Sozietät Meisterernst Düsing Manstettenin Münster, die seit den 1970er Jahren mehrere Tausend Studierende „eingeklagt“ hat.
Die eigentliche Ungerechtigkeit liegt darin, dass ein Großteil der Bewerber leer ausgeht. Es geht beim Numerus Clausus ja nicht um die Feststellung, wer für das Medizinstudium geeignet ist. Mit dem Abitur sind alle prinzipiell für das Medizinstudium geeignet und damit auch für den späteren Beruf als Arzt. Trotzdem kommen die meisten nicht an einen Studienplatz. Solange es zu wenige Studienplätze gibt, ist das unvermeidbar. Deshalb muss es wenigstens bei der Mangelverwaltung gerechter zugehen. Dazu trägt das Urteil bei. Früher betonte das Bundesverfassungsgericht aber deutlicher als jetzt, im Auswahlverfahren müsse es eine „Chance für jeden Zulassungsberechtigten“ geben. Aber schon damals hieß es auch, „bei der Vergabe verknappter unteilbarer Güter“ könne „jedes Auswahlsystem nur einem Teil der Bewerber reale Aussichten eröffnen“. Doch das Hauptproblem, der Mangel an Studienplätzen, wird nicht angepackt. Immerhin ist die Zahl der Studienplätze seit 1990 um über 2.000 Plätze gesunken – etwa die Zahl, die durch die DDR dazu gekommen ist.
Aber was passiert mit den Bewerbern nach vielleicht dann vier Jahren Wartezeit? Sind die dann einfach weg vom Fenster?
Das bleibt abzuwarten. Vermutlich wird die Wartezeit beschränkt, die berücksichtigt wird. Also: Ob ich sieben oder 14 Semester gewartet habe, das macht künftig keinen Unterschied mehr. Das bedeutet dann, dass es deutlich mehr Bewerber mit der Maximalwartezeit geben wird und Leute, die schon länger gewartet haben, nicht mehr bevorzugt behandelt werden. Unter allen muss dann eine Auswahl getroffen werden und diese dürfte sich einmal mehr vor allem an der Note festmachen.
Dass man sich vier Jahre nach dem Abitur gar nicht mehr um einen Studienplatz bewerben darf, kann man dem Urteil nicht entnehmen. Das Gericht betont ja gerade, dass auch „Gelegenheitsbewerber“, die sich nicht dauernd beworben haben, am Verfahren beteiligt werden können.
Die Richter begründen die Beschränkung der Wartesemester damit, dass mit längerem Warten die Tendenz zum Studienabbruch zunimmt. Was halten Sie von dem Argument?
Die Abbruchquoten sind tatsächlich höher. Schaut man sich das aber genauer an, dann stellt man fest, dass diejenigen, die tatsächlich gewartet haben und Ausbildungen in medizinnahen Berufen gemacht haben, hochmotiviert ins Studium gehen und genauso erfolgreich sind wie andere, die über die Abinote reingekommen sind. Die Statistik wird da eher durch diejenigen Wartezeitbewerber „verdorben“, die sich zum Beispiel anlässlich ihres 30. Geburtstags überlegen, von der Bankfiliale in den OP-Saal zu wechseln. Deshalb gibt es für die Annahme des Bundesverfassungsgerichts, Wartezeitbewerber seien generell ungeeigneter, eigentlich keine Grundlage.
Sie sprachen es an. In einem haben die Richter an der alten Rechtsprechung festgehalten: Das viel zu knappe Studienplatzangebot gehe sie nichts an …
Stimmt, die eigentliche Ungerechtigkeit beim Numerus Clausus liegt im Mangel an Studienplätzen selbst: Die einen können ihren Berufswunsch verwirklichen, die anderen nicht. Daran ändert sich nichts und das Verfassungsgericht hat auch nicht zu erkennen gegeben, dass es der Politik da Beine machen will. Darin liegt eine Akzentverschiebung gegenüber der früheren Rechtsprechung. Vor 40 Jahren im „Numerus-Clausus-II“-Urteil hieß es noch, der NC dürfe nur eine „situationsbedingte Notmaßnahme zur ‚Verwaltung eines Mangels‘“ sein, die Politik dürfe sich nicht „mit Lösungen abfinden, die diese Mängelverwaltung lediglich erleichtern und die Ungleichbehandlung verdecken oder gar stabilisieren, statt für deren Abbau im Rahmen des jeweils Möglichen oder wenigstens für deren Milderung durch angemessene Ausbildungsalternativen zu sorgen“. Davon liest man in der neuen Entscheidung nichts mehr. Dabei wäre es mit wenigen Maßnahmen möglich, zusätzliche Studienplätze zu schaffen, wie sie zwei durchschnittliche medizinische Fakultäten bieten.
Wie wäre das machbar?
Dazu müsste man nur die Lehrverpflichtung und das Verhältnis von befristeten zu unbefristeten Stellen bundesweit so gestalten wie heute in Bayern und Baden-Württemberg. Dann hätten wir über 400 zusätzliche Plätze, ohne dass das etwas kostet. In einem Gutachten für den studentischen Dachverband fzs habe ich das auf der Grundlage der Kapazitätsberechnungen der Universitäten genau vorgerechnet.
Sind vor dem Hintergrund, dass Karlsruhe nicht mehr Studienplätze einfordert, die angemahnten Verbesserungen beim Auswahlverfahren – ein Stück weit weg von der Fixierung auf die Abiturnote – nicht eigentlich nur Makulatur?
Das kommt sicher auf die Perspektive an: Für Bewerber um einen Platz mit einer recht guten Note, also 1,4 und aufwärts, verbessern sich die Bedingungen, sie werden durchschaubarer. Wie kompliziert das alles war, zeigt sich ja schon darin, dass es Firmen gibt, die da ihre Dienste anbieten: Wie bewerbe ich mich so, dass ich eine möglichst gute Chance habe. Die Anforderungen des Bundesverfassungsgerichts gelten im Übrigen für alle NC-Verfahren. Die Universitäten dürfen sich nicht selbst ausdenken, wie sie die Auswahlentscheidung unter den Bewerbern treffen. Der Gesetzgeber muss schon festlegen, welche Maßstäbe gelten. Das ist sicher auch eine Verbesserung.
Wie werden Sie mit dem Urteil umgehen?
Ich werde das Urteil dafür nutzen, dass die Verwaltungsgerichte auch die Vergabeverfahren in anderen Fächern genauer unter die Lupe nehmen, zum Beispiel bei der Zulassung zu einem Master-Studiengang. Da wird sich die Entscheidung als sehr hilfreich erweisen und vielen Bewerbern zum erwünschten Studienplatz verhelfen. Außerdem muss ich mich ja jetzt vermehrt um die Studienbewerber kümmern, die über die Wartezeit keine Chance mehr haben. (rw)